Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zweites Buch

Erstes Kapitel

An einem Nachmittag gegen Ende Mai brachte ein geschlossenes Automobil Stephen und Jane Carroll vom Bahnhof in Youghal nach Haus Ardogina. Die Fahrt schien kein Ende nehmen zu wollen. Alles war vom Nebel verhängt. Es regnete. Das Wasser sammelte sich oben auf dem Verdeck und rann in klatschenden Tropfen durch ein Loch ins Wageninnere. Die Tropfen fielen gerade auf die Sitze. Stephen klopfte ans Fenster. Der Fahrer brachte den Wagen zum Stehen und kam an die Tür.

»Hier ist ein Loch im Verdeck«, sagte Stephen. »Das Wasser tropft durch. Vielleicht haben Sie irgendwo einen Fetzen Putzwolle, mit dem man das Loch verstopfen kann.«

»Jawoll«, sagte der Mann. »Da ist ein ganzer Haufen von im Werkzeugkasten.«

Sie standen auf und machten ihm mühsam in dem engen Wagen Platz. Er klappte den Sitz in die Höhe und nahm die Putzwolle aus dem Kasten. Dann machte er sich daran, das Loch zuzustopfen.

»Der ist danebengegangen«, sagte er, als er mit seinem Werg hantierte.

»Wer ist danebengegangen?« fragte Jane.

»Der da, wo ich zustopfe! Glatt durchs Dach gegangen, nämlich sie haben unter den Büschen gelegen und es war für sie ein verdammt schlechtes Schießen schräg nach oben. Da – sehen Sie den da,« er deutete auf einen langen Riß im Leder der Rücklehne, »wenn Sie draußen nachsehen, dann können Sie das Loch noch sehen, wo der hereingekommen ist. Das ist der, wo's ihm endgültig besorgt hat.«

»Wem besorgt?«

»Dem Polizeiinspektor vom Bezirk. Der hatte den Wagen requiriert und fuhr damit nach Ballynatray – wo die Holroyd-Smiths wohnen. Sie kennen doch die Holroyd-Smiths?«

»Nein.«

»Nanu?! Das soll sich einer vorstellen, die kennen Sie nicht? Also, was soll ich Ihnen sagen, jedenfalls ist es mal so, daß er zu denen wollte. Da haben sie ihn erwischt, ihn und den Chauffeur. Es war ein Soldat, der ihn fuhr. Der Wagen ist im Straßengraben gelandet, da haben sie zwei Stunden gelegen und sich ausgeblutet, bis sie gefunden worden sind.«

Er hatte das Loch verstopft und schob das Kissen auf den Sitz zurück. Ehe er es hinlegte, rieb er mit der Hand über das Leder. Dann betrachtete er seine Finger. Etwas zwang die beiden ebenfalls, seine Finger anzusehen.

»Na, jetzt macht's keine Flecken mehr«, sagte er. »Können sich denken, daß wir den Wagen erst mal sauber gemacht haben. Aber das Ding da war so voll Blut, daß man sich noch die ganze Woche nachher die Finger dran vollgeschmiert hat. Na also, der Regen wird jetzt wohl nicht mehr reinlaufen. Ich fahr' jetzt weiter. Wenn der Wergpfropfen nicht hält, dann rufen Sie man bloß.«

Er kroch auf seinen Platz am Steuer zurück, und sie rollten weiter in die treibenden Nebelschwaden hinein.

Stephen starrte aus dem Fenster auf die flachen, öden Felder, die grau im Regen lagen. Er schwieg lange. Und dabei war er auf der ganzen Reise von England über den Irischen Kanal nach Cork und von Cork bis Youghal geschwätzig gewesen wie ein Kind. Jane hatte ihn niemals so aufgeschlossen und mitteilsam gesehen. Er zeigte ihr die Umwelt, in der er seine Jugend verlebt hatte, mit so überschwenglicher Freude, daß es ansteckend wirkte. Sie hatten in Cork nur wenige Stunden Aufenthalt, trotzdem hatte er sich mit ihr im Fremdenauto durch die Stadt fahren lassen. Diese Fahrt war für sie so neu und so belustigend wie die Idee, auf einem Rummelplatz in der Luftschaukel zu fahren. Sie waren beide guter Laune, selbst die geschwärzten Ruinen der im Osteraufstand niedergebrannten Patrickstreet hatten Stephens Stimmung nicht beeinträchtigt. Es gehörte für ihn schon der Vergangenheit und der Geschichte an. Ein Feuer, das gelöscht worden war. Es war Sonnabend und die Straßen waren bereits voll von festlich gekleideten Menschen. Die Leute machten ihre Einkäufe zum Sonntag, als ob hier niemals von Terror und plötzlichem gewaltsamen Tod die Rede sein könnte.

