Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Viertes Kapitel

Sean Troy war fast an der Haustür, als Stephen aus dem Wohnzimmer kam. An der Tür, die nach den Küchenräumen hinunterführte, erschien Frau Troys bleiches Gesicht in der Dunkelheit. Der Priester folgte Stephen auf dem Fuße. Er hatte den Kopf auf die Seite gelegt. Es lag fragende Verwunderung, eine gespannte Erwartung des Kommenden, darin. Er sah aus wie ein Rabe, der einen unbekannten Wurm forschend betrachtet.

Alle drei kamen zur gleichen Zeit an der Tür an. Wie auf stumme Verabredung ließen die beiden anderen Stephen den Vortritt. Ehe er noch nach der Klinke hatte greifen können, wiederholte sich das Hämmern. Man klopfte nicht mit der Hand. Es klang, als haue jemand mit irgendeinem harten Gegenstand ungeduldig und wütend gegen die Türfüllung.

Die Tür war verschlossen und zugeriegelt. Stephen zog die Riegel zurück, drehte den Schlüssel im Schloß herum und warf die Tür weit auf. Draußen standen drei Leute. In der Dunkelheit verschmolzen sie zu einer verschwommenen Masse. Jetzt teilte sich die Masse und einer der drei trat über die Schwelle in den schwachen Lichtkreis der einzigen Lampe, die in der Halle noch brannte.

»Wem gehört dieses Haus?« fragte er.

Stephen sah vor sich das frische pausbäckige Jungensgesicht eines englischen Offiziers. Genau solche jungen Burschen hatte er während des Krieges so oft an Janes Teetisch sitzen sehen. Er mußte sich zwingen, um ein Lächeln zurückzuhalten. Es wirkte auf ihn, als sollte hier eine Komödie aufgeführt werden.

»Es wäre immerhin denkbar, daß Sie sich darüber zunächst selbst informiert hätten, ehe Sie hier anklopften«, sagte er. Er wußte nicht, sollte er ärgerlich sein oder sich amüsieren. Die nächste Bemerkung, die fiel, entschied diesen Zwiespalt restlos und endgültig.

»Ich habe gar keinen Bedarf für euern gottverdammten irischen Humor«, erwiderte der Jüngling. Er spielte mit einem Dienstrevolver, den er offen in der Hand trug. Das mußte der Gegenstand sein, mit dem er das Echo im ganzen Hause geweckt hatte. Er schien noch nicht ganz klar darüber, wozu dieser Gegenstand weiterhin verwendet werden würde.

»Sie werden entschuldigen, aber ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, daß Sie sich in Gegenwart eines Priesters befinden«, sagte Stephen.

»Was kümmert mich das, in drei Deubels Namen? Meinen Sie vielleicht, ich komme mitten in der Nacht hierher, um mir irgendeinen gottverdammten Witz zu machen?« Er schien das Wort gottverdammt zu lieben. Es half ihm, sich Luft zu machen. »Ist das Ihr Haus?«

»Augenblicklich, ja.«

»Wer sind Sie?«

»Mein Name ist Stephen Carroll.«

»Was wollen Sie mit Ihrem augenblicklich sagen?«

»Ich habe das Haus nur gemietet.«

»Für wie lange?«

»Für den ganzen Sommer. Ich bin zu meiner Erholung hier.«

Einer der Männer, die noch vor der Tür standen, lachte.

»Sie wollen sagen, daß Sie hier nicht Ihren gewöhnlichen Wohnsitz haben?«

»Ganz richtig.«

»Wie lange sind Sie schon hier?«

»Wie die Dinge liegen, bin ich gestern erst angekommen.«

»Von wo?«

»England.«

»Erwarten Sie, daß ich Ihnen das ohne weiteres glaube?«

»Angesichts des Gemütszustands, in dem Sie sich anscheinend befinden, muß ich allerdings sagen, daß ich es nicht erwarten kann, trotz alledem entspricht meine Angabe den Tatsachen.«

»Ich verbitte mir allen Unfug!« antwortete der junge Mann scharf. Er schien – und soviel Feingefühl ist lobenswert – zu merken, daß er es mit einer ihm überlegenen Intelligenz zu tun hatte. »Sie können ruhig das alles bleiben lassen und anständig auf die Fragen antworten, die ich an Sie richte. Ich bin nicht hier, um meine Zeit mit Unsinn zu vergeuden. Ich bin hier im Dienst, verstehen Sie! – und wegen einer ganz üblen Sache. Ich kann Ihnen nur sagen, je fixer Sie mir über das Bescheid sagen, was ich wissen will, desto besser ist es für Sie.«

»Soll ich meinen Paß von der Regierung in Dublin zeigen?« schlug Stephen liebenswürdig vor.

