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Fünftes Kapitel

Stephen wußte, daß an diesem Abend etwas geschehen war. Er war kein Psychologe, sondern ein Historiker. Er wartete auf die Ereignisse, die eintreten würden.

Er schloß die Tür hinter seinen Gästen, drehte den Schlüssel im Schloß und schob den Riegel vor. In Janes Salon schien noch Licht zu sein. Er öffnete die Tür, um es auszuschalten, da sah er, daß Jane noch da war. Sie saß in ihrem Armstuhl, dessen hohe Lehne sie fast verbarg. Eine Stehlampe warf ihr mattes Licht auf sie. Sie lag in die Kissen zurückgelehnt, noch im Mantel, den sie halb von den entblößten Schultern gestreift hatte. Sie starrte in die letzte Glut im Kamin. Sie mußte gehört haben, wie er eintrat. Er blieb stehen und wartete, dann sagte er:

»Das ist heute schon das zweitemal, daß ich mir einbildete, du bist schon im Bett.«

Sie blickte zu ihm auf und lächelte. Es überraschte ihn. Ein Lächeln hatte er nicht erwartet.

»Wie häßlich von mir,« sagte sie, »daß ich dir dauernd Enttäuschungen bereite.«

Ein Lachen war in ihrer Stimme, und eine Liebkosung schwang darin. Und dann etwas, was unendlich fern war von ihm. Er kannte es schon so lange. In den sechs Jahren, die sie nun verheiratet waren, hatte er gelernt, darauf zu achten.

Sie pflegte ihn Dicky zu nennen. Es war eine drollige Verdrehung seines wirklichen Namens. Sie hatte ihn damit geneckt, als er um sie, das zwanzigjährige Mädchen, warb. Sie rief ihn auch in diesem Augenblick so, als er an der Tür stand und zu ihr hinblickte.

»Komm her zu mir, Dicky«, sagte sie.

Er ging auf ihren Stuhl zu. Als stehe er im Begriff, einen langen Marsch anzutreten, dessen Ziel zu erreichen er niemals hoffen durfte. Wenn sie liebevoll war, wie eben jetzt, war sie weiter von ihm entfernt denn je. Er stützte sich mit dem Arm auf den Kamin und sah auf sie herab.

»Du warst sehr beredt heute abend«, begann sie.

Was sollte kommen? Er hatte nicht die Begabung der Intuition, aber in ihrer Nähe packte ihn manchmal etwas wie Vorahnung.

»Ich habe dich niemals so über Irland reden hören wie heute«, sagte Jane.

»Hättest du mir denn zugehört?«

»Früher nicht.«

»Und jetzt ja?«

Sie nickte bejahend, mehr als einmal, aber nur das erstemal geschah es als Antwort auf seine Frage. Als ob sie sich zwänge, aus einem Traume aufzuwachen, sagte sie:

»Ich hatte keinen Begriff von den Vorgängen da drüben in Irland. Niemals habe ich gewußt, daß das alles so echt und voller Leben ist. Von all den Leuten, die in den letzten Jahren zu dir gekommen sind, dachte ich immer, sie wären nichts weiter als seelische Krüppel. Sie sind's nicht, sie sind menschlich, unglaublich menschlich. So menschlich, daß wir zu zivilisiert geworden sind, um sie zu verstehen. Ist denn überhaupt Zivilisation etwas Erstrebenswertes, Dicky?«

»Zivilisation ist ausgezeichnet bis zu einer gewissen Grenze«, sagte er. »Zu guter Letzt macht sie sich selbst zunichte. Der Mensch ist ein Wesen voll schöpferischer Lust. Zivilisation treibt ihn dazu, so viel zu schaffen, daß schließlich seine eigenen Schöpfungen ihn einengen und behindern. Das ist das Ende.«

»Und in Irland? Und diese Greuel – wenn Leute in ihren Betten erschossen werden – wenn man sie aus dem Hinterhalt mordet?«

Er versuchte es ihr zu erklären, indem er darauf hinwies, daß auch der Mensch noch ein wildes Tier sei. »Wirkte es nicht wie ein Scherz, wie sie heute sich über die Greuel in Irland aufregten?«