Und auch im Zug auf der Fahrt bis Youghal hatte seine heitere Stimmung angehalten.

Tivoli – Fota – Little Island – er hatte ihr die Namen sämtlicher Stationen unterwegs laut vorgelesen, als ob sie unfähig sei, die Stationsschilder selbst zu entziffern. Und so war er geblieben, bis sie Youghal hinter sich gelassen hatten. Dann hatten Regen und Nebel ihre grauen Schleier über sie geworfen. Die düsteren Felder mit ihren halbzerstörten Grenzwällen aus lose übereinandergelegten Steinen erstreckten sich ringsum wie ein unendliches Gewässer. Nirgends war ein Haus zu sehen. Die paar zerstreuten Hütten in der Umgebung der Stadt waren längst vorbeigeglitten. Sie waren in eine Einöde hinausgefahren. Als sie den Wagen hatten halten lassen, um das Loch im Verdeck verstopfen zu lassen, war es plötzlich, als hätte der jugendlich angeregte Stephen, den sie vor kurzem noch neben sich gesehen hatte, nie existiert. Er schwieg beharrlich, den Blick unverwandt durchs Fenster gerichtet. Sie betrachtete ihn eindringlich, sah einen Mann, der alt geworden war, und blickte hinweg.

Wenn sie an John Madden dachte, so war es wie die Erinnerung an ein Theaterstück. Der Vorhang hatte sich bereits über dem ersten Akt gesenkt. Die wenigen Tage, die sie nach seiner Rückkehr nach Irland noch in London verbracht hatte, machten ihr den Eindruck einer Pause, in der das ganze Theater von Lichtern strahlt. In dieser Zwischenzeit hatte sie jede Einladung angenommen, die ihr zuging, war jeder gesellschaftlichen Verpflichtung getreulich nachgekommen. Wo sie auch erschien, war die Luft gesättigt mit dem Klatsch über ihre Freundschaft mit dem berüchtigten republikanischen Führer. Was sie dachten, verbarg sich hinter Geschwätz und höflichem Lächeln. Aber sie las es in den Blicken, die sie streiften. Hörte es aus dem Geflüster hinter ihrem Rücken. Es war wie das Gemurmel kritischen Gedankenaustausches in der Pause zwischen zwei Akten. Es war ihr zumute, als warte alles gespannt auf den zweiten Akt. Und nun waren die Lichter wieder ausgegangen, der Zuschauerraum in Dunkel gehüllt. Im nächsten Augenblick sollte sich der Vorhang wieder heben, und sie spielte eine Rolle unter der Regie von Kräften, die mächtiger waren als sie und die sie selbst nicht zu deuten wußte.

Alle Vorbereitungen waren getroffen. Jede Einzelheit war geregelt. Man hatte ihnen nicht das geringste Hindernis in den Weg gelegt. Die englische Landesverwaltung in Dublin hatte ihnen ihre Pässe gegeben, ohne auch nur eine Frage zu stellen. Es schien der Wille der Götter, daß dieses Stück gespielt wurde.

Es war mit geradezu erstaunlicher Leichtigkeit gelungen, Haus Ardogina zu mieten. Kräfte, von denen sie selbst zugab, daß sie von ihrer Existenz keine Ahnung hatte, waren am Werk gewesen, um den Weg zu ebnen. Es gab ihr einen Begriff von der Macht und der Vollständigkeit der Organisation, über die die Sinn-Feiner verfügten. Alles hatte sich reibungslos geordnet. Stephen hatte, wie vorausgesetzt, nicht die geringste Frage gestellt. Er selbst hatte gewünscht, in der Rolle eines unparteiischen Zuschauers Irland wiederzusehen. Er hatte ihrer Absicht, den Sommer in Irland zu verbringen, mit beinah allzu liebenswürdiger Bereitwilligkeit zugestimmt. Ohne es zu wollen, hatte sie sich darüber beinahe ein wenig gewundert. Merkte er denn gar nichts? Ließen ihn ihre Zusammenkünfte mit John Madden in London und die Rolle, die Anthony Draper, offensichtlich, dabei gespielt hatte, so gleichgültig, begriff er nicht, daß sie in Irland erneut mit John Madden zusammentreffen würde?

Aber nicht das geringste davon hatte er angedeutet.