»Her damit!«

Stephen zog seine Brieftasche aus dem Rock und holte den Paß heraus. Der Offizier nahm ihn und faltete ihn auseinander. Er trat tiefer in die Halle hinein, um näher am Licht zu sein.

»Pässe werden heutzutage haufenweise gefälscht«, sagte er, bevor er noch einen Blick darauf geworfen hatte. Er legte anscheinend Wert darauf, zu zeigen, daß ihm mit Fälscherkunststücken nicht beizukommen sei. Dann sah er das Dokument flüchtig durch.

»Ihre Frau ist auch hier?«

»Jawohl.«

»Das hier ist ihre Photographie.«

»Jawohl.«

Er hob den Paß höher, um mehr Licht zu haben, und starrte Janes Bild an. Es war eine Photographie, die in aller Eile nur für diesen Paß aufgenommen worden war. Jane hatte dazu gesagt: »Wenn die Kamera schon nicht lügen kann, so sollte sie doch sich etwas mehr Takt beim Berichten der Wahrheit angewöhnen.« Trotzdem das Bild sehr wenig günstig war, war es nicht schwer zu erraten, wie der junge Mann darüber dachte. Nach einem langen Blick reichte er es Stephen zurück.

»Ich kann mich mit diesem Ding nicht begnügen«, sagte er. »Das Haus ist umstellt, und ich bin genötigt, es durchsuchen zu lassen.«

»Warum denn?«

Der Jüngling warf Stephen einen Blick zu, wie Sherlock Holmes in Person. Anscheinend rechnete er nicht mit seiner Pausbäckigkeit und täuschte sich infolgedessen über den Effekt.

»Sie wissen warum!« schnauzte er.

Vater Hanrahan trat einen Schritt näher.

»Wenn Sie erst herausgefunden haben werden, was Sie für einen Mißgriff begehen, indem Sie einen Gentleman in dieser Weise anfahren, so werden Sie, wie ich denke, auch die nötigen Worte der Entschuldigung bereit haben. Bis es so weit ist, habe ich keine Hoffnung, daß Sie Ihre Manieren ändern.«

»Ich verbitte mir Ihre Einmischung«, entgegnete der junge Mann hitzig. »Wir haben vielzuviel von Ihrer Sorte – Leute, denen das Priestergewand Deckmantel für alle möglichen Umtriebe ist. Sie beide wissen verdammt gut, daß Sie John Madden hier Unterschlupf gewährt haben, und ich kann Ihnen nur raten, ihn sofort und ohne weiteres Geschwätz auszuliefern.«

Es war, als vibriere John Maddens Name noch sekundenlang in der Diele nach, längst nachdem er ausgesprochen war. Stephen mußte sich Zwang antun, um Vater Hanrahan keinen Blick zuzuwerfen. Der alte Troy schob sich langsam der Tür zu, in der seine Frau stehengeblieben war. Noch immer sah man in dem dunklen Türrahmen nichts als den bleichen Mond ihres Gesichts. Der Offizier sah Troy wegschleichen und drehte sich auf dem Absatz um. Er fuhrwerkte mit seinem Revolver umher, wie eine nervöse Dame mit ihrem Fächer.

»Sie da! Sie werden in drei Deubels Namen hier auf dem Fleck stehenbleiben, wo Sie sind!« brüllte er. »Treten Sie dort hinüber! – Hierher! Mir gegenüber!« Nachdem er diese drei verschiedenen Befehle erteilt hatte, ohne klarzustellen, welcher befolgt werden sollte, rief er einen der Begleitsoldaten herein und befahl ihn, ein wachsames Auge auf den Alten zu haben. Troy sah sich am Arm gepackt, man schüttelte ihn, um ihm die nötige unterwürfige Haltung beizubringen. Er hörte sich mit »alter Gockel« angeredet und aufgefordert, sich's – verdammt noch mal – genau zu überlegen, ehe er noch eine Bewegung mache.

Es war das erstemal, daß es Stephen wirklich zum Bewußtsein kam, was der Krieg für die Leute bedeutete, die mitten drin stecken. Sie schienen alle drei darauf gefaßt, im nächsten Moment zu entdecken, daß sie in eine Falle gegangen waren. Ob Verfolger oder Verfolgte, es war dasselbe. Der junge Mann tat ihm beinah leid.

