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Fünftes Kapitel

Das Zimmer war stockfinster. Hauptmann Barrow blieb dicht an der Tür stehen und leuchtete mit seiner elektrischen Taschenlampe hinein. Die anderen warteten draußen. Sie standen dicht zusammengedrängt auf dem Vorplatz, gespannt horchend.

Stephen machte einen verzweifelten Versuch, sich innerlich in die Situation hineinzufinden. Allmählich war es ihm aufgegangen, daß es hier um Tod und Leben ging. Das Maskeradenhafte, das erst so komisch gewirkt hatte, war ganz und gar dahin. Der junge Herr da, Hauptmann Barrow vom Staffordshire-Regiment, war in einer keineswegs erfreulichen Gemütsverfassung. Es war kaum faßbar, daß er die Absicht haben sollte, den jungen Irländer, der als Gefangener unten in der Diele saß, kaltblütig über den Haufen schießen zu lassen, und doch mußte man es als durchaus möglich und wahrscheinlich betrachten. Das, was der Offizier vorhin zu Vater Hanrahan gesagt hatte, ließ sich in keinem anderen Sinne deuten.

Bei dem unsicheren Licht der Lampe, die auf dem Vorplatz brannte, starrte er Vater Hanrahan an. Dessen Gesicht war verschlossen. Nur eins war deutlich – er horchte – horchte mit allen Sinnen, allen Fibern, mit den Ohrmuscheln, mit dem Kopf, mit dem Körper. Stephen sah nach dem Soldaten hinüber. Der horchte auch, aber ohne besondere Anteilnahme. Alles war ganz still.

Diese Pause hatte vielleicht nur zwei Sekunden gedauert, sie schienen endlos.

Dann hörte man Hauptmann Barrow sagen:

»Gibt's hier kein Licht? Haben Sie hier nicht irgendwo eine Lampe?«

Es entstand eine kleine Pause, ehe Jane antwortete. Stephen fragte sich, ob auch die anderen die Bedeutung dieser Pause so stark empfanden wie er. Für ihn schien sie kein Ende zu nehmen. Er las aus diesem Schweigen tausenderlei heraus, und nichts davon war geeignet, irgendwie beruhigend zu wirken. Er, der sie kannte, wußte, welche Geistesgegenwart sie besaß. Noch nie hatte er feststellen können, daß sie durch äußere Umstände aus der Fassung gebracht wurde. Vater Hanrahan hatte recht. Es war nicht daran zu rütteln: dies war kein Ort für Jane. Betäubt von dem Wirbel verworrener Gedanken, die durch seinen Kopf jagten, gab er sich selbst das feste Versprechen, bei der ersten sich bietenden Gelegenheit mit Jane nach England zurückzukehren.

Und dann hörte er, wie sie aus dem Dunkel Antwort gab. Sie hatte gewiß nicht länger als den Bruchteil einer Sekunde gezögert, und doch erschien ihm dieses Zögern wie eine Bloßstellung. Er hatte dem Priester einen Blick zugeworfen. Auch diesem schien das Zögern aufgefallen zu sein. Nur der Militär schien von seinem Vorhaben zu sehr in Anspruch genommen, um für solche Kleinigkeiten empfänglich zu sein.

»Wenn Ihnen Ihre Taschenlaterne nicht genügt,« sagte Jane, »auf meinem Toilettentisch stehen vier Kerzen und zwei hier neben meinem Bett. Wenn Sie hinausgehen würden, könnte ich aufstehen und sie anzünden. Wenn Ihre Vorschriften das nicht zulassen, dann haben Sie vielleicht Glück und finden irgendwo eine Schachtel Streichhölzer.«

Ihre Stimme verriet nicht die geringste Unsicherheit. Sie war leicht und heiter, verblüffend leicht und heiter. War es eine unnatürliche Heiterkeit? War anzunehmen, daß eine Frau, in deren Schlafzimmer plötzlich ein Fremder stand, eben aus dem Schlaf geweckt, so sprechen würde? Hatte sie geschlafen? Stephens Inneres war immer noch ein großes Chaos. Zorn stieg in ihm auf, und dabei wußte er, daß in diesem Augenblick Zorn durchaus unangebracht war. Er hatte in seinem bisherigen Leben das, was andere Menschen »Nerven« nennen, nicht gekannt. Der Zustand, in dem er sich jetzt befand, mußte aber damit eine außerordentliche Ähnlichkeit haben.