Das einzige, was er geäußert hatte, war: »Wir beide brauchen ein bißchen Ausspannung. Dieses London erstickt dich.«

Und dann hatte er ihren Arm ergriffen – wie schon einmal – als müsse er sie durch ein dunkles Zimmer geleiten, und hatte gesagt:

»Bist du auch auf das Risiko gefaßt?«

»Was für ein Risiko?«

»Nun –« er hatte liebevoll gelächelt, und mehr als je war ihr das Rätselhafte, das ewig Rätselhafte der Neigung zum Bewußtsein gekommen, die ihn mit ihr verknüpfte – »wir werden dort drüben Ausländer sein, Ausländer aus Feindesland. Gleichgültig wie ich innerlich zu den irischen Problemen stehe, ich habe keine Fühlung mehr mit der irischen Bewegung. Sie sind dort drüben nicht geneigt, viel Zeit an Leute zu verschwenden, die die Fühlung verloren haben. Da drüben ist jetzt der Mann mit dem Gewehr in der Hand Trumpf – nicht der, der Broschüren schreibt.«

Sie hatte ihn scharf angesehen. Warum sprach er mit solchem Nachdruck von Gewehren? Wußte er etwas? Und sollte sie ihn in das Geheimnis einweihen, wenn er nichts wußte? John Madden hatte in ihren Armen gelegen. Wie war es möglich, Stephen das zu erzählen?

Ebenso wußte sie nicht, wie er zu Irland stand. »Ich bin kein Mann der Tat,« hatte er gesagt, »ich begnüge mich mit der Rolle des Zuschauers.« Würde er auch zusehen, wie sie sich in Anschläge und Verschwörungen einließ, deren Folgen nicht abzusehen waren? Man hatte Casement in London standrechtlich erschossen, was würde mit ihr geschehen? Jane Carroll im grauen Morgenlicht in einem Kasernenhof vor den Gewehrmündungen eines Exekutionskommandos war eine Vorstellung, die sie unwiderstehlich zum Lachen zwang. Welches Kleid sollte sie der Gelegenheit zu Ehren anlegen? Es war doch eine Frage, die lächerlicherweise auch gelöst werden mußte. Wer würde das Todesurteil unterzeichnen? Der König oder der Minister? Sie kannte sich in Etikettefragen dieser Art nicht aus. Vielleicht doch der Minister? Wie peinlich für den armen Mann! Wie reizend hatte er sich an jenem Abend bei der Gesellschaft ihr gegenüber gezeigt. Wie ein Galan aus dem achtzehnten Jahrhundert. Lächerlich, unglaubhaft, – und doch – es lag durchaus im Bereich der Möglichkeit.

Wie war es denkbar, Dicky auf eine solche Möglichkeit vorzubereiten. Wenn ihren Augen diese Möglichkeit in einem lächerlichen Licht erschien – für Stephen konnte es eine überwältigende Gewißheit sein.

Der Vorhang sollte sich über dem zweiten Akt erheben und es gab nicht einen, es gab tausend Gründe, aus denen es besser war, wenn Dicky nicht in den Kulissen stand in dem kritischen Augenblick, wo sie die Bühne betreten sollte.

Sie hatten Ardmore hinter sich gelassen, bogen hinter dem Postamt und der protestantischen Kirche in die Straße längs des Berges ein und waren jetzt im Begriff, die letzten zwei Meilen bis Ardogina zurückzulegen. Der Regen hatte aufgehört. Der graue Nebel blieb. Auf Janes Bitte ließ Stephen das Fenster herunter. Die scharfe, salzige Luft vom Meer her traf ihr Gesicht. Sie konnten das Salz auf der Zunge schmecken.

Sie wandte sich nach ihm um.

»Sind wir verrückt, Dicky?« sagte sie.

Wie immer, wenn eine unerwartete Frage an ihn gerichtet wurde, zog sich Stephen in wissenschaftlich-philosophische Pedanterie zurück. Er sagte:

»Wenn wir unseren Impulsen folgen, so ist es immer mehr oder weniger möglich, unsere Handlungsweise als Verrücktheit zu definieren.«

Sie passierten ein eisernes Gittertor und bogen in die Zufahrt nach Haus Ardogina ein. Das Besitztum war größer, als die bescheidene Einfahrt vermuten ließ. Ungefähr eine Viertelmeile lief der Weg durch flaches Feld. Kein einziger Baum stand am Wegrand. Aber dicht beim Haus erhob sich eine Gruppe gestutzter, immergrüner Eichen. Der Weg lief hindurch wie durch einen langen düsteren Tunnel und mündete dahinter in einen kreisrunden offenen Platz, den hohe Büsche umgaben, Kirschlorbeer, Stechpalmen und dahinter eine Kulisse von Nadelbäumen.