»Wir wissen hier nicht das geringste von John Madden«, sagte er gelassen. Er hatte eine verschwommene Vorstellung, daß es dieser Gelassenheit gelingen könne, beruhigend auf die Nerven des Offiziers zu wirken, aber während er es sagte, hatte er immer noch die Geräusche in Janes Zimmer im Ohr, den Stoß gegen die Decke, das fiebrige Sprechen, das Kratzen der Stuhlbeine auf den Fußbodenbrettern.

»Der Name scheint Ihnen aber nicht unbekannt zu sein?«

»Gewiß nicht – ganz abgesehen davon, daß Sie ihn in diesem Augenblick zweimal mir genannt haben.« Die milde Ironie dieser Bemerkung ging gänzlich verloren.

»Dann wissen Sie vielleicht auch, daß er eine fliegende Kolonne kommandiert, die in Cork und Waterford und bis Tipperary hinauf tätig ist. Seine Bande hat heute nachmittag auf der Straße von Coppoquin nach Villierstown drei von unseren Leuten umgebracht. Wahrscheinlich wollen Sie davon auch nichts gehört haben?«

»Nichts«, sagte Stephen.

»Sie wurden aus den Hecken heraus niedergeknallt. In den Rücken natürlich! Schweinebande!«

»Aber, du lieber Himmel,« sagte Vater Hanrahan, »das muß doch gute zwanzig Meilen von hier sein.«

»Mehr als zwanzig Meilen, sie haben uns in Atem gehalten beim Nachsetzen.«

»Es geht mich eigentlich nichts an,« meinte der Priester, »aber ist es nicht viel wahrscheinlicher, daß Sie ihn in Ardmore finden würden, als in einer so öden und verlassenen Gegend, wie die hier? Hier ist doch weit und breit kein Platz, wo er unterkriechen könnte.«

Der Offizier ließ ein verächtliches Schnauben hören.

»Sehr verbunden für Ihre freundliche Unterstützung«, sagte er mit so viel Sarkasmus, als einem pausbäckigen jungen Mann zu Gebote steht.

»Natürlich! Nach Ardmore würde er gehen – nicht wahr? Wo eine ganze Kompanie Seesoldaten in der Küstenwachstation liegt und wahrscheinlich nachts Patrouillen durchs Dorf schickt. Hinter Clashmore waren wir ihm dicht auf den Fersen. Sie hatten Fahrräder. Sie müssen einen Vorsprung von fünf oder sechs Meilen gehabt haben, als die Jagd begann. Hinter Pilltown sind sie in dieser Richtung abgebogen. Hören Sie mal, Herr!« Er wandte sich zu Stephen. »Ich weiß nicht, wer Sie sind, und ich habe kein Mittel in der Hand, um festzustellen, ob Ihr Paß einwandfrei ist. Falsche Pässe sind hier billig wie Brombeeren. Ich muß mich nach dem richten, was ich persönlich feststellen kann. Schön – wir haben einen von John Maddens Leuten hier auf Ihrem Grundstück gefunden. Gleich, wo Ihr Zufahrtsweg von der Straße abgeht, lag er unter einem Ginstergebüsch versteckt. Er und Madden haben auf der Flucht dauernd zusammengehalten. Die anderen haben sich nach allen Windrichtungen zerstreut. Auf Ihrem Grundstück hat er gelegen, völlig außer Atem, das Rad lag neben ihm. Natürlich wollte er nicht das geringste aussagen – bis jetzt wenigstens nicht.«

Er wandte sich zu demjenigen seiner Untergebenen, der nicht mit der Bewachung des alten Troy beschäftigt war.

»Geh raus und frage die draußen, ob sie irgend etwas gesehen haben.«

Der Mann verschwand draußen in der Dunkelheit.

Der Offizier nahm ein ledernes Etui aus der Tasche und sagte:

»Ich denke, ich stecke mir einstweilen eine Zigarette an, wenn Sie nichts dagegen haben.«

Er war ein netter Junge, der für kleine erzieherische Nachhilfen nicht unempfänglich war. Vater Hanrahans Kommentar zu seinen Manieren hatte anscheinend doch einen gewissen Eindruck gemacht. Er bot erst Stephen und dann dem Priester zu rauchen an. Beide lehnten dankend ab. Beide konnten die Erinnerung an die Geräusche im oberen Zimmer nicht abschütteln. Sie warteten, was nun geschehen würde. Frau Troy war verschwunden. Der Alte blinzelte ihnen zu. Erst dem einen, dann dem anderen. Das Petroleum in der einzigen Lampe ging zu Ende. Der Docht fing an zu kohlen. Der Geruch verbreitete sich in der Halle.