»Ich habe ein paar Streichhölzer bei mir«, sagte Barrow. »Ich werde die Kerzen selbst anzünden.«

Er ging mit der brennenden elektrischen Lampe ins Zimmer hinein. Stephen folgte ihm ein paar Schritte. Der Soldat rückte bis an die Türöffnung vor und pflanzte sich da auf. Vater Hanrahan hatte auf dem Korridor einen Stuhl gefunden, auf dem er sich niederließ. Er bewachte den Teil des Zimmers, den er von seinem Platz aus übersehen konnte.

Barrow zündete die Kerzen auf dem Toilettentisch an. Vier dünne Lichtpunkte flackerten auf und zerfetzten die lastende Dunkelheit. Barrow schaltete seine Lampe aus, steckte sie in die Tasche und drehte sich um. Jane saß halb aufgerichtet in ihrem Bett. Ihre schwarzen Zöpfe lagen schwer auf dem dünnen Stoff des Nachtkleides. Stephen fühlte, wie sein Ärger wuchs. Es stieg heiß und unbehaglich in ihm hoch. Das ganze war doch eine unglaubliche Unverschämtheit! Sie sah den Zornblick in seinen Augen und lächelte ihm zu.

»Was hat das alles zu bedeuten, Dicky?« fragte sie mit ihrer betörendsten Stimme. Und nachdem sie ihm nur einen flüchtigen Blick geschenkt hatte, richtete sie ihre großen Augen voll auf Hauptmann Barrows rosiges Knabengesicht.

Der starrte sie an. Bevor es ihm selbst zum Bewußtsein gekommen war, daß seine Augen auf sie geheftet blieben, lachte sie, und er wurde blutrot bis an die Haarwurzeln. Er war unverheiratet. Niemals zuvor hatte er, ohne ausdrückliche und dringende Einladung das Schlafzimmer einer Dame betreten, und dies hier war nicht die Art Schlafzimmer, die er kannte. Obwohl es sich in vielen Dingen gewaltig von Janes Schlafzimmer am St.-James-Square unterschied, genügte doch ihre Gegenwart, wie sie dasaß, eben aus dem Schlaf geweckt, um ihm nachdrücklich vor Augen zu führen, daß er in diesem Augenblick genau das beging, was seine Erziehung als einfach unmögliche Entgleisung zu betrachten gelehrt hatte, einen Einbruch in das Heiligtum des Privatlebens. Er wußte sehr wohl, daß er etwas vor Augen hatte, was er voraussichtlich in seinem ganzen Leben nicht mehr zu Gesicht bekommen würde, aber es war eine Gunst des Schicksals, die eine krasse Herausforderung all seiner Instinkte und geheiligten Vorurteile als Gentleman war.

Als sie, immer noch lachend und seinen Blick bemerkend, sagte: »Habe ich das als einen Inspektionsbesuch zu betrachten?«, hätte er sich am liebsten ohrfeigen mögen. Die Erinnerung an die drei Soldaten, die ermordet auf der Landstraße zwischen Coppoquin und Villierstown lagen, war in die Ferne gerückt. Für ihn existierte im Augenblick nur das eine: er war hier in der rüdesten Weise in das Schlafzimmer einer Dame hineingeplatzt, die, obgleich sie sich, an den äußeren Umständen gemessen, in jeder Beziehung der bewaffneten Macht gegenüber im Nachteil befand, ihn unbestreitbar und erfolgreich in eine Rolle hineindrängte, in der er sich wie der größte Idiot des Jahrhunderts vorkam.

