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25. Kopenhagen

Bekümmernis im Herzen, ging ich zum Steuermann.

»Herr Steuermann, nun können wir heute doch nicht nach Kopenhagen kommen, nicht wahr?«

»Sei unbesorgt, Nonni«, tröstete er mich, »in weniger als einer Stunde sind wir mitten in der Stadt.«

Erstaunt schaute ich ihn an.

»Aber wir können ja nicht mehr weitersegeln; der Wind hat ganz aufgehört.«

Statt zu antworten, zeigte er nach der Stadt hin.

»Siehst du dort auf dem Wasser das kleine, schwarze Ding, das so rasch auf uns zukommt?«

Suchend schaute ich in die gezeigte Richtung und entdeckte ein kleines, schwarzes Dampfboot, das von der Stadt her kam.

Es fuhr so schnell, daß der weiße Schaum vorn am Bug hoch in die Luft spritzte.

»Kommt das zu uns?«

»Jawohl, das ist ein Bugsierboot.«

»Ein Bugsierboot? Was hat das vor?«

»Es will uns in den Hafen von Kopenhagen ziehen.«

»O, das ist ja ausgezeichnet!« rief ich freudig aus und lief vorn bis zum Bug, um die Ankunft des Bugsierbootes abzuwarten.

Ich war sehr neugierig, wie die ersten echten Kopenhagener aussehen würden. Die waren gewiß äußerst fein gekleidet, wahrscheinlich in Samt und Seide.

Aber wie groß war meine Enttäuschung, als das Boot neben unserem Schiff anlegte!

Die Besatzung bestand aus vier Männern, die alle schmutzige Arbeitskleider trugen. Hände und Gesicht waren schwarz von Kohlenrauch.

Ihnen gegenüber sahen wir wie Prinzen aus.

Das ist doch sonderbar! dachte ich.

Aber ich fand keine Zeit, länger darüber nachzugrübeln. Ich mußte ja sehen, was diese schwarzen Kopenhagener machen würden.

Sie grüßten ganz kurz.

Dann befestigten sie ein armdickes Tau an unserem Schiff und gaben dem Boote die Richtung zur Stadt hin.

Bald darauf dampften sie ab.

Das Tau wurde sehr straff, und unser Schiff folgte sofort in dem Kielwasser des kleinen Schleppdampfers.

Ha! das ging aber anders voran als einige Tage vorher an der norwegischen Küste, wo wir unser Schiff gegen den Strom auf die See hinaus ruderten!

Um alles besser sehen zu können, war ich oben auf die Schiffswinde geklettert.

Unsere ganze Besatzung, lauter schmucke dänische Seeleute, war auf Deck.

Alsbald hörte ich hinter mir die Stimme des Steuermanns:

»So, so, Nonni? Du stehst ja da hoch oben wie Olaf Tryggvason in der Seeschlacht bei Svöldr!«

»Ja, Herr Steuermann; aber jetzt halten wir auch unsern Einzug in Kopenhagen!«

Doch ich war nicht recht aufgelegt zum Spaßen; ich war allzusehr von den Wunderdingen eingenommen, die jetzt kommen sollten.

Da war zunächst die Festung Trekroner, dann Lynetten, dann die Lange Linie.

Ich rief Owe. Gleich kam er zu mir. Ich faßte seine Hand und hielt sie fest.

Reden konnte ich kein Wort; ich war vor Entzücken wie geistesabwesend.

Dieses Durcheinander von Schiffen, großen und kleinen! Diese Unzahl von Booten, die in dem weiten Hafen hin und her fuhren! Dieses Gewimmel von Menschen, die am Strande auf und ab gingen! Diese unendlichen Reihen von hohen Häusern, die wie Bergketten dastanden!

Alles dies war für mich weit neuer, als es für einen Kopenhagener Knaben wäre, wenn er plötzlich mitten in die Straßen von Peking versetzt würde.

Es kam mir vor, als wäre ich vom Mond herab in eine Zauberwelt gefallen.

Ich wußte nicht mehr, ob ich wach war oder träumte.

Wahrlich, das war ein Märchen, ein bezauberndes, unbeschreibliches Märchen! –

Indes drehten wir nach rechts in den Neuhafen (Nyhavn) ein.

Bisher hatte ich all die fremden Schiffe, die nach Akureyri kamen, in dem weiten Fjord frei vor Anker liegen sehen.

Hier aber war dicht vor mir ein Wald von unzähligen Masten. Nie hatte ich so viele Schiffe auf so engem Räume gesehen.

Und alle diese Schiffe waren am Land festgebunden, eng zusammengepfercht, eingesperrt wie Schafe in einer Hürde.

Welch seltsamer Anblick!

Auch wir erhielten unsern Platz mitten zwischen den vielen andern Schiffen, die schon vor unserer Ankunft dalagen.