»Ich habe angeordnet, daß meine Leute sich Ihr Grundstück mal genauer ansehen«, sagte der Offizier. Er blies einen langen dünnen Rauchstrahl gegen die Lampe hinauf. »Sie denken wohl, ich vergeude meine Zeit mit Herumstehen und Reden.«

»Ich wollte gerade vorschlagen,« sagte Stephen, »daß Sie mit uns ins Wohnzimmer kommen. Da ist das Licht auch besser.«

»Ich danke vielmals, ich werde hier draußen das Weitere abwarten.« Er schien Wert darauf zu legen, dem Manne, der ihm geistig überlegen war, zu zeigen, daß er sich ebenfalls von intelligenten Beweggründen leiten ließ. »Wenn dieser Madden ins Haus gekommen ist, ohne daß Sie darum wissen,« sagte er, »ist es möglich, daß er eine Gelegenheit benutzt, um auch wieder geräuschlos zu verschwinden. Ich werde jetzt erst einmal feststellen lassen, ob er nicht da draußen irgendwo steckt. Wieso haben Sie von John Madden gehört, ehe ich seinen Namen hier genannt habe?«

»Ich hätte gedacht, daß so ziemlich jeder von ihm gehört hat.«

»In England?«

»Warum nicht?«

Der junge Mann ließ ein kurzes Lachen hören.

»Da drüben wissen sie weiß Gott nicht, was hier los ist«, sagte er mit einem Anflug von größerer Umgänglichkeit. »Die Zeitungen drüben sagen den Leuten nichts von dem, was hier vorgeht. Ich würde viel lieber noch einmal in Frankreich in einem Schützengraben stecken als hier. In Frankreich hat man doch wenigstens gewußt, woher man eine Kugel zu erwarten hatte. Diese Schwefelbande hier denkt nicht daran, sich ehrlich im offenen Kampfe zu stellen.«

»Geben wir ihnen denn Gelegenheit dazu?« fragte Stephen. »Sie können von diesen Leuten nicht erwarten, daß sie in Reih und Glied ins Feld rücken. Wenn wir keine Armee nach Irland senden wollen, können wir von ihnen auch nicht erwarten, daß sie so kämpfen, wie reguläre Heere kämpfen.«

»Sie tragen noch nicht einmal eine Uniform«, konstatierte der junge Mann mit bitterem Vorwurf.

»Die Buren im Südafrikanischen Krieg haben auch keine Uniform getragen«, sagte Stephen. »Der Gedanke ist immerhin nicht von der Hand zu weisen, daß, von allen anderen praktischen Rücksichten ganz abgesehen, sie vielleicht auch gar nicht imstande sind, sich die Ausgabe für eine Uniform zu leisten. Die Berner Konvention hat sich in der Beziehung nur um die Millionäre gekümmert, die die Vorzüge des Kriegführens zu genießen wünschten.«

»Wie kommen Sie eigentlich dazu, in dieser Weise zu reden? Ich denke, Sie sind Engländer?«

»Wie die Dinge liegen,« sagte Stephen, »habe ich durchaus nicht behauptet, ich sei Engländer – aber selbst, wenn ich Engländer wäre, würde ich mir alle Mühe geben, zu verhindern, daß dadurch meine Vernunft nachteilig beeinflußt wird.«

»Sie sind kein Engländer?«

»O nein.«

»Also Ire?«

»Carroll ist ein irischer Name.«

»Sie kennen also John Madden.«

»Ich kannte ihn, als er noch ein Junge war – vor zwanzig Jahren. Und kürzlich bin ich wieder mit ihm in London zusammengetroffen.«

»Nanu – nun hören Sie aber mal.« Der junge Mann lachte. »Das ist ein bißchen stark! Ich kann Ihnen nur sagen, daß Sie sich mit diesen Redereien durchaus keinen Gefallen erweisen.«

»Was Sie nicht sagen!«

»In London?«

»Jawohl! Wußten Sie denn nicht, daß John Madden drüben war?«

»Nee – genau so wenig wie Sie.«

Stephen lächelte ihm zu, so verständnisvoll und mitfühlend, als habe er ein Kind vor sich.