»Sie übertreiben, nicht wahr?«

»Nein, nicht ein bißchen. Aber eines freilich tun sie, sie geben den Dingen eine falsche Auslegung. Madden hat unendlich recht mit dem, was er sagte. Das ist ein Krieg. Wenn aber ein Mensch kämpfen muß, dann greift er nach den Waffen, die er erwischen kann, er hascht nach jeder Möglichkeit, die ihm den Sieg sichert. Ritterlichkeit? Darin war uns allen das Mittelalter weit voraus. Heutzutage ist das taktische Grundprinzip zu Lande und zur See, den Feind in einer ungünstigen Lage zu überrumpeln, und die Mittel dazu liefern bezahlte Spione. Wie Madden sagte: Wenn der Einbrecher im Haus ist, kann man nicht warten, bis man sich den letzten und modernsten Revolver besorgt hat. Man nimmt den Schürhaken und treibt den Kerl damit hinaus, und nur ein Heuchler, ein sentimentaler Winsler, wird das barbarisch nennen.«

Es bedurfte nur des kalten Luftzugs von Stephens Logik, um den Funken voll zu entfachen, den John Madden in Jane entzündet hatte. Je leidenschaftsloser er sprach, um so heißer schlugen die Flammen in ihr empor. Er hatte am Kamin gelehnt und in die Asche zu seinen Füßen geblickt. Jetzt drehte er sich um und sah sie an – eine andere Frau saß in ihrem Sessel. Ihre Schönheit war plötzlich etwas, das lebte. Ein Ding, das brannte und die Macht besaß, zu verzehren. Wenn er je das Gefühl gehabt hatte, dies alles gehöre ihm, dann wußte er jetzt, in diesem Augenblick, daß es seinen Händen entglitten war.

Er hatte nicht das Gefühl des Verlustes, empfand keine Herzenspein.

Das einzige, was ihm gegenwärtig war, angesichts des neuen Lichts, das aus ihren Augen strahlte, war Mitgefühl, beklemmendes, allgewaltiges Leid um das, was ihr bevorstand. Plötzlich trat er neben ihren Stuhl, faßte ihre Hand und hielt sie fest in seiner eigenen, als müsse er sie durch ein dunkles Zimmer führen.

Fragend blickte sie zu ihm auf. Wiederum, wie so oft in letzter Zeit, entzog sich das, was in ihm vorging, ihrem Verständnis. Sie kannte ihn, seine Charaktereigentümlichkeiten, seine drolligen Gewohnheiten. Niemand kannte ihn besser. Um Stephens Freunde zu erheitern und ihn selbst lachen zu hören, erzählte sie komische Geschichten über ihn, die von feiner Beobachtung zeugten. Aber ein Etwas in ihm – sollte man es seine eigentliche Seele nennen? – entzog sich ihr, hielt sie zum Narren. Vielleicht nur deshalb, weil er selbst so wenig von sich wußte.

»Warum tust du das?« fragte sie.

Und wenn sein Leben davon abhinge, er hätte es nicht sagen können!

»Ich dachte nur daran,« sagte er, »wie du hier so ganz allein gesessen hast.«

Und das war fast die Wahrheit.

»Erzähl' mir etwas über diesen John Madden«, sagte sie. »Was bedeutet er für die ganze Bewegung?«

»So viel wie jeder andere, so lange er noch lebt und atmet. Wenn er am Leben bleibt, kann es sein, daß er einmal Präsident der irischen Republik wird. Wenn er stirbt, wird er in den Legendenkreis der irischen Geschichte eingehen, und in der Gegend, wo er geboren wurde, werden sie von ihm erzählen, wenn sie abends am Feuer sitzen. Geh zu Bett, Kind, es ist beinah ein Uhr. Jedenfalls kannst du jetzt sagen, daß du John Madden gesehen hast. Er ist hier fortgestürzt, als wären die Furien hinter ihm her. Wenn er sich eingebildet hat, daß es ihm gelingen könnte, einen Weg zum Verständnis dieser Leute zu finden, so tut er mir leid.«

»Er hat es wirklich geglaubt«, sagte sie.