Die Haustür ging auf eine breite Veranda hinaus. Kaum war der Wagen vorgefahren, als Jane schon ausgestiegen war. Sie läutete.

»Es ist möglich,« sagte der Fahrer von seinem Platz aus, »daß sie da drin die Drähte rasseln hören, aber ich glaube, Sie tun besser, Sie machen die Tür auf und gehen hinein, denn 'ne Glocke ist da nicht mehr.«

Sie lächelte Stephen zu und befolgte den Rat. Die Tür war nicht verschlossen, sie öffnete sich, als Jane die Hand auf die Klinke legte, und sie trat ein.

In der Veranda stand eine Reihe Palmen, die in ihren Töpfen vertrocknet waren. Die Tür von der Veranda nach der Halle stand weit offen. Sie trat über die Schwelle und fand sich in einem geräumigen Vorraum, der durch ein Fenster auf dem ersten Treppenabsatz nur unzureichend beleuchtet war. Stephen stand dicht hinter ihr.

Er erwartete jeden Augenblick, sie ausrufen zu hören: »Aber das ist ja ganz unmöglich.«

Sie sagte nichts. Schweigend ging sie durch den Vorraum und stieg die Stufen bis zum Treppenabsatz empor. Sie riß das Fenster auf und blickte lange über die Felder hinunter nach der See, die in ihren Nebelschleiern verborgen lag.

Als der Fahrer mit dem Gepäck hereinkam, das er auf dem verschossenen türkischen Teppich in der Diele aufstapelte, drehte sie sich herum und blickte zu Stephen hinunter.

»Der unangenehme Geruch wird morgen schon nicht mehr zu spüren sein«, sagte sie und Stephen wußte, daß sie diesmal nicht gesonnen war, irgendwo Mängel anzuerkennen.

Sie kam die Treppe wieder herunter.

»Dicky,« sagte sie, »willst du dich um das Gepäck kümmern? Ich werde mich inzwischen nach Troy und seiner Frau umsehen. Vielleicht interessiert es die beiden doch, zu erfahren, daß wir eingetroffen sind.«

Sie wollte sich gerade einer Tür zuwenden, von der sie annehmen konnte, daß sie in die Haushaltungsräume führte, als diese Tür sich öffnete. Ein älterer Mann stand im Türrahmen, halb versteckt hinter ihm eine Frau, die nicht viel jünger war. Sie versperrten den Blick in den dunklen Gang hinter ihnen.

Es folgte eine scharfe gegenseitige Musterung. Sogar Stephen betrachtete die beiden neugierig. Natürlich, das war der Hausbesorger. Sean Troy. Jane wußte es sofort. Seine Augen, kleine schwarze Glasperlen, die tief in ihren Höhlen steckten, ließen Stephen los und bohrten sich in ihr Gesicht. Die Augen seiner Frau folgten getreulich.

Jane hatte aus Gründen, die sie selbst nicht näher untersucht hatte, einen warmen und herzlichen Empfang erwartet. Sie wußte, daß der alte Troy ein begeisterter Republikaner war. Es war sogar nicht ausgeschlossen, daß er über den geheimen Zweck ihrer Anwesenheit unterrichtet war. Nicht unbedingt – aber sie glaubte doch, daß John Madden, der so vieles sonst vorbereitet hatte, auch dafür gesorgt haben würde, daß man sie und Stephen mit einer gewissen freudigen Bereitwilligkeit empfing. Von einer freudigen Bereitwilligkeit war aber nicht das geringste zu merken.

Sie fühlte Sean Troys Augen auf sich ruhen. Seine Augen waren wie die Augen einer Frau, die mit wütenden Stichen ein Kleid zusammenflickt, von dem sie weiß, daß sie es gegen ihren Willen wird tragen müssen.

Die Pause, in der sie alle schweigend in der düsteren Diele standen, war an sich nicht lang, genügte aber, um Jane zu zeigen, daß sie hier nicht willkommen war. Dann sagte der alte Mann:

»Sie sind Herr und Frau Carroll, denke ich.«

Sie lächelte ihn mit dem ganzen Aufgebot ihrer zauberischen Liebenswürdigkeit an. Es war wie ein Licht, mit dem sie sich bemühte, die düstere Diele zu erleuchten.

»Könnten Sie uns etwas Tee beschaffen, ehe wir uns das Haus ansehen? Meine Zofe muß jeden Augenblick kommen. Sie hat mit dem übrigen Gepäck einen offenen Wagen nehmen müssen.«

Troy drehte sich nach seiner Frau um.

»Tee!« sagte er.

Jane empfand es wie ein Urteil, gegen das es keine Berufung gab.


 << zurück weiter >>