»John Madden war in London drüben«, sagte er. »Es ist ungefähr drei Wochen her. Mit einem Paß der englischen Regierung. Er hat bei mir gegessen, um an meinem Tisch mit einem Mitglied des Kabinetts zusammenzutreffen.«

»Drei Wochen?! Du lieber Himmel, ich habe vor drei Wochen in den Galteebergen, in der Nähe von Clogheen, auf ihn Jagd gemacht.«

»Es tut mir außerordentlich leid«, sagte Stephen schlicht.

Der junge Mann errötete bis zu den Haarwurzeln.

»Sie scheinen ja verflucht gut Bescheid zu wissen«, sagte er. Aber Stephen, dem zumute war, als höre er immer noch die merkwürdigen Geräusche über seinem Kopf, dachte, daß es vielleicht besser gewesen wäre, nicht von John Madden und ihrer Bekanntschaft mit ihm zu reden. In ihrer augenblicklichen Lage war es gewiß nicht zu ihrem Vorteil. Und trotzdem war es ein Ding der Unmöglichkeit, zu glauben, daß sie sich tatsächlich in irgendeiner Klemme befanden. Die Geräusche oben im Zimmer ließen sich auf die natürlichste Art von der Welt erklären. Louise war oben. Sie war es, die den Stuhl gerückt hatte.

Es mußten ihre Stimmen gewesen sein. Trotzdem wurde das Gefühl immer stärker, daß er zuviel gesagt hatte.

»Ich weiß nicht besser Bescheid, als ich Ihnen schon gesagt habe«, antwortete Stephen vorsichtig. »Wir haben John Madden in London getroffen. Wir –« unwillkürlich machte er eine kurze Pause – »haben ihn seitdem nicht wieder zu Gesicht bekommen.«

»Wußten Sie nicht, daß auf seinem Kopf ein Preis steht? – Tausend Pfund.«

»Er hat uns das erzählt, als er bei uns zu Tisch war.«

»Hat er Ihnen auch erzählt, daß er – vielleicht mit einer einzigen Ausnahme – derjenige ist, hinter dem wir am meisten her sind?«

»Ich habe nicht bemerken können, daß er sich viel darauf einbildete«, sagte Stephen.

»Einbilden?« Der Offizier lachte darüber. »Ich weiß nicht, wie es mit der Einbildung steht, aber die hier wissen, was er ihnen wert ist. Er hat mehr erfolgreiche Überfälle organisiert, als irgendein anderer von der ganzen Bande. Tatsächlich versteht er etwas von Organisation. Das muß man ihm schon lassen. Und wie denken Sie darüber, Ehrwürden?« Es war amüsant zu sehen, wie stark er von der durchdringenden Macht seines Blickes überzeugt war. »Sie kennen John Madden sehr gut, wie ich annehme.«

»Gewiß, wir kennen ihn alle«, sagte der Priester behutsam. »Als junger Mensch war John Madden jedermann südlich von Tipperary bekannt – ehe der Rummel hier losging. Er war ein glänzender Fußballspieler. Ich selbst habe ihn in einem Wettspiel für Munster spielen sehen. Und wenn sie in Dublin und am Trinity-College nicht immer nur ihren eigenen Leuten die Stange hielten, dann hätte er seinen Platz in der irischen Landesmannschaft haben müssen. Von Rechts wegen hätte es sich gewiß so gehört.«

Stephen nickte mit dem Kopf. Es steckte so viel Geschicklichkeit darin, Maddens Fähigkeiten als Sportsmann in den Vordergrund zu schieben. Auf diese Art war Vater Hanrahan der unbequemen Frage geschickt ausgewichen. Der Offizier wandte sich Sean Troy zu.

»Wie heißen Sie?«

»Sean Troy.«

»Was tun Sie hier?«

»Ich bin hier Hausbesorger seit 1919, wo die alte Dame starb.«

»Haben Sie in der Zeit, seitdem Sie hier sind, irgendwann einmal John Madden zu Gesicht bekommen?«

»Nein, das nicht.«

»Kennen Sie ihn?«

»Sozusagen. Ich habe seinen Namen öfter gehört.«

»Haben Sie heute abend nichts Auffälliges gesehen oder gehört?«

»Nicht das geringste.«

»So? Und wenn Sie was gehört hätten, dann würden Sie es wohl auch nicht sagen, was?«

»Na und ob ich gekommen wäre und dem Herrn da Bescheid gesagt hätte, wenn ich gesehen hätte, wie einer sich hier einschleichen will. Hat er vielleicht nicht das Haus gemietet und zahlt er etwa nicht die Miete dafür? Da können Sie Gift drauf nehmen, daß ich gekommen wäre und es ihm gesagt hätte.«

Nach einem erfolglosen Versuch, in Sean Troys Augen nach verborgenen Geheimnissen zu forschen, wandte sich der Offizier mit Abscheu weg.

