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Dreizehntes Kapitel

Wenn es etwas gab, das sich klar abhob vor allem anderen, dann war es das Gefühl in ihnen beiden, wie wundervoll, wie einzigartig der Augenblick war, den sie erlebten. Sie wußten, es war ein Augenblick, wie man ihn nur einmal erlebt; er war ihr ausschließliches, ihr gemeinsames Eigentum. Die durchschnittlichen Männer, die zweifelhaften Frauen, die rings um sie herum beschäftigt waren sich zu sättigen, verschwanden in einem leuchtenden Nebel. Solange dieser Augenblick währte, war das Bewußtsein der Wirklichkeit ihnen verlorengegangen. Sie lebten in einem Märchenreich. In seinen Augen glänzte ein fremdes Licht. Er wandelte in einem Reich jenseits der Welt – und sie war an seiner Seite.

Seine Finger hielten ihre nur eine Sekunde lang. Dann gab er ihre Hand frei. Keiner von ihnen sprach ein Wort, bis der Kellner mit den Schüsseln erschien. Es gibt eine Sphäre, eine Ätherregion, die der Geist erreichen kann, aber die dem Wort nicht mehr zugänglich ist.

Jane war es, die zuerst wieder ein wenig Fassung gewann. Fassung, aber noch immer nicht das Gefühl der alltäglichen Wirklichkeit, trieb sie dazu, zu sagen:

»Ich glaube, wir sollten versuchen, wie gewöhnliche Sterbliche unser Essen zu uns zu nehmen.«

Erst als es ausgesprochen war, bemerkte sie, was es bedeutete. Sie hatte ihn erkennen lassen, daß sie dem Zauber dieses Augenblicks erlegen war. Sie hatte zugegeben, daß sie mit ihm zusammen in jenem anderen Reich gewesen war. Erschrocken fuhr sie fort: »Diese Verschwörermanieren, die wir uns leisten, sind unmöglich; wir sind hier keinen Steinwurf weit von Piccadilly entfernt. Wir schlagen allen Anforderungen an Lebenswahrheit, die die Theaterkritik an die Bühne stellt, geradezu ins Gesicht.« Aber es war zu spät.

Er legte ihr vor und bediente sich dann selbst. Ihre Bemerkung hatte ihn geweckt. Seine Augen bekamen einen Ausdruck bewußter Willenskonzentration; er zwang sich, weitere Fragen über Anthony Draper zu stellen. Man merkte ihm an, daß er sich dazu zwang.

Sie erzählte ihm alles, was es noch zu erzählen gab – Dinge, die für einen John Madden vielleicht Wirklichkeit besaßen. Auf sie selbst wirkte es immer wieder wie ein Fiebertraum.

Sie erkundigte sich, wo und wie die geschmuggelten Waffen von Drapers Yacht an Land gebracht werden sollten. Er sagte:

»Ich kenne ein altes, leerstehendes Haus oben auf den Klippen der Küste von Waterford, das auf den Atlantischen Ozean hinausblickt.«

Es war, als beginne er ein Märchen, dem ein Kind mit atemloser Spannung lauscht. Und doch war dieses Märchen Wirklichkeit. Sie sah das Haus auf einmal vor sich, sah Türen und Fenster wie die Züge eines menschlichen Gesichts, wartend, wachend, ausspähend über den unendlichen Ozean, wo Anthony Drapers Yacht erscheinen sollte.

»Es liegt zwischen Ardmore und dem Blackwater-Fluß bei Youghal«, fuhr er fort. »Haus Ardogina. Es gehörte dem alten Joseph MacKenna; er ist irgendwie mit dem früheren englischen Schatzkanzler verwandt gewesen. Es steht zur Zeit leer, ist aber noch möbliert. In diesen unruhigen Zeiten findet sich kein Mieter. Jetzt lebt dort niemand als ein alter Hausbesorger mit seiner Frau. Das Haus ruht auf einem wahren Maulwurfsbau von Kellern, und von den Kellern besteht eine Verbindung mit Höhlen in den Uferklippen, die sich nach der See öffnen und so weit landeinwärts reichen, daß man in Sturmnächten noch zwei Meilen von der Küste das unterirdische Donnern der See hört. Das ist der Platz, wo wir die Gewehre an Land bringen werden. Wenn sie erst einmal in den Höhlen sind, dann ist es eine Kleinigkeit, sie nach dem Haus hinaufzuschaffen und sie im Keller so lange unterzubringen, bis sie allmählich abtransportiert werden können.«

Er hielt inne und starrte sie an. Die Augen eines Mannes, der plötzlich etwas sieht, was ihm bisher entgangen ist.