»Ich bedaure außerordentlich«, stammelte er. »Ich muß hier Haussuchung halten. Ich – ich kann nicht ein einziges Zimmer undurchsucht lassen.« Jetzt kam ihm wieder das Licht in Erinnerung, das in ihrem Zimmer gebrannt hatte und plötzlich gelöscht worden war. Er ergriff es als Vorwand, mit dem er sich halbwegs zu rechtfertigen hoffte. »Ganz besonders,« fügte er hinzu und zwang sich zu einem entschiedeneren Ton, »ganz besonders, da in diesem Zimmer ein Licht beobachtet worden ist, das plötzlich gelöscht wurde, als meine Untergebenen den Garten auf dieser Seite des Hauses betraten.«

»Aber natürlich,« sagte Jane, »es liegt gar kein Grund vor, sich zu entschuldigen. Sie haben Ihre Pflicht zu tun. Ich kann mich noch nicht einmal darüber beschweren, daß Sie mich aus dem Schlaf geweckt hätten. Ich habe mein Licht erst vor ungefähr – nun es kann knapp eine Viertelstunde her sein – ausgelöscht. Ich beschwere mich nicht über diese Störung. Aber jedenfalls weiß ich noch immer nicht, worum es sich eigentlich handelt.«

Stephen beobachtete sie, machte ihr die Geschichte tatsächlich Spaß?

Es kam ihm vor, als bemerke er hin und wieder ein kaum bemerkbares, unsicheres Abirren ihrer Augen. Oder bildete er sich das ein? Er sah sich im Zimmer um. Er kannte den Raum selbst noch viel zu wenig, um feststellen zu können, ob sich darin irgend etwas geändert hatte, seit er ihn zum erstenmal erblickt hatte. Alles schien wie immer, mit Ausnahme des Sessels vor dem Toilettentisch, wo sie saß, wenn ihr die Zofe das Haar machte. Es schien ihm, als stehe dieser Sessel nicht an seinem gewohnten Platz. Er stand dicht an einem gewaltigen Mahagonischrank, der seinem Aussehen nach aus den Jugendtagen der Königin Viktoria stammen mußte. War es der Stuhl, den er hatte über den Boden schleifen hören? Pflegte sie den Sessel vom Toilettentisch wegschieben zu lassen, wenn Louise mit dem Frisieren zu Ende war? Er versuchte, sich an ihre Gewohnheiten zu erinnern. In London hatte sie vor ihrem Toilettentisch einen alten Louis-Seize-Stuhl mit einem gestickten Bezug. Er stand immer vor dem Toilettentisch. Dessen war er ganz sicher. Manchmal, wenn sie an ihrem Bett Cercle hielt, hatte er diesen Stuhl sich geholt, weil alle anderen Sitzgelegenheiten bereits vergeben waren. Er erinnerte sich ganz deutlich, daß verschiedene Male, wenn er nach dem Tee in sein Arbeitszimmer zurückkehrte, sie ihn gebeten hatte, den Stuhl wieder an seinen Platz zu stellen.

Hauptmann Barrow berichtete Jane über den Mord an den drei Soldaten auf der Straße nach Villierstown. Stephen hörte nicht zu. Er besaß Vorstellungsvermögen, und diesmal betätigte es sich nicht wie gewohnt an abstrakten, sondern an sehr konkreten Dingen. Anstatt Dinge zu betrachten, die durch die überwältigende Entfernung der Jahrhunderte von ihm getrennt, nur in unbestimmten Formen sich darboten, sah er plötzlich Dinge, die unangenehm scharf, bestimmt und körperhaft hier vor seinen leiblichen Augen sich abspielten.

Der Stuhl – warum war er von seinem Platz gerückt? Sein Verstand konnte sich noch immer nicht dazu verstehen, von der Annahme auszugehen, daß John Madden tatsächlich in diesem Zimmer gewesen sein konnte. Stephen nahm noch immer an, daß die Stimmen, die durch die Decke zu ihm gedrungen waren, die von Jane und Louise gewesen waren. An intuitives Denken nicht gewöhnt, wies er es einfach von sich, von einer Voraussetzung auszugehen, die er als im höchsten Grade unwahrscheinlich betrachtete. Und doch blieb ein Argwohn zurück. Er konnte sich nicht darüber Rechenschaft geben, warum.