»Die ganze Bande versteht sich aufs Lügen wie die Dragoner«, sagte er zu Stephen. »Sie stecken alle unter einer Decke und sind dabei schweigsam wie das Grab.« Er empfand den Ausdruck als besonders wirkungsvoll und wiederholte: »Schweigsam wie das Grab.«

Er warf den Zigarettenstummel in den leeren Kamin, als der Tommy, den er hinausgeschickt hatte, in der Tür erschien und stramm salutierte.

»Na, was ist los?«

»Auf dem ganzen Grundstück ist niemand zu finden, Herr Hauptmann. Wir haben das ganze Gebüsch durchsucht und niemand zu Gesicht gekriegt. Aber im oberen Stock war ein Fenster erleuchtet. Auf der Seite, die nach der See hinausgeht. Als wir unten um die Ecke kommen, auf einmal geht das Licht aus. Das ganze Haus ist jetzt dunkel, bloß im unteren Stockwerk sind noch zwei Fenster hell.«

»Die Wohnzimmerfenster«, bemerkte Stephen.

Der junge Offizier fuhr auf dem Absatz herum. Er hoffte anscheinend, Stephen aus der Fassung zu bringen.

»Und was ist mit dem Licht im ersten Stock?« fragte er.

»Das Schlafzimmer meiner Frau.«

»Ist sie oben?«

»Jawohl, sie ist kurz nach neun zu Bett gegangen. Sie nahm sich ein Buch mit und wollte noch lesen. Höchstwahrscheinlich ist sie des Lesens müde geworden und hat ihr Licht ausgelöscht, um zu schlafen. Es ist beinahe elf Uhr.«

Der junge Offizier sah sich unsicher um.

»Ich werde das Haus durchsuchen müssen«, sagte er. Er winkte den Soldaten in der Tür herein.

»Sie kommen gefälligst mit!« Dann befahl er seinem zweiten Untergebenen, ein wachsames Auge auf Sean Troy zu haben. »Sie können es zulassen, daß er sich einen Stuhl nimmt,« sagte er, »aber er darf keinen Schritt aus der Halle heraus. Ich an Ihrer Stelle würde ihm keinen Zoll weit trauen. Und schafft den Kerl, den wir erwischt haben, auch hier herein. Wir haben ihn hier besser unter Aufsicht. Wenn er hier drin ist, wird die Tür verschlossen gehalten, verstanden?«

Diese Tätigkeit sagte ihm anscheinend mehr zu, als die vorangegangenen Auseinandersetzungen mit den Zivilisten.

»Sie werden gefälligst mitkommen«, sagte er zu Stephen. In diesem Augenblick fiel sein Auge auf Vater Hanrahan, der im Begriff war, ins Wohnzimmer zurückzukehren; sein Blick nahm sofort einen Ausdruck des Mißtrauens an, der aus dem Knaben, der er eigentlich noch war, beinah einen Mann machte.

»Ich denke, Ehrwürden, Sie würden auch besser tun, mitzukommen. Ich liebe es durchaus nicht, daß sich jemand im Haus herumdrückt, ohne daß ich ihn unter Augen habe.«

So zogen die vier von Zimmer zu Zimmer. In der Küche unten fanden sie Frau Troy, die genau so harmlos und unschuldig dreinsah wie ihr Mann. Sie wurde hinaufgesandt, um sich der Gruppe in der Halle anzuschließen.

»Sie sind ja ganz außerordentlich vorsichtig«, sagte Stephen lächelnd.

»Ich sollte wohl denken, daß ich in drei Teufels Namen gelernt habe, vorsichtig zu sein. Ich habe dieses Vergnügen schon öfter genossen. Es gibt keinen Winkel, in dem sich die Kerle nicht verstecken, um einem eine blaue Bohne in den Leib zu jagen. Ins offene Feld sind sie aber nicht zu bringen.«

Die ganze Szene grenzte noch immer ans Komische. Wenigstens Stephen empfand es so. Er versuchte sich vorzustellen, was geschehen wäre, wenn vor drei Tagen, in London, irgendein Fremder ihm in dieser Weise ins Haus gefallen wäre. Als der junge Offizier sich über seine Gegner beklagte, die niemals bereit seien, sich im offenen Feld zu stellen, konnte Stephen der Versuchung nicht widerstehen, zu bemerken, daß man es schwerlich Feigheit nennen könne, wenn ein einzelner, der von acht schwerbewaffneten Leuten umstellt ist, aus jeder Deckung feuert, die sich ihm bietet, und sich weigert, aufs offene Feld herauszukommen.