»Was würden sie bei uns im Hauptquartier sagen,« rief er, »wenn sie hören könnten, was ich hier preisgebe! Ich frage mich manchmal selbst, ob ich noch bei Sinnen bin.« Und da er etwas über ihr Gesicht huschen sah, fügte er hinzu: »Nicht etwa, daß ich mißtrauisch bin. Keinen Augenblick. Ich denke nur daran, wie seltsam es ist. Oder meinen Sie, ich hätte nur ein Wort über meine Lippen gelassen, wenn ich Ihnen nicht blind vertraute?«

Er kehrte wieder zu seiner Erzählung zurück.

»Sean Troy heißt der Hausbesorger. Er ist aus Ardmore. Er verdient sich ein bißchen was mit Fischen – auch mit seinen Hummerkörben –, er ist waschechter irischer Republikaner. Genau der Mann, den wir dort brauchen. Er wartet nur darauf, bis es so weit ist. Hier und da treiben sich englische Kanonenboote in der Gegend herum, setzen ein Boot aus, landen ein paar Mann am Seesteg in Ardmore und sehen sich ein bißchen in der Gegend um. Ich glaube nicht, daß die englische Marine je von Haus Ardogina gehört hat. Es ist beinah drei Meilen von Ardmore entfernt. Eigentlich ist jeder Fleck an der Küste, den sie für brauchbar halten, überwacht, aber es gibt immer noch genug Nächte, in denen man die Hand nicht vor den Augen sehen kann, und wir wissen zu jeder Zeit genau, wo die englischen Kreuzer und Kanonenboote sich herumtreiben. Die nächste Polizeistation ist Youghal. Früher hatten die Engländer auch einen Sergeanten mit ein paar Leuten in Ardmore in einem Haus an der Hauptstraße einquartiert. Jetzt ist ihnen aber dort der Boden zu heiß geworden. Von Ardmore bis Youghal sind es neun Meilen. Die Straße ist einsam. Man muß auf einer Brücke über den Blackwater-Fluß. Wenn man die Fähre benutzt, ist es sehr viel näher, aber die Fähre wird von uns überwacht und die Strömung ist reißend. Wer mit einer Kugel im Leib hineinfällt, der kommt nicht wieder. Es ist eine verflucht einsame Gegend. Nach der anderen Seite hin sind es dreizehn Meilen bis Dungarvan, und zwischen Ardmore und den Galtee-Bergen gibt es nur ein paar verstreut liegende Dörfer. Haus Ardogina ist das einzige Gebäude an der Küste. Man sieht den Turm meilenweit.«

Er sah ihre Augen mit so gespannter Aufmerksamkeit an seinem Gesicht hängen, daß er lächelte.

»Warum sehen Sie mich so an? Es klingt mehr wie der Entwurf zu einem Film, nicht wahr?«

Sie nickte mit dem Kopf. Sie hätte nicht darauf schwören mögen, daß sie wirklich in Odeninos Restaurant saß.