Unser kleiner »Valdemar von Rönne« verschwand vollständig zwischen den unzähligen Fahrzeugen, von denen die meisten bedeutend größer waren.

Von dem freien, unendlichen Meer war nichts mehr zu sehen.

Wir lagen hier wie eingeklemmt in einem tiefen, engen Tale mit gewaltigen Häuserreihen auf allen Seiten.

Diese Häuser mit ihren rauchenden Schornsteinen kamen mir vor wie lauter kleine feuerspeiende Berge, deren es ja in meiner Heimat so viele gibt.

Ich war sprachlos vor Erstaunen.

Und beständig strömten neue seltsame Eindrücke auf mich ein, so daß es mir zuletzt förmlich in den Ohren summte.

Ich warf einen Blick über den Neuhafen hinaus zur Stadt hin.

Plötzlich fuhr ich zusammen.

Was war das doch für eine merkwürdige Erscheinung auf diesen mit viereckigen Steinen belegten Plätzen und Straßen?

Eine ganze Menge mächtiger Kasten rollte wie um die Wette mit ohrenbetäubendem Lärm unaufhörlich hin und her und fuhr in beängstigender Verwirrung durcheinander.

Was mochte dieser Hexentanz bedeuten? Ich konnte es nicht verstehen. Noch nie hatte ich Ähnliches gesehen.

Endlich brachte ich einige Fragen hervor.

»Aber Owe, was ist doch das für ein sonderbares Durcheinanderlaufen dort? Ist es ein Spiel? Oder sind die Leute verrückt geworden?«

»Das ist der gewöhnliche Straßenverkehr, Nonni. Es sind Wagen; die einen fahren hin, die andern her.«

»Wagen sind das, Owe?«

»Ja, Nonni, das sind Wagen.«

»O, dann werden es die Wagen sein, von denen ich schon oft gelesen habe! – Sehen die so aus? Das hätte ich wahrhaftig nicht geglaubt. Ich habe noch nie einen gesehen. – Aber ich verstehe nicht, wie die so schnell daherfahren können, ohne daß sie zusammenstoßen. Sie fahren ja in schrecklicher Unordnung durcheinander.«

»O nein, Nonni, das sieht nur so aus. Jeder fährt in eine ganz bestimmte Richtung. Das ist alles wohl geordnet. Es gibt fast nie einen Zusammenstoß.«

Owe sprach, wie wenn dies alles ganz selbstverständlich wäre.

Und doch, wie sonderbar war es für mich! Ich mochte das seltsame Schauspiel betrachten, wie ich wollte, ich konnte es nicht fassen.

Aber nicht lange, da legte ich ihm wieder eine neue Frage vor.

»Owe, weshalb laufen da so viele Leute umher? Wohin wollen die alle?«

Owe mußte lachen über meine kindliche Einfalt und antwortete:

»Das ist wieder der gewöhnliche Verkehr. So ist es in allen großen Städten, wo viele Leute auf den Straßen gehen.«

So sprachen wir noch eine Zeitlang über Verschiedenes hin und her. Owe erklärte mir dies und jenes, was sonst für mich ein unlösbares Rätsel geblieben wäre. Zuletzt sagte er:

»So, jetzt ist unser Schiff am Kai festgebunden und die Landungsbrücke zurechtgelegt. Willst du nicht etwas ans Land gehen?«

»Ach nein, Owe, noch nicht. Ich fürchte, es möchte mir da in dem Durcheinander schlimm gehen. Das sieht ja alles ganz lebensgefährlich aus.«

Owe lachte.

»Dann bleib noch hier, Nonni, und sieh dich weiter vom Deck aus um; ich muß jetzt an meine Arbeit.«

Owe ging, und ich betrachtete nun allein das Leben auf der nächsten Straße bei unserem Schiff.

Da kam ein Knabe über die Straße herangelaufen.

Er blieb bei unserem Schiff stehen und besah sich das neuangekommene fremde Fahrzeug.

»Valdemar – von – Rönne« las er langsam den Namen und sagte ihn ein paarmal laut vor sich hin.

Als er auf mich aufmerksam wurde, grüßte er und nickte mir freundlich zu.

Ich grüßte wieder.

Der Knabe sah gutmütig und freundlich aus.

Jetzt auf einmal bekam ich Mut und Lust, ans Land zu gehen.

Ich überwand meine letzten Bedenken und ging, freilich noch etwas zaudernd und zaghaft, über die Landungsbrücke.

Zum erstenmal setzte ich meinen Fuß auf dänischen Boden!

Schritt für Schritt näherte ich mich dem Knaben, blieb in einiger Entfernung vor ihm stehen und schaute ihn an.