»Sie reden mächtig viel zusammen, den lieben langen Tag über«, sagte der junge Mann.

»In Wirklichkeit«, sagte Stephen, ohne irgendwelche humoristische Wirkung damit zu beabsichtigen, »bin ich eigentlich ziemlich schweigsam veranlagt. Aber dies alles interessiert mich kolossal.«

»Was Sie nicht sagen – ich bin nur neugierig, wann ich heute ins Bett kommen werde. Wo führt diese Tür hin?«

Stephen hatte etwas von dem Vorhandensein von Kellerräumen gehört.

Beim Lichte einer elektrischen Taschenlaterne gingen sie alle vier die Treppe hinunter. Sie kamen aber nicht weiter als bis zur untersten Stufe. Auf dem Boden des Kellers stand das Wasser zollhoch. Der Lichtkegel der Lampe enthüllte nicht das geringste. Eine Ratte schwamm im Wasser. Sie kehrten wieder in die Diele zurück.

Da erst – sie waren bereits auf dem Weg ins obere Stockwerk – tauchte in Stephen die Frage auf, ob es dem Offizier etwa einfallen werde, Zutritt zu Janes Schlafzimmer zu verlangen. Bis zu diesem Augenblick war es ihm als etwas erschienen, was gar nicht in Frage kommen könne. Wenn der übereifrige junge Mensch etwa darauf verfallen sollte, so würde Stephen sagen: »Das ist das Schlafzimmer meiner Frau.« Und bei den jungen Leuten, die er früher in Uniform an Janes Teetisch getroffen hatte, hätte das absolut genügt. Ganz gewiß aber um elf Uhr nachts!

Aber als sie auf dem Weg von der Kellertür zur Treppe durch die Diele gekommen waren, hatte Stephen einen Blick auf den Gefangenen werfen können, der inzwischen hereingebracht worden war. Sein Gesicht, seine Kleider, seine Haltung verrieten furchtbarste, grenzenlose Erschöpfung. Seine Augen starrten stumpf und hoffnungslos vor sich hin. Als er den Priester erblickte, machte er eine leichte Bewegung, und ein Lichtschein flackerte unsicher über sein Gesicht, eine Art Begrüßung für den Mann, der ihm vielleicht oft geholfen hatte, der aber diesmal nicht in der Lage war, ihm beizustehen. Vater Hanrahan war im Begriff, zu ihm hinzugehen. Der Offizier packte ihn schleunigst am Ärmel.

»Sie bleiben gefälligst hier!« sagte er scharf. »Es besteht gar kein Grund für Sie, mit ihm zu reden, solange ich Ihnen nicht dazu dienstlich Veranlassung gebe.«

»Dienstlich? Was meinen Sie damit?«

In Stephens Ohren hatte das Wort einen bösen Klang. Auf eine derartige Entwicklung der Dinge war er innerlich nicht vorbereitet. Er wußte nicht, ob er seinen Sinnen trauen sollte.

»Das werden Sie noch rasch genug erfahren, Sie brauchen gar nicht lange zu warten«, antwortete der pausbäckige Jüngling, und damit wanderten sie alle vier ins obere Stockwerk hinauf.

Das war der Augenblick, in dem Stephen anfing zu zweifeln, ob für diesen unternehmenden jungen Mann Janes Schlafzimmer ein unantastbares Heiligtum darstellen werde. Und je stärker diese Zweifel wurden, um so unheilverkündender hallten in seinem Gedächtnis die merkwürdigen Geräusche nach, die er vor kurzem durch die Decke in Janes Zimmer gehört hatte. Was würde geschehen, wenn tatsächlich John Madden durch das Licht angelockt in dieses Zimmer geflohen war und dort entdeckt wurde? Was würden sie mit Jane anstellen? Es war eine lächerliche Frage. Sie würden ihr nichts tun, sie konnten ihr nichts tun. Gefängnis? Unsinn! Und trotzdem – man lebte hier im Belagerungszustand. Jeder, der einem Flüchtigen Obdach bot, setzte sich der Gefahr aus, standrechtlich erschossen zu werden.

