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Sechstes Kapitel

Die ruhige Gewißheit, daß sie John Madden nicht zum letztenmal gesehen hatte, war der Schlaftrunk, mit dem Jane Carroll an diesem Abend zu Bett ging. Er verließ London noch nicht. Widerstrebend hatte er es zugegeben. Sie versuchte nicht einmal, sich vorzustellen, wie ihr nächstes Zusammentreffen enden würde.

Als am anderen Morgen Louise die Tür öffnete, war sie hellwach. Sie hob den Kopf aus den Kissen und bemerkte sofort etwas Ungewohntes in Louises Gesicht. In ihrer merkwürdig hellsichtigen Wachheit sagte sie sich sofort, daß es mit dem nur schwachen Dämmerlicht zusammenhing, das durch die Vorhänge sickerte.

»Wieviel Uhr ist es denn?« fragte sie.

»Drei Viertel sieben.«

»Drei Viertel sieben?«

Sie setzte sich im Bette auf. Sie und Stephen frühstückten frühestens um zehn Uhr. Oft ließ sie sich das Frühstück ans Bett bringen und stand erst gegen Mittag auf, bisweilen später, wenn sie so gestimmt war. Drei Viertel sieben! Sie saß und starrte Louise an und wartete beinahe auf den Augenblick, wo der Ärger in ihr aufsteigen mußte.

»Am Telephon ist ein Herr, der die gnädige Frau sprechen möchte«, hörte sie Louise sagen.

»Mich?! Um drei Viertel sieben? Um sechs Uhr dreißig?« Nur eine Viertelstunde brauchte man abzuziehen, damit die Absurdität des Ganzen zu voller Wirkung kam. »Wer ist das?«

»Er wollte seinen Namen nicht nennen, gnädige Frau.«

Jetzt wußte sie es. Hatte sie es nicht schon in dem Augenblick gewußt, als sie aufwachte?

Es hatte begonnen! Dieser Anruf, um diese Stunde, war ihr erstes Erlebnis in einer neuen Welt. Sie wußte nicht nur: es war John Madden, sie wußte auch, kein anderer Mann ihrer Bekanntschaft hätte gewagt, sie jetzt anzurufen. Ihre Pulse hämmerten. Sie wußte, es war erst der Anfang, es war nichts gegen all die ungewöhnlichen Dinge, die ihrer harrten.

Mit einigem Zittern wartete Louise auf Vorwürfe, sie versuchte sich auszudenken, was ihr im schlimmsten Falle geschehen könnte, als Jane sagte:

»Haben Sie umgestellt?«

»Nein, gnädige Frau, noch nicht.«

»Haben Sie gesagt, daß ich noch schlafe?«

»Ja, gnädige Frau.«

»Was antwortete er darauf?«

»Der Herr antwortete: ›Seit eineinhalb Stunden ist es schon heller Tag.‹«

Zu Louises Verblüffung lachte Jane hellauf. Sie stand an der Tür und sperrte den Mund auf.

»Hat er gesagt, er möchte mich sprechen?«

Jane spielte mit dem Augenblick, kostete ihn aus. Wenn sie ihrem Impuls gefolgt wäre, hätte sie Louise gesagt, sie möchte das Telephon sofort umstellen. Aber sie war in eine neue Welt eingetreten. Die Lust war unüberwindlich, sich erst einmal umzusehen.

»Also stellen Sie um. Wenn ich läute, will ich meinen Tee haben«, sagte sie.

Sie ahnte, daß es mit dem Schlaf vorbei sein würde. Die Tür schloß sich kaum hinter Louise, da war sie aus dem Bett. Sie betrachtete ihr Bild im Spiegel und ordnete die Flechten, die sich gelöst hatten. Das Telephon klingelte. Sie schlüpfte ins Bett zurück, schob sich die Kissen zurecht, um ihren Ellbogen darauf zu lehnen.

Ein Gefühl froher Spannung gab ihrem Gesicht einen neuen Ausdruck. Es war kein Lächeln, es war, als fließe ein warmes Licht darüber.

Ihre Hand ruhte auf dem Hörer, aber sie hatte ihn noch nicht abgenommen. Es läutete erneut. Wie nah er war – war es nicht lächerlich, daß sie ihn als so nah empfand?

Sie nahm den Hörer ab.

»Guten Morgen«, sagte sie.

Seine Antwort kam rasch, wie losgeschnellt. Sie verriet keine nervöse Ungeduld, nur, daß er länger hatte warten müssen, als er ertragen konnte.

»Guten Morgen! Wissen Sie denn, wer am Apparat ist?«

»Ja.«

»Wieso denn? Ah natürlich – der unverbesserliche irische Akzent!«

»Ich wußte es viel früher.«

»Warum?«

»Ich kenne in dieser hochkultivierten Stadt keinen einzigen Mann, der mich um ein Viertel vor sieben Uhr anrufen würde.«

»Nehmen Sie es denn übel?«

Seine Stimme verriet so deutlich, daß ihm erst jetzt diese Möglichkeit erschreckend ins Bewußtsein trat, daß sie lachen mußte.

»Ich habe vergessen, daß Sie zur eleganten Welt gehören –,« sagte er, erschreckt nach der ersten besten Erklärung suchend, »Sie stehen wohl nie vor neun Uhr auf?«

»Manchmal wird es zehn.«

»Du großer Gott!«

Hätte er sehen können, wie herzlich sie über ihn lachte, er wäre um vieles beruhigter gewesen.

»Es ist wohl richtiger, wenn ich abhänge?«

»Nein, sprechen Sie ruhig weiter.«

»Sie sind natürlich böse auf mich?«

»Keineswegs. Ein ganz klein wenig verblüfft. Mehr nicht. Aber nicht etwa, weil ich noch schlaftrunken bin. Wie haben Sie nur mein Mädchen dazu überredet, mich zu wecken? Ich sehe sie noch vor mir, wie sie an der Tür stand, das arme Kind. Sie erwartete jeden Augenblick die Kündigung.«

»Ich habe gesagt, Sie würden sonst sehr ärgerlich sein.«

Ihr Lachen war ansteckend. Für einen Augenblick vergaß das Fräulein vom Amt sogar ihr dringendes Bedürfnis nach Frühstück.

»Da Sie die Dame der Gesellschaft also vergessen hatten, darf man da vielleicht fragen, wen Sie eigentlich angerufen haben?«

»Aber gewiß!«

»Wen also?«

»Die Dame, die mit mir vergangene Nacht ihr Glas geleert hat.«

»Wenn sie auf dem Amt zuhören,« sagte sie, »müssen sie merkwürdige Eindrücke gewinnen.«

»Meinetwegen können sechzig zuhören, ich habe nicht die Absicht, hier etwas zu sagen, was die Herrschaften interessieren könnte.«

Sie bemerkte, im Interesse des Seelenheils des Fräuleins vom Amt sei es vielleicht doch angebracht, die Sache mit dem Glase Wein näher zu erklären.

»Und außerdem«, fügte sie hinzu, »auch im Interesse meiner Zofe, die höchstwahrscheinlich am Apparat in der Diele unten lauscht. Soviel ich vom Telephon verstehe, stehen diese Dinger alle miteinander in Verbindung.«

»Meinen Sie, ich sollte lieber aufhören?«

»Nein, nein, reden Sie ruhig weiter. Wie war das also mit der Dame und dem Glase Wein?«

»Ich dachte in der vergangenen Nacht, Sie verstünden alles. Das wollte ich sagen.«

»Ich wußte nicht mehr, als ich Ihnen erzählt habe.«

Das Fräulein vom Amt entschloß sich seufzend, einem plötzlichen Ansturm von Verbindungsuchenden Gehör zu schenken. Britton erschien auf der Treppe und hatte den Eindruck, daß Louise etwas verloren haben mußte; jedenfalls suchte sie mit ungewöhnlichem Interesse etwas auf dem Tisch, auf dem das Telephon stand – der Hörer lag selbstverständlich harmlos auf der Gabel.

»Deshalb habe ich Sie angerufen«, sagte John Madden.

Jane bekannte sich lächelnd zu einem gewissen Mangel an Begriffsvermögen.

Er versuchte zu erklären. »Ich dachte, Sie trinken mir zu, weil Sie alles verstanden hatten.«

»Oh, ich hatte auch alles verstanden, aber gewiß nicht auf Grund der Dinge, die man mir erzählt hatte.«

»Eben deshalb –. Sehen Sie, ich weiß jetzt, was für ein Narr ich war – daß ich Ihnen kein Vertrauen schenkte – Sie wissen – später auf dem Platze draußen. Ich könnte mich ohrfeigen.«

»Oh, warum denn?«

»Weil ich nicht genug Verstand hatte, um alles zu begreifen.«

»Was zu begreifen?«

»Daß Sie kraft Ihres Gefühls imstande waren, alles zu verstehen. Es war Ihr Herzl«

»Das ist wahr.«

Er mußte sich anstrengen, um sie zu verstehen. Ihre Stimme war plötzlich so verweht.

»Ich bin ein verdammter Narr!«

»Haben Sie mich angerufen, um mir das mitzuteilen?«

»Ja – in einem gewissen Sinne – ja.«

»Von wo telephonieren Sie eigentlich?«

»Von meinem Hotel aus.«

»In der Schachtel, in der die Gewitter eingesperrt sind?«

»Der Himmel sei gepriesen, nein! Meinen Sie, man hätte hier Telephone auf den Zimmern? Ich spreche an einem Apparat im Korridor. Von hier aus kann ich sehen, daß dem Mädchen, das die Eingangstreppe aufwischt, die Haube ins Gesicht gerutscht ist. Hören Sie nicht das Donnern? Das sind die Autobusse draußen auf der Straße.«

»Ist das das merkwürdige Gerumpel, das ich höre?«

»Natürlich. Und Sie? Sie liegen, denke ich mir, in einem weichen Bett mit unzähligen üppigen Kissen, und Ihr Haar liegt auf Ihren Schultern.«

»Sie können doch hoffentlich nicht durch das Telephon sehen? Nicht wahr?«

»Nein, das nicht! Und vor drei Tagen bin ich noch oben in den Bergen bei Araglin im Morgentau über die Heide gestapft. Gütige Mutter! – Es ist eine seltsame Welt.«

Sie schwiegen beide. Sie versuchte es sich vorzustellen und miteinander in Beziehung zu bringen: das Hausmädchen, das die Hoteltreppe reinigte, sie selbst in ihrem weichen Bett, und ihn, wie er frühmorgens über die Heide schritt – ein Mann, den sie erst einmal gesehen hatte und mit dem sie schon so sprach, als wäre er ein alter Freund.

»Daß sie sich für einen Narren halten, hätten Sie mir also nun mitgeteilt«, sagte sie. »Hatten Sie die Absicht, mir außerdem noch eine wichtige Nachricht zuteil werden zu lassen?«

»Sollten Sie eine böse Zunge haben?«

»Sie ist, wie sie sein soll. Und im übrigen müssen Sie nicht so empfindlich sein!«

»Das ist unvermeidlich«, antwortete er. »Bedenken Sie, daß ich in Feindesland bin.«

»Aber jetzt sprechen Sie doch mit jemand, der Ihnen befreundet ist!«

»Meinen Sie, was Sie sagen?«

Es war, als trügen ihr die Drähte die impulsive Geste zu, die seine Worte begleitete.

»Natürlich!«

»Dann werde ich Ihnen aber jetzt wirklich erzählen, warum ich Sie angerufen habe. Ich muß Sie heute sprechen«, sagte er. Unbewußt senkte er die Stimme. Jede Spur harmlosen Geplauders war verflogen. Es war nicht die Frau, zu der er sprach, sondern die Verbündete. Jane fühlte plötzlich die Atmosphäre der Verschwörung.

Das war die Stimme eines Mannes, auf dessen Kopf ein Preis gesetzt ist.

»Sie haben einen schlechten Tag getroffen«, sagte sie freundschaftlich.

»Was nennen Sie einen schlechten Tag? Jeder Tag hat vierundzwanzig Stunden.«

»Und in beinahe jeder dieser vierundzwanzig Stunden ist schon über mich verfügt.«

»Lunch?«

»Ausgeschlossen!«

»Abendessen?«

»Nicht daran zu denken!«

»Und dazwischen ist doch auch noch Zeit? Wäre da vielleicht? ...«

Sie nannte ihm die Namen all der Leute, die von ihr zum Tee erwartet würden. Es war eine lange Liste, wie ein Hofbericht in der Zeitung. Es war dumm – es war geradezu lächerlich, aber es ließ sich nicht ändern. Jetzt, im Gespräch mit ihm, erkannte sie erst, wie sie ihr Leben vergeudete.

Und so – so verbrachte sie ihre Zeit? Der Ton, in dem er es sagte, war beinahe beleidigend, hätte nicht gleichzeitig soviel Verzweiflung darin gelegen.

»Haben Sie denn gar keine Viertelstunde frei?« bat er.

»Wann denn nur?«

»Jetzt, heute früh.«

»Ich frühstücke doch nie vor zehn.«

»Lieber Gott! Es ist erst sieben. Drei Stunden! Wäre es denn nicht möglich? Kommen Sie doch jetzt. Stehen Sie auf. Ziehen Sie sich an. Gehen Sie jetzt gleich fort und treffen sich mit mir!«

»Wo denn?«

»Wo Sie wollen. Sie gehen doch manchmal zur Frühmesse? Oder nicht?«

Er hörte einen unbestimmten Laut und legte ihn als Bejahung aus.

»Nun? Warum eigentlich nicht? Jetzt gleich! Vor der Kirche. Um acht Uhr. Ich warte auf Sie. Auf der Treppe am Eingang. Sie kommen doch? Nicht wahr? Sie können doch nicht nein sagen. Oder können Sie's?«

Sie konnte nicht nein sagen.

Sie hörte sich mit eigenen Ohren zusagen. Kleinlaut. Kaum verständlich. »Zur Frühmesse um acht Uhr. Vor der Kirche.«

Im Hörer rasselte es. Die Verbindung war unterbrochen. Er hatte abgehängt. Er wollte sich nach ihrer Zusage keinerlei Gefahren aussetzen.

Sie ging zur Frühmesse!

War sie eigentlich noch bei Sinnen? Sie stieg aus dem Bett. Es gibt Augenblicke, da gibt es nur eine Stimme, der eine Frau Glauben zu schenken fähig ist: die Stimme ihres Spiegels.

Sie stand vor dem Toilettentisch und betrachtete ihr Spiegelbild. Es war ein Beginn, war Wirklichkeit.

Sie sah eine Frau, die sie ihr ganzes Leben lang gekannt – die sie bis heute niemals gesehen hatte.


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