»Es ist wirklich genug!« antwortete er. »Fragen Sie doch irgendeinen Ihrer vielen Freunde, der zufällig die Küste bei Waterford kennt, fragen Sie ihn, ob ihm Haus Ardogina bekannt ist. Er wird Ihnen Auskunft geben können. Es ist schwer, sich hier davon eine Vorstellung zu machen, nicht wahr? Hier, wo das Geschirr klappert und die Gläser klirren und die Leute so unbekümmert und friedlich herumsitzen, wie wenn sie daheim in ihrem Bette lägen. Ihr habt den Krieg erlebt, aber ihr wißt immer noch nicht, was Krieg ist. Niemand weiß hier, wie bei uns in Irland der Krieg aussieht. Man trägt sein Leben in der Tasche mit herum wie sein Taschentuch, und ich kann Ihnen nur sagen, es hängt viel zu weit zur Tasche heraus, eine mächtige Ecke hängt heraus. Das ist jetzt die Mode bei uns. Der erste beste, dem man auf der Straße begegnet, begrüßt einen vielleicht mit einer Kugel. In jedem Hausgang, hinter jedem Fenster lauert ein Verräter. Beinah zwei Jahre habe ich jetzt gelebt wie ein gehetztes Wild. Nach dem Osteraufstand in Dublin haben sie mich eingesperrt. Ich saß mit O'Sullivan und O'Hegarty im Lewes-Gefängnis bis zum Jahre 1917. Seit 1919 habe ich nicht drei Nächte hintereinander an derselben Stelle geschlafen, nicht einmal auf demselben Heidefleck in den Bergen. Aber was bedeutet das alles, wenn wir nur Waffen für unsere Leute bekommen.«

Sie sprachen nichts mehr, bis die Rechnung bezahlt war und sie draußen im Dunkel der Regent-Street standen. Über ihnen färbte sich der Nachthimmel von dem schreienden Glanz der Lichtreklamen in den Nachbarstraßen.

»Nun? Wohin gehen wir jetzt?« fragte er. »Denn wir sind noch nicht zu Ende. Wir können nicht auf dieses Essen am Sonnabend warten.«

»Warum nicht?«

»Ich habe eben darüber nachgedacht. Draper fährt am nächsten Donnerstag nach Amerika.«

»Er hat mir nichts davon erzählt.«

»Das kann sein, aber trotzdem trifft es zu. Sein Platz auf dem Schiff ist schon bestellt, und von Sonnabend bis Donnerstag ist die Zeit zu kurz, viel zu kurz.«

»Zu kurz?« wiederholte sie. »Es sind beinahe sechs Tage. Draper ist weiß Gott nicht der Mann, der sechs Tage braucht, um einen Entschluß zu fassen.«

Aber er blieb hartnäckig dabei, daß die Zeit zu kurz sei. Es mußte etwas anderes dahinter stecken, was er ihr verschwieg, etwas, was nicht in den Tatsachen begründet war, sondern in ihm selbst. Er selbst ging rasch darüber hinweg.

»Sie haben ja heute mit ihm zusammen geluncht. Hat er etwas über seine Pläne für den Abend verlauten lassen?«

»Er wird allein zu Abend essen und dann in ein Theater gehen. Er hat mich eingeladen, mitzukommen.«

»Und wie haben Sie sich dazu gestellt?«

»Ich erzählte ein Märchen von einer Einladung bei irgendeinem Botschafter, eine der liebenswürdigen Lügen, mit denen man sich gegen unerwünschte Einladungen verteidigt.«

»Danach sitzt er jetzt irgendwo im Theater?«

Sie sah nach dem erleuchteten Zifferblatt einer Uhr hinauf und antwortete:

»Wahrscheinlich!«

»Hat er gesagt, in welches Theater er gehen will?«

»Jawohl, ins Haymarket.«

»Könnten Sie ihn dort auftreiben?«

»Ich nehme es an. Ich müßte hingehen.«

»Wollen Sie?«

Sie zögerte. Für einen Augenblick war ihr der Vorschlag unbehaglich. Sie lief Gefahr, sich in Drapers Augen zu schaden. Sie wußte, mit welchen Maßstäben Anthony Draper maß.

»Aber ich habe doch seine Einladung abgelehnt,« sagte sie, »muß es nicht einen sehr seltsamen Eindruck machen, wenn ich mich jetzt anders besinne und im Theater auftauche? Und außerdem ist es nicht meine Art, den Leuten nachzulaufen.«

»Nein, das glaube ich auch. Sie überlassen es lieber den anderen, Ihnen nachzulaufen.«

»Das wollte ich nicht sagen.«

Aber sie hatte es sagen wollen. Angesichts der tragischen Enttäuschung, die sich über sein Gesicht senkte, fühlte sie es jetzt erst selbst. Schon hatte sie ihn im Stich gelassen, hatte sich selbst im Stich gelassen, war ihrem neuen Wesen, ihrer neuen Welt untreu geworden. Ein Schatten saß auf seiner Stirn. Vorhin, bei Tisch, hatten seine Wangen eine wärmere Farbe angenommen. Jetzt war die alte durchsichtige Blässe zurückgekehrt.