»Was werden Sie mit dem jungen Mann da unten anfangen?« fragte er.

Der Offizier fuhr herum und sah ihn an.

»Nun, was meinen Sie?« entgegnete er.

»Ich weiß es nicht.«

»Was würden Sie mit einem Meuchelmörder anstellen, der drei Ihrer Kameraden kaltblütig niedergeknallt hat?«

»Wollen Sie sagen, daß er erschossen werden soll?«

»Ich habe Ihre Redereien jetzt gründlich satt«, sagte der Offizier. »Ich kann Ihnen nur empfehlen, Ihre Zunge etwas zu hüten. Die Art, wie Sie reden, gefällt mir durchaus nicht, und es könnte Ihnen sehr leicht passieren, daß ich Sie als verdächtig in Gewahrsam nehme. Sie scheinen mir auch ein unsicherer Kantonist.«

»Sagt Ihnen der Name Stephen Carroll gar nichts?« fragte Vater Hanrahan.

»Nicht das geringste.«

»Das bedaure ich außerordentlich.«

»Sehr verbunden! Ich habe durchaus keine Verwendung für Ihr Mitgefühl. Merken Sie sich das! Wenn ihr hier alle miteinander euch nicht in acht nehmt, werde ich die ganze Bande verhaften. Ich habe einen verflucht ungünstigen Eindruck von allem, was ich hier sehe, und ich habe begründeten Anlaß, anzunehmen, daß John Madden sich hier im Hause versteckt hält. Wenn ich auch nur die geringste Spur davon feststelle, daß ihr den Versuch gemacht habt, ihn hier zu verstecken, so wird es für euch verdammt ungemütlich werden. Wo ist das Zimmer, in dem vorhin Licht gebrannt hat?«

Sie standen jetzt in einem viereckigen Vorraum, auf den von allen Seiten Türen mündeten. Ein Gang führte in den anderen Flügel des Hauses hinüber.

»Welche Tür ist es?« wiederholte er. »Ich wünsche festzustellen, warum das Licht plötzlich ausgelöscht worden ist.«

»Ich habe Ihnen schon gesagt, daß meine Frau im Bett noch gelesen hat. Wahrscheinlich war das gerade der Augenblick, als sie schlafen wollte.«

»Welche Tür?«

»Diese hier.«

»Wollen Sie, bitte, anklopfen und Ihrer Frau mitteilen, daß wir das Zimmer durchsuchen müssen.«

Vater Hanrahan schien der Situation mehr gewachsen zu sein als Stephen.

»Sie können doch nicht einfach eine Dame so spät in der Nacht aufwecken!« sagte er. Es klang überzeugender, als Stephen es für möglich gehalten hätte. »Es ist doch klar, daß, wenn sie irgend etwas Verdächtiges gehört hätte, sie das Haus längst alarmiert hätte – schon ehe Sie da waren.«

Der Offizier nahm davon überhaupt keine Notiz.

»Klopfen Sie, bitte!« sagte er.

Da standen sie im Zwielicht und starrten einander an. Von der Lampe in der Diele unten stieg der penetrante Geruch des schwelenden Dochtes zu ihnen empor. Der Soldat unten hatte bis jetzt seinen Gefangenen mit allerlei abgebrochenen, hämischen Bemerkungen traktiert. Plötzlich schwieg er. Schweigen herrschte. Das ganze Haus schwieg. Das einzige, was Stephen hörte, waren die Geräusche, in seiner Erinnerung unheimlich lebendig. Das gedämpfte Geräusch von Stimmen, das Knarren eines Stuhlbeins über den Fußboden. Früher einmal hatte er konstatiert, er sei kein Mann der Tat. Und so stand er jetzt und wußte nicht, was er tun sollte. Der Offizier trat an die Tür heran und klopfte.

Sie hörten Jane drinnen sagen: »Was ist los?«

»Hier ist Hauptmann Barrow vom Staffordshire-Regiment. Ich bedaure die Störung außerordentlich, aber ich muß Ihr Zimmer betreten, um es zu durchsuchen.«

Er wartete aus einer gewissen Rücksicht heraus noch einen Augenblick. Stephen überraschte sich selbst bei dem Gedanken, ob der Kerl es je versucht hätte, wenn er die Photographie auf dem Paß nicht gesehen hätte. Dann öffnete Barrow die Tür und ging hinein.


 << zurück weiter >>