»Meinst du? – Nun, Gott steh' ihm bei. – Ich muß bekennen, daß ich wenig Hoffnung hatte, es könnte etwas bei dieser Zusammenkunft herauskommen. Auf jeden Fall aber hat Madden auf mich überzeugender gewirkt als seine Gegner. Aber es läßt sich nichts voraussagen. Du warst nicht mehr dabei, wie er sie überreden wollte, ihn mit dem Premierminister zusammenzubringen. Das war sein Aktionsplan. Denn er merkte, mit den Leuten, die er vor sich hatte, würde er nicht einen Finger breit vorwärts kommen. Sie waren bald an einem Punkt angelangt, wo er sah, daß hier jedes weitere Wort überflüssig war. Er, schnellte vom Tisch hoch. Du hast ja seine Augen gesehen.«

Sie sah sie jetzt noch.

»Sie waren wie schwarzes Feuer. ›Nun, meine Herren,‹ sagte er, und seine Stimme klang wie Eis, ›wenn Sie darauf bestehen, daß es auch weiterhin Mord sein soll, statt Krieg, dann liegt die Schuld mehr bei Ihnen als bei uns. Sie wissen, daß das Gesetz nicht nur den Begriff des Mörders kennt, sondern auch den des Komplizen.‹ Und damit ging er geradeswegs zur Tür. Ich begleitete ihn hinaus. Er hätte dir gerne gute Nacht gesagt.«

»Was sagte er?«

Stephen war Jane gefolgt, als sie in ihr Schlafzimmer hinaufging. Er sah ihr zu und fragte sich selbst, ob auch um andere Frauen, selbst in Augenblicken wie diesen, die Atmosphäre des Geheimnisvollen unversehrt bestehen bliebe. Seine Gedanken flüsterten ihm zu, er habe nicht das Recht, hier zu sitzen. Er war sich bewußt, daß die einzige Rechtfertigung für seine Anwesenheit ihr Interesse an seiner Erzählung war.

Jetzt war sie dabei, ihr Haar aufzulösen. Es rollte wie ein blauschwarzes Gewitter über ihre Schultern. Sie sah sich nach ihm um, die Frage auf den Lippen, und irgendwie verriet ihm ihr Blick, was an diesem Abend geschehen war. Hatte sie heute den Sinn ihrer Schönheit gefunden?

»Was sagte er?« wiederholte sie, und er hörte seine eigene Antwort.

»Er äußerte ein sehr förmliches Bedauern, sonst nichts.«

»Du bist ein großartiger Historiker, Dicky,« sagte sie und lachte, »aber zum Reporter hast du keine Begabung.«

»Hast du denn mehr erwartet?«

Sie kam zu ihm hinüber, nahm sein Gesicht in beide Hände.

»Eine Frau gibt den nackten Tatsachen noch ein Gewand«, sagte sie. »Gute Nacht, Lieber. Ich habe die Überzeugung, daß du genau das berichtet hast, was er sagte, und daß er seine besten gesellschaftlichen Formen dazu angezogen hatte.«

»Warum bist du enttäuscht?«

»Oh, ich weiß es nicht. Du schilderst mir, wie er euch alle da im Zimmer sitzenläßt – wie er sich offen und frei zum Mord bekennt – ein Preis ist auf seinen Kopf gesetzt – und er geht zurück nach drüben, wie ein Mann, den der Engel mit dem feurigen Schwert hinausweist. Und dann – ein formelles Bedauern, daß er sich nicht gebührend von der Gastgeberin verabschieden kann. Was für ein Gegensatz! Gib mir einen Kuß.«

Sie beugte sich über ihn, legte ihre Arme um seinen Nacken. Niemals hatte er sie so fern, so unerreichbar empfunden.

»Ich liebe dich, Dicky«, sagte sie.

»Ich weiß es«, antwortete er.

»Und wirst du es immer wissen?«

»Ich denke.«

»Gute Nacht denn.«

Sie küßte ihn mit einer Zärtlichkeit, als läge er auf seinem letzten Lager und ihre Lippen würden ihn nie mehr berühren.

Er stand auf und ging in sein Zimmer.


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