»Guten Tag!« sagte er. »Wo kommst du her?«

»Ich komme von Island.«

Der Knabe machte große Augen.

»Von Island kommst du?«

»Ja, ich komme direkt von Island.«

»Weshalb bist du denn nach Island gereist?«

»Ich bin gar nicht dahin gereist. Ich bin dort geboren.«

»Wie? Du bist auf Island geboren?«

Er verschlang mich fast mit seinen Augen.

»Dann bist du ja ein Isländer!«

»Natürlich.«

»Nein, das hätte ich doch nicht geglaubt. Ich habe noch nie einen Isländer gesehen. – Aber sag mir nun die Wahrheit: Bist du wirklich ein Isländer?«

»Ja, das bin ich.«

Der Knabe sah mich immer noch verdutzt an.

Doch plötzlich wandte er sich um, steckte zwei Finger in den Mund und pfiff ein paarmal laut. Dann rief er zu einigen Knaben hinüber, die auf der Straße spielten:

»Karl, Knud, Sören, Olaf, Erik, Kai, Ulf, Axel, kommt schnell hierher!

»Und ihr auch«, rief er zu einer andern Gruppe, »Rolf, Harald, Helge, Ubbe, Elof, Eskil!« – es wollte mit den vielen fremd klingenden Namen gar kein Ende nehmen – »kommt doch her alle zusammen! Etwas ganz Neues!«

»Was ist denn los?« riefen einige von den Knaben.

»Ein Isländer! Kommt! Hier ist er!«

Einen Augenblick schauten die Knaben einander an. Dann kamen sie wie eine Schar kleiner Küchlein auf uns zugelaufen.

Wie ich sie kommen sah, wurde ich so verlegen, daß ich im Nu mich umdrehte und über die Landungsbrücke wieder auf Deck sprang.

Oben angelangt, machte ich mir Vorwürfe über mein Benehmen. Warum denn davonlaufen wie eine furchtsame kleine Maus?

Ich wußte selbst nicht, wie ich mir vorkam, und schämte mich nun eigentlich.

Aber war es nicht doch besser, daß ich wieder auf unser Schiff ging? Ich fühlte mich da doch sicherer und heimischer.

Um mich her war ja alles so neu und so fremd, und ich fürchtete beinah, der unbekannte, unheimliche Zauber, der von allen Seiten auf mich eindrängte, möchte mich förmlich verschlingen.

Die Knaben standen noch immer auf der Straße in der Nähe des Schiffes.

Der Kleine hatte es hochwichtig und erzählte seinen Kameraden, der Knabe dort sei ein wirklicher Isländer.

»Ein Isländer!« riefen die Knaben wie aus einem Munde.

»Bist du noch gescheit, Börge?« fiel ein älterer Junge ein. »Das ist kein Isländer. So junge isländische Knaben kommen nie hierher. Er ist vielleicht ein Schwede oder Norweger. – Aber ein Isländer? Wie kannst du doch so etwas glauben!«

»Doch, er ist ein Isländer. Er hat es selbst gesagt.«

»Zu wem denn?«

»Zu mir, eben vorher.«

»Und du hast dir den Bären aufbinden lassen?« spottete der Große.

Nach und nach kamen immer mehr Knaben herbei, und alle schauten nur auf mich.

»Was gibt's denn da?« hörte ich bald den einen, bald den andern fragen, und einer antwortete darauf:

»O, der Börge bildet sich ein, der Kleine da oben auf dem Schiff sei ein Isländer.«

Ich konnte gar nicht begreifen, was die Knaben so Merkwürdiges daran fanden, daß ich ein Isländer sei.

Mir wurde allmählich etwas unheimlich zumute.

Und wie ich sah, daß der Auflauf beständig größer wurde, flüchtete ich in die Kajüte, um mich dort in Sicherheit zu bringen.

Unterwegs begegnete ich Owe.

»Wo gehst du hin, Nonni?« fragte er.

»In die Kajüte.«

»Aber warum denn?«

»Weil die Knaben mich so anschauen. Vielleicht sind auch Straßenjungen dabei.«

Owe warf einen Kennerblick auf die Knaben und sagte:

»Nein, Nonni, es sind keine Straßenjungen unter ihnen. Das sind lauter ordentliche Knaben. Du brauchst nicht bange zu sein. Geh nur zu ihnen; sie werden dir nichts zuleid tun.«

Um das Urteil Owes zu prüfen, musterte ich die Jungen auch noch mit einem halbscheuen Blick, und eigentümlich: jetzt schienen sie mir alle artig und freundlich.

Meine Furcht war verschwunden, und ich bekam Lust, Owes Rat zu befolgen.

Doch wagte ich nicht recht, allein hinunterzugehen.

»Willst du nicht mitkommen«, bat ich ihn, »und im Anfang dabei sein?«

»Wenn du das wünschest, gern«, erwiderte er.