Eine neue Zusammenkunft mit Anthony Draper war also nicht zu umgehen. Eine? Wahrscheinlich viel mehr. Das hatten sie allerdings beide gewußt. Aber sie hatten beide nicht in Betracht gezogen, daß es ihr zufallen würde, sich nach Anthony Draper auf die Suche zu machen.

Und hätte John Madden sie verstanden? War die Liebe zu seiner Sache so übermächtig in ihm, daß er für jedes menschliche, allzu menschliche Bedenken taub war? Sie entschloß sich, um seinetwillen ins Theater zu gehen. Sie sprach es aus. Es überraschte, verblüffte sie beinahe, als er antwortete:

»Oder wäre es vielleicht richtiger, wenn Sie ihn telephonisch zu erreichen suchten?«

»Von wo aus denn?«

»Von zu Hause.«

»Und ihn bitte, zu mir hinüberzukommen?«

»Warum nicht?«

Wenn er nicht alles begriffen hatte, so hatte er – sie wußte es jetzt – doch verstanden, daß ihrem Stolz zuviel zugemutet wurde. Eine Welle der Dankbarkeit verwirrte sie, unbewußt hatte sie ihre Hand unter seinen Arm geschoben. Sie spürte den Stoff seines Ärmels unter ihren Fingern. Es erfüllte sie mit einem neuen und überraschenden Gefühl der Intimität. Dort am Tisch hatte er ihre Hand in seiner gehalten, aber es war nicht dasselbe. Es war in einer anderen Welt gewesen. Dies hier geschah in einer Welt, in der sie zu Hause war. Es war ein neues Gefühl, das in ihr aufgestiegen war, ein überraschendes Erlebnis. Sie blickte zu ihm auf. Sie wollte sehen, wie es auf ihn wirkte, und plötzlich zog sie ihre Hand zurück.

»Ich schlage also vor, daß wir zu Fuß nach Hause gehen«, meinte sie. »Ich denke, es ist weitaus richtiger, als ins Theater zu gehen. Das wäre auf keinen Fall gut gewesen. Er hätte sofort das Gefühl einer Schwäche gehabt. Und er ist nicht der Mann, der Schwächen gegenüber duldsam ist, nicht einmal seinen eigenen gegenüber. Ich glaube, selbst wenn er einen Mord begehen würde, so geschähe es nur auf gesunder geschäftlicher Basis.«

Es gelang ihm jetzt schon, ihre Art zu reden, besser zu verstehen. Die Schatten auf seiner Stirn waren verflogen. Er fand sein fröhliches Knabenlachen wieder. Sie gingen die Regent-Street hinauf und bogen in die Vigo-Street, wählten, in einer Art von schweigendem Einverständnis, möglichst ruhige Straßen, als seien diese Augenblicke ihr persönlicher Besitz, als gehörten sie ihnen intensiver in der Stille und Leere von Sackville-Street, als in dem Lärm von Piccadilly.

Auf diesem ganzen Weg schien er so leicht so heiter gestimmt, daß sie niemals fähig gewesen wäre, etwas von dem unwiderruflichen Entschluß zu erraten, der sich langsam in ihm bildete. Selbst ihr rascher Verstand war nicht fähig, die Note der Verzweiflung aus seinem Lachen herauszuhören. Sie fühlte sich plötzlich leichtsinnig und beschwingt. Sie nahm eine Narrenkappe und stülpte sie sich schief auf den Kopf. Er ging auf ihren übermütigen Ton ein. Eine Art sechster Sinn flüsterte ihr zu, daß in diesem Augenblick diese Narrenrolle ihre Pflicht war.

Sobald sich die Haustüre hinter ihnen geschlossen hatte, eilte sie ans Telephon. Während sie sich mit dem Theater verbinden ließ, blieb er neben ihr. Es war unten in der Diele. Sie stand wartend, den Hörer am Ohr. Stumm blickten sie sich an.