Sie hatte gelesen. Sie mußte schon im Bett gelegen haben.

Warum also war der Stuhl weggerückt worden? Warum wurde ihm plötzlich ein Platz beinah auf der anderen Seite des Zimmers angewiesen, dicht neben dem Schrank? Es war ein schwerer Sessel. Sehr viel mühsamer zu bewegen als ihr Louis-Seize-Stuhl.

Seine Augen fühlten sich von dem gewaltigen viktorianischen Schrank angezogen. Warum hatte man damals eigentlich eine solche Vorliebe für derart wuchtige und umfangreiche Möbel? Wahrscheinlich waren es die Krinolinen, die ausladenden Röcke der damaligen Zeit! Wenn man davon ausging, dann war selbst dieser tiefe und große Schrank kaum geräumig genug, um mehr als zwei oder drei Frauenkostüme aufzunehmen. Was war das damals doch für eine Epoche gewesen! Oberflächlich betrachtet, eine Generation, an der äußerlich und innerlich alles künstlich und Mache war. Und doch eine Generation, in der Männer und Frauen einige der lobenswertesten Taten der Geschichte vollbracht hatten.

Noch in die Betrachtung der verwickelten Widersprüche vertieft, aus denen die menschliche Natur zusammengesetzt ist, hörte er Jane mit scharfer und beunruhigter Betonung sagen:

»Was haben Sie mit ihm vor?«

»Ich bedaure unendlich,« sagte Barrow, »aber ich kann mich darüber in keinerlei Auseinandersetzungen einlassen. Der Mann spielt übrigens hier gar keine Rolle. Ich will John Madden festnehmen.«

»Aber warum versteifen Sie sich darauf, daß John Madden hier im Hause ist, nur weil Sie diesen anderen hier in der Nähe gefangen haben?«

»Die beiden waren die ganze Zeit über zusammen. Man hat sie auch zusammen ein kleines Nest hier in der Nähe passieren sehen, Pilltown, vier Meilen von hier. Und wie Ihr Gatte mir mitteilte, ist Ihnen John Madden bekannt.«

Sie sah zu Stephen hinüber, und sie lachte. Es war das letzte, was er erwartet hätte.

»Hast du ihm von dem Essen bei uns erzählt, Dicky?« fragte sie.

Er nickte. Er war unsagbar nervös. Er gestand es sich jetzt selbst ein. Er fürchtete ihre innerliche Mißbilligung. Aber sie zeigte sich in keiner Beziehung vorwurfsvoll. Sie sah ihn nur an und lachte. Und dann wechselte ihr Blick, der fest auf sein Gesiebt gerichtet war, eine Sekunde das Ziel. Sie hatte verstohlen nach dem Schrank geblickt. Und sofort waren ihre Augen wieder zu ihm zurückgekehrt. Es war ein Blick, der so unwillkürlich war, daß er ihr selbst vielleicht kaum zum Bewußtsein kam.

»Ich werde mich mein Lebtag an dieses Essen erinnern«, sagte sie. »Es war eines meiner Abenteuer auf dem Gebiet der hohen Politik.« Sie wendete ihre Augen, Augen, die sie leuchten ließ, zu dem jungen Offizier zurück.

»Ich nehme an,« sagte sie, »daß Sie sich nie ins Allerheiligste der hohen Politik verirren?« Sie sah ihn dabei an, als halte sie es im Gegenteil für durchaus möglich. Und er glotzte sie an, ein bißchen wie ein Bauer, dem zum erstenmal in seinem Leben die Kronjuwelen im Tower gezeigt werden. Ihr Blick verlangte eine Antwort. Er bekannte, daß er sich noch niemals in so erlauchter Gesellschaft befunden habe.