Owe begleitete mich über die Landungsbrücke.

Als wir auf die Straße kamen, wurden die Knaben feierlich still.

Der größere von ihnen fing zuerst an zu reden und sagte zu Owe:

»Ist es wahr, ist der Junge da ein Isländer?«

»Ja, das ist er.«

»Ist das wirklich wahr?«

»Ja, ganz bestimmt. Wir kommen direkt von Island, und ich bin selbst in seinem Hause gewesen und habe mit seiner Mutter gesprochen.«

»Nun, dann ist es auch wahr«, meinten alle.

Jetzt stellten sie sich im Kreise um uns herum.

»Aber ich muß nun wieder an Bord gehen«, sagte Owe zu mir; »bleib du nur hier und spiele mit den Knaben.«

Owe ging, und ich blieb.

Die Knaben betrachteten mich vom Kopf bis zu den Füßen. Und ich stand vor ihnen, noch immer befangen, suchte sie aber mit festem Blicke anzuschauen.

Plötzlich rief einer:

»Da schaut mal, was für Schuhe er anhat!«

Im Nu waren aller Augen auf meine kleinen isländischen Schaflederschuhe gerichtet.

»Was hast du da an deinen Füßen?« fragte der Große. »Hat man solche Schuhe auf Island?«

»Ja«, antwortete ich verlegen und suchte vergebens meine Füße zu verbergen.

Jetzt wurde über meine Fußbekleidung hin und her gesprochen, bis keiner mehr etwas darüber zu sagen wußte.

Dann fragte wieder einer:

»Wie heißt du?«

»Ich heiße Nonni.«

»Nonni?« wiederholten sie und schauten einander an.

»Das ist aber ein sonderbarer Name«, bemerkte einer, »den habe ich noch nie gehört.«

»Es muß wohl ein isländischer Name sein«, meinte ein anderer; »er lautet gar nicht dänisch.«

»Natürlich«, nahm ein Dritter das Wort, »die Isländer müssen doch ihre eigenen Namen haben.«

Um nicht die ganze Zeit schweigend dazustehen, redete ich sie an:

»Und wie heißt ihr?«

Der Große antwortete:

»Ich heiße Ragnar.«

Dann nannte er mir die Namen der andern, indem er auf jeden mit dem Finger zeigte:

»Der dort heißt Knud, und der Sören, und der da Olaf, und der heißt Aage, der Erik, der Torben, und der Ulf, und der Ubbe, und der Kai, und der Axel, und der Elof, und der Harald, und der …«

So stellte er mir einen um den andern vor. Die Namen der übrigen habe ich vergessen.

Wie seltsam klingen doch die Namen dieser Knaben! dachte ich bei mir selbst.

Ragnar wandte sich wieder zu mir:

»Hör, Nonni, willst du nicht mit uns spielen?«

»O ja, sehr gern.«

»Was für ein Spiel kannst du denn?«

»Ich kann nur isländische Spiele.«

»Das habe ich mir gedacht. Und wir können nur dänische. – Kannst du Bockspringen?«

»Was ist das?«

»Weißt du das nicht einmal?«

»Nein, das Spiel kenne ich nicht.«

»Gut, dann wollen wir es dir zeigen.«

Im Augenblick hatten die Knaben sich in einer Linie hintereinander aufgestellt.

Knud mußte den »Bock« machen.

Er stellte sich, gebückt und die Hände auf die Knie gestützt, einige Schritte weiter vorn hin.

Dann sprangen der Reihe nach alle mit gespreizten Beinen und mit beiden Händen sich auf Knuds Rücken werfend über ihn weg.

Wie lebhaft und begeistert das zuging!

Ich paßte genau auf und hatte großen Spaß daran.

»Nun spring du auch, Nonni!« riefen sie alle, als sie fertig waren, und ruhten nicht, bis ich folgte.

Ich nahm einen ordentlichen Anlauf, sprang auf den »Bock«, und – plumps! flogen wir beide aufs Pflaster.

Alle lachten laut auf.

»Habe ich dir weh getan?« fragte ich den kleinen Knud.

»O! was denkst du denn! Im Gegenteil!« antwortete er und lachte gerade hinaus. Es sollte, glaube ich, ein Witz sein.

»Da braucht man nicht zu lachen«, wies Ragnar die andern zurecht. »Nonni hat eben das Bockspringen noch nicht gelernt.«

Damit faßte er mich bei der Hand und führte mich an einen der dicken Holzpfähle, woran die Schiffe festgebunden werden. Sie ragten ein paar Fuß hoch aus dem Pflaster hervor.

»So, jetzt will ich es dich lehren, Nonni«, sagte er. »Dieser Bock fällt nicht um.«