»Wer ist da? Haymarket-Theater? Könnten Sie mir Herrn Draper aus dem Zuschauerraum rufen lassen? Ich bin ziemlich sicher, daß Herr Draper eine Karte auf seinen Namen vorausbestellt hat.«

Eine Pause trat ein. Drüben mußte man erst nachsehen. Und immer noch sahen sich die beiden in die Augen. Niemand sprach. Plötzlich belebte sich ihr Blick. Sie hörte auf etwas, was am anderen Ende der Leitung gesagt wurde.

»Hier ist Frau Stephen Carroll. Würden Sie so freundlich sein, gleich nach Aktschluß Herrn Draper mitzuteilen, daß ich ihn dringend sprechen muß?«

Sie gab ihre Telephonnummer an.

»Richten Sie ihm bitte aus, daß ich ihn vielmals um Entschuldigung bitte, wenn ich ihn noch so spät am Abend störe. Er möchte doch, bitte, bei mir anrufen, sobald er sich von Ihrem – sicher wundervollen – Stück losreißen kann.«

Sie schnitt eine übermütige Grimasse, als sie den Hörer wieder auflegte. Dann verschwand plötzlich die unsichtbare Narrenkappe, ihre Stimme war völlig verändert, als sie sagte:

»Wollen Sie hier unten in meinem Zimmer bleiben? Ich muß hinaufgehen, um mich umzuziehen.«

»Umzuziehen?«

»Aber ja! Wenn wir schon Verschwörung spielen, so müssen wir auch dafür sorgen, daß wir überzeugend wirken. Richten Sie sich danach: Ich war gerade im Begriff, auf die französische Botschaft zu fahren, da erschienen Sie plötzlich und haben mich hier festgehalten. Wir haben hier zusammen gegessen. Sie hatten keine Zeit, zu warten. Und merken Sie sich: Sie haben mir erst heute abend von den Gewehren, von Drapers Yacht und all dem anderen erzählt! Es hing alles davon ab, daß Sie mich heute abend sprachen – aber warum hing alles davon ab? Warum hätten Sie nicht geradesogut bis morgen warten können? Es könnte sehr leicht sein, daß er gerade danach fragt. Er ist durchaus nicht der Mann, der sich durch eine rasch erfundene Ausrede täuschen läßt.«

»Nun, sagen wir, ich müsse nach Irland zurück, müsse morgen nach Irland zurück!?«

»Jawohl, natürlich! Das wird ganz gut wirken.«

»Deshalb habe ich nicht warten können«, fuhr er fort. »Deshalb legte ich so großen Wert darauf, heute abend mit ihm zusammenzutreffen.«

Noch ehe er fertig gesprochen hatte, wußte sie, daß es keine Ausrede war, sondern die Wahrheit. Es war keine Improvisation. Er war wirklich im Begriff abzureisen. In weniger als vierundzwanzig Stunden verließ er sie für immer. Sie hatten sich gekannt – zwei Tage lang gekannt. Es war lächerlich, wie kurz die Zeit war. Sie verspürte Lust, zu lachen, aber sie wußte, er hätte dieses Lachen nicht verstanden. Es war alles so sinnlos. Sie fühlte eine Bitterkeit, die sie nicht zu zeigen wagte. Dagegen gab es nur eine Verteidigung: es leicht zu nehmen. Sie tat, als nähme sie ihn nicht ernst.

»Wenn Sie nur nicht solchen Unsinn reden wollten«, sagte sie. »Gestern auf der Gesellschaft hat einer der ehrwürdigen Herren unserer Regierung etwas über die Verlängerung Ihrer Aufenthaltsbewilligung fallen lassen. Das ganze Kabinett hat von unserem Frühstück im Hydepark-Hotel gehört. Ich erklärte ihm, Sie hätten keine besondere Eile, nach Irland zurückzufahren. Natürlich legt die Regierung auch keinen großen Wert darauf, einen Mann wie Sie recht bald wieder in Irland zu wissen. Warum wollen Sie also plötzlich morgen abreisen?«

»Ich muß!« sagte er hartnäckig. »Wenn es heute abend nicht gelingt, diese Sache ins Rollen zu bringen, muß ich unbedingt zurück. Ich vergeude meine Zeit in London. Ich habe den Versuch gemacht, eine Audienz beim Premierminister zu bekommen. Es ist nicht möglich, an ihn heranzukommen. Man macht mir überall mit größter Höflichkeit die Türe vor der Nase zu. Es treibt mich nach Irland zurück. Ich habe keine Ruhe mehr.«

»Aber wenn wir heute abend diese Sache ins Rollen bringen?«

Seine Antwort blieb aus. Sie begriff das Zögern und beeilte sich, über die Pause hinwegzukommen.

»Setzen Sie sich ruhig in mein Zimmer, bis ich mich umgezogen habe. Ich werde Britton Bescheid sagen. Lassen Sie sich etwas zu trinken geben, wenn Sie Lust haben. Ich bin gleich wieder da.«

Und schon war sie gegangen. Es war, als ließe sie den Glanz zurück, der ihn neben ihr begleitete. Es gab keine Stelle in diesem Hause, die nicht von diesem Glanz erfüllt war. Es war ihr Einfluß, dem man nicht entrann. Über dem Kamin hing ein Porträt von ihr. Ihre Schönheit schien dort lebendig, es ging ein Glitzern davon aus. Er wandte dem Bild den Rücken. So wie da, hatte er sie heute abend gesehen. Wieder und wieder. Er fühlte, daß es ihn von dem abzog, was ihn erfüllen sollte, und um so stärker und dringender empfand er den Wunsch, nach Irland zurückzukehren. Er verlor sich hier. Hier lag die Wurzel seiner Unrast.

Britton betrat das Zimmer, und er setzte sich. Er ließ sich einen Whiskysoda bringen. Es wirkte auf ihn wie eine Art Vorwand, der seine Gegenwart rechtfertigen solle.

Er wartete zehn Minuten, vielleicht war es auch eine Viertelstunde. Er hatte das Gefühl für Zeit verloren. Er hörte, wie draußen das Telephon klingelte. Er mußte sich beherrschen, um nicht selbst an den Apparat zu stürzen, dann hörte er Brittons Stimme. Sie wurde ihm von der Stille des Hauses zugetragen. Aufgewühlt wie er war, empfand er die Gelassenheit des Dieners als einen grotesken Gegensatz zu seiner eigenen Erregung.

»Jawohl, gnädige Frau ist heute abend nicht ausgegangen. Ich werde gnädige Frau sofort benachrichtigen.«

Ein schnappendes Geräusch, Britton hatte den Hörer aufgelegt – Stille – »gnädige Frau ist heute abend nicht ausgegangen« – es schien in dieser Stille nachzuschwingen. Wie gelassen und vollendet dieser Diener sprechen konnte – John Madden kam sich vor, wie in eine fremde und sonderbare Welt entrückt. Er stand auf fremdem Boden. Selbst der Diener gebrauchte hier eine Sprache, die seinen Ohren fremd und unwirklich klang.

Er stand neben dem Kamin und zwang seine Augen, von dem Porträt wegzusehen. Er starrte in das Feuer hinunter und dachte an das Bett in einer Hütte droben im Moor, wo er sein Gewehr versteckt hatte, ehe er Irland verließ, den Fetzen Papier in der Tasche, dem er eine kurze Zeit des Aufatmens verdankte. Er dachte an die Waffe, wie ein Mann an die Frau denkt, die weit, weit von ihm weg auf seine Rückkunft wartet. Er begann besorgt zu werden, ob er sie wiederfinden würde. Gewehre! Sie hatten so wenig Gewehre! Viel zu wenig! Er sah sich über die Heide wandern, den Weg hinauf, der zu der Hütte führte. Jetzt war er angelangt und sah die Hütte vor sich, ausgebrannt, die Mauern standen noch, das Dach war eingestürzt und die verkohlten Dachsparren starrten in den Himmel wie die Rippen eines Wracks. Sein Gewehr! Da hörte er Jane hinter sich. Die Vision war verflogen, die Furcht dahin. Er fühlte, wie sie auf ihn zukam, hörte das schwache, ach so beunruhigende Rauschen ihres Kleides.

Er hob den Kopf, zwang sich entschlossen, sich herumzudrehen, und sah sie vor sich – in dem grünen Kleid, in dem er sie zum erstenmal erblickt hatte.

»Dieses Kleid soll eine Mahnung sein«, sagte sie. »Sie können nicht morgen nach Irland zurück. Sie haben noch nicht getan, was Sie sich vorgenommen haben. Denken Sie noch an diesen ersten Abend? Wir wissen noch nicht, was Draper sagen wird. Sie sind zappelig wie ein Kind und voll Launen wie ein Kind. Dreimal haben Sie heute abend schon Ihre Stimmung gewechselt. Ich bin Männer gewohnt, die ihre Richtung wählen und sich so scharf daran halten, als müßten sie an einem Kreidestrich entlang marschieren, um dem Polizeiarzt zu beweisen, daß sie nicht betrunken sind.«

Er sah zu ihr hin, nach dem schwarzen Haar, der klugen Stirn über den beredten Augen, dem so graziösen Bogen ihrer Lippen, den sanft abfallenden Schultern und den wundervollen Armen. Er hörte sich sprechen:

»Was hat Draper am Telephon gesagt?«

»Er will in zehn Minuten hier sein.«

»Ich hörte den Diener am Telephon.«

»Britton ist ein Juwel. Der geschickteste Mechaniker versteht nicht so mit dem Motor umzugehen, wie Britton mit diesen Dingen.«

»Ich mußte beinahe über ihn lachen.«

»Warum?«

»Es wirkte alles so weltenfern. Selbst die Luft ist still in diesem Haus. Sie oben beim Umziehen, ich hier unten, in Ihrem Zimmer wartend – Ihr Bild an der Wand, Draper irgendwo in einer Fernsprechzelle am Apparat hängend, und Irland – Irland –«

Es war, wie er es fühlte. Gedankenfetzen, die der Wind wirbelnd vor sich her trieb. Vor ein paar Sekunden noch hatte er geglaubt, er habe sich von allem befreit, von allem, bis auf den einzigen Gedanken: zurück, zurück nach Irland! Hier war kein Land, in dem er sich zu Hause fühlte. Zwei Jahre lang hatte er gelebt wie ein gehetztes Wild, aber wenn er gelitten hatte, so war es körperlich gewesen. Hier war es, als würde auf seine Seele Jagd gemacht. Und jetzt, wie sie vor ihm stand in ihrem grünen Kleid, wußte er nichts mehr davon. Klar und bestimmt hatte er gewußt, was er tun sollte. Es war wie weggeblasen. Irland – Irland – hatte er gesagt – war sie nicht Irland, wie sie vor ihm stand in ihrem grünen Kleid, die klaren grauen Augen auf sein kämpfendes Gesicht gerichtet?

»Ja – Irland«, wiederholte sie sanft. »Dachten Sie, ich hätte es vergessen in der Zeit, wo ich oben war?«

»Hatten Sie es nicht vergessen?«

»Nein.«

Sie standen nebeneinander am Kamin. Es war ihnen beiden, als stünden sie am Rande der Welt. Und dann glitt sie in seine Arme, die sich um sie schlossen, als müsse er sie vor dem Fallen bewahren. Sein Gesicht preßte sich eng an ihres, aber er küßte sie nicht. Sie hörte seinen Atem nah an ihrem Ohr. Ihr Arm hing unbeweglich und kraftlos herab. Gab es noch Zeit und Raum und ein Ziel, um das man kämpfte? Sie hatte es vergessen. Hier hätte ihr Leben enden können! So hätte der Tod erscheinen dürfen, wenn seine Stunde schlug. War es Freude? Sie hätte nicht sagen können, was sie empfand. Und doch das eine: zu sterben, jetzt, in diesen Armen, wäre Glück gewesen, eine Gnade!

Die Haustürglocke schlug an. Wie unter einem Hammer zerbrach die Stille, die der beiden eigenster Besitz war. Sie standen getrennt. Er blickte nach der Tür. Sie ging zu ihrem Stuhl, unter der Madonna von Giotto, und setzte sich. Keiner hatte ein Wort gesprochen.


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