»Nun, ich kann Ihnen nicht recht beschreiben, wie sich dieses Essen abgespielt hat«, fuhr sie fort, und er mußte dastehen und ihr zuhören, während sie den Namen des Ministers einfließen ließ, der damals an ihrem Tisch gesessen hatte. Es war nicht ersichtlich, daß sie die Wirkung, die von diesem Namen ausgelöst wurde, bemerkt hätte. Sie ließ den Namen fallen wie ein Stück Papier auf der Schnitzeljagd, um ihn auf eine Fährte zu locken, der er folgen sollte. Mit behenden Pinselstrichen, scharfen kleinen Lichtern, verabreichte sie ihm dann Francis Canning, den spiegelblanken jungen Mann, als eifrigen Terrier, der mit gespitzten Ohren seinem Herrn zu Füßen sitzt, bereit, auf jeden Pfiff loszustürzen.

»Obwohl ich schwerlich glauben kann, daß der alte Herr selber pfeifen darf, wie es ihm beliebt. Oder glaubst du, Dicky?«

Sie fragte nicht, um eine Antwort zu erhalten. Bevor sie überhaupt wissen konnten, daß es eine Frage war, war sie bereits dabei, dem Jüngling Barrow den Ulsterparlamentarier vorzuführen, den sie in das Scheinwerferlicht ihres Witzes zerrte.

»Ein geiziger Schotte,« beschrieb sie ihn, »nur mit dem Unterschied, daß er sein Bankkonto in Irland hat.«

»Und da saßen sie nun«, fuhr sie fort, »und betrieben eine Art politischen Versteckspiels. Sie sehen, Hauptmann Barrow, Politik ist ein schmieriges Geschäft. Es klingt sehr ehrbar im Unterhaus mit dem Kratzen der Journalistenfedern als Begleitung, aber die wirkliche Politik – die Entscheidung darüber, welche politischen Mittel man wählen will, und wie man sie zurechtschminkt, damit sie aussehen, als wäre es wahre Staatskunst – all das spielt sich in gewissen dunklen Hinterzimmern ab. Was einer im Unterhaus vorbringt, das kann man noch nach Jahren aus dem Parlamentsbericht herausfischen und ihm unter die Nase halten. Aber was er denkt und tut – Sie leben sonst in London, nicht wahr?«

Er stand als Eindringling im Schlafzimmer einer Dame, alle geheiligten Vorurteile hinsichtlich des Benehmens, das ein Gentleman einer Dame schuldig ist, verlangten von ihm Höflichkeit.

»Ich lebe nicht in London,« sagte er, »aber ich bin sehr oft in London, wenn ich in England bin.«

»Oh, wenn wir nach England zurückgekehrt sind, werde ich Sie zu einer meiner Gesellschaften einladen. Sie werden doch kommen, nicht wahr?«

Er erklärte, er werde darüber hocherfreut sein. So ganz sicher war er sich nicht mehr darüber, wo er sich eigentlich befand. Er mußte sich Gewalt antun, um an die drei Soldaten zu denken, die mit dem Gesicht im Schmutz tot auf der Straße nach Villierstown lagen. Es war einer darunter, den die Schüsse nicht sofort getötet hatten. Sie hatten ihm mit dem Gewehrkolben den Schädel eingeschlagen. Und jetzt lag hier vor ihm, in diesem Bett, diese Frau, deren schwarze Flechten wie Ebenholz auf dem Elfenbein ihrer Schultern lagen. Und er wußte, wenn er hinsah – denn er hatte hingesehen –, dann konnte er unter dem dünnen Stoff ihres Nachtgewands die leichte Rundung ihrer Brüste sehen.

»Nun, ich will Sie aber nicht länger von Ihren Pflichten abhalten«, sagte sie ihn ermunternd. »Ich halte Sie bloß auf. Immerhin haben Sie ja das Haus umstellen lassen. Der, den Sie suchen, kann Ihnen nicht durch die Finger schlüpfen – meinen Sie nicht auch? Dicky, findest du nicht auch das Ganze ein bißchen lächerlich?«

»Was?«

»Na, das Ganze! Vor vier Tagen habe ich noch in der Bond-Street Einkäufe gemacht. Ich kann mir gar nicht vorstellen, was geschieht, wenn diese Leute hier zu Louise ins Zimmer kommen. Ich glaube, es wäre zu empfehlen, daß du hinaufgehst und sie vorbereitest, sie wird sich zu Tode erschrecken. Sie hat in ihrem ganzen Leben noch keinen Mann mit einem Revolver in der Hand gesehen.«

Und noch immer hatte ihre Stimme den unbeschwerten, unbefangenen Klang. Aber nicht ihre Stimme nahm Stephens Aufmerksamkeit in Anspruch, sondern ihre Augen. Sie folgten dem Offizier, der das Zimmer durchsuchte, bei jeder Bewegung.

»Ist das ein Wandschrank oder die Tür zu einem anderen Zimmer?« fragte der Hauptmann.

»Ach, das da, das ist ein Wandschrank.«

»Ich bitte vielmals um Entschuldigung, aber ich muß ...« er öffnete die Tür, er hatte wieder angefangen, nervös mit dem Revolver zu spielen.

»Nur ein paar Kleider«, sagte sie.

Jetzt kniete Hauptmann Barrow nieder und leuchtete mit seiner elektrischen Taschenlampe unter das Bett. Sein rosiges Gesicht überzog sich dabei mit flammender Röte. Ihre Augen, die fest auf ihm ruhten, verrieten ein Lachen – es schien, als ob das Groteske der Situation, in der sich der junge Mann befand, ihr großes Vergnügen bereite. Sie sagte:

»Natürlich beruht das alles auf der Voraussetzung, daß ich tatsächlich einen fremden Mann ohne weiteres in mein Zimmer gelassen habe.«

Die Worte unterstrichen von neuem das Unglaubliche, das Maskenballhafte der Situation. Das Ganze schien von geradezu lächerlicher Unwahrscheinlichkeit. Barrow erhob sich vom Fußboden.

»Ich bitte um Entschuldigung, ich denke natürlich nicht daran, mir irgendwelche Voraussetzungen zu erlauben. Aber John Madden ist einer der Männer, um die sich die ganze Sinn-Feiner-Organisation dreht. Ich habe allen Grund, anzunehmen, daß er sich in diesem Haus befindet. Es ist ganz ausgeschlossen, daß ich auch nur den kleinsten Winkel undurchsucht lassen kann.«

»Nein, natürlich können Sie das nicht.«

»Nun, ich glaube, das wäre jetzt alles, was hier zu durchsuchen wäre.« Ganz ersichtlich lag ihm außerordentlich daran, aus diesem Zimmer herauszukommen. Stephen fragte sich, wie weit Jane bewußt darauf hingearbeitet hatte. Es lag etwas über ihr, das Stephen völlig neu war. Der Ausdruck einer Kraft, die er an ihr noch nie gekannt hatte. Er stand unter dem Eindruck einer Überraschung, die eigentlich mehr war als Überraschung – tiefe Bewunderung. Er wußte selbst nicht, was es war.

Hauptmann Barrow war schon im Begriff, das Zimmer zu verlassen, als im Gehen sein Blick auf den gewaltigen Mahagonischrank fiel.

»Noch mehr Kleider«, sagte Jane. »Wenn ich daran denke, wie sehr Sie jetzt über uns Frauen Bescheid wissen, dann muß ich beinah zittern.«

Sie verstand es, in ihre Augen und in ihre Stimme eine Heiterkeit zu legen, die für alle, außer für Stephen, nichts anderes zu verbergen schien. Aber er wußte, in diesem Augenblick zitterte sie. Niemals zuvor hatte er Jane geängstigt gesehen. Jetzt war sie es. Da war John Madden. In diesem Schrank steckte er. Jetzt wußte er es. Bis jetzt war es Janes Mutterwitz gelungen, kaltblütig den jungen Offizier auf eine falsche Spur zu locken. Stephen wußte nicht, wie ihm zumute war. Er stand und starrte sie an, als sei Jane eine Frau, die nicht ihm gehörte. Er hörte das Quietschen der Schranktür, die geöffnet wurde. Er brachte es nicht über sich, hinzusehen. Er sah Jane an, deren Augen immer noch ihre Heiterkeit bewahrten, und fragte sich, ob diese Frau je ihm gehört hatte. Er mußte – mußte sie ansehen, während eine andere Zelle in seinem Gehirn fieberhaft auf den Knall des Revolvers wartete, mit dem der Offizier hantierte – auf einen scharfen Ausruf der Überraschung.

Und es geschah nichts. Er hörte, wie sich die Schranktür wieder schloß. Barrow sprach. Er sagte –

»Ich hoffe, Sie werden die Belästigung entschuldigen.«

»Wenn Sie wüßten, welche herrliche Geschichte für die armen gelangweilten Leute in London Sie mir verschafft haben, dann würden Sie mich nicht um Entschuldigung bitten. Ich glaube, es wäre zuviel verlangt, wenn ich Sie bitte, mir mitzuteilen, wie die Sache ausgeht. Ach, Dicky, geh du doch und bereite Louise etwas vor. Du kannst ihr auch sagen, daß sie in meinem Zimmer fertig sind, und daß sie sich um mich nicht zu beunruhigen braucht.«

In ihrem Zimmer fertig? Wie geschickt sie das zu formulieren wußte.

»Ach, und lösche doch auch die Kerzen wieder aus. Willst du so gut sein? Ich werde hier im Dunkeln liegen und gespannt horchen, ob ein Revolverschuß fällt.

Gute Nacht, Hauptmann Barrow.« Sie streckte ihm ihren nackten Arm hin. »Und vergessen Sie nicht, daß ich Sie eingeladen habe. Es ist mein Ernst. Wenn Sie nach London kommen, müssen Sie mir unbedingt sofort schreiben. Es wird mir eine große Freude sein, Sie mit hinter die Kulissen des Londoner Lebens zu nehmen und zu sehen, was für ein Gesicht Sie dazu machen.«

Stephen löschte die Kerzen aus. Er hörte ihre Stimme, aber so, als lägen hundert Meilen zwischen ihnen. So war denn alles eine Schöpfung seiner eigenen Phantasie! Psychologisch genommen, ein Abenteuer, wie er es noch nicht erlebt hatte. Er fühlte sich geblendet und hilflos. Demnach hatte es sich bei ihr um weiter nichts gehandelt als um die Erregtheit, die bei einem solchen Anlaß selbstverständlich und erklärlich war. Er hatte alle Kerzen bis auf eine ausgelöscht und zögerte in diesem Augenblick, weil sie noch etwas sagte. Innerlich fragte er sich: Warum hatte sein Verdacht sich ausgerechnet auf den hohen Kleiderschrank konzentriert? War es der Stuhl, der von seinem Platz geschoben war? Welch eine lächerliche Kleinigkeit! Und die Stimmen, die er gehört hatte? Es konnte also nur Louise gewesen sein. Er hätte Jane ruhig offen fragen können, mit wem sie gesprochen hatte. Es hätte nichts weiter bedeutet.

Er sah nach dem Stuhl hinüber. Sein Blick glitt über den Kleiderschrank, der, im Stil der viktorianischen Epoche, einen hohen, geschnitzten Schmuckaufsatz trug.

Was konnte Jane wohl oben auf dem Schrank untergebracht haben? Zu Hause pflegte er immer seine gebrauchten Rasierklingen auf den Schrank zu werfen, damit niemand in Gefahr kam, sich daran die Finger zu zerschneiden. Irgendein formloser dunkler Gegenstand lag da oben. Man sah gerade ein fingerbreites Stück davon. Das Ding lag ganz hinten, dicht an der Wand, so daß fast nichts davon zu sehen war. Es bewegte sich. Einen halben Zentimeter hatte es sich bewegt.

Er blies die Kerze aus. Janes letzte Worte erreichten ihn wie aus weiter Entfernung durch die Dunkelheit.

»Ich werde jetzt hinaufgehen und Louise vorbereiten«, sagte er, und damit folgte er Hauptmann Barrow aus dem Zimmer und schloß die Tür hinter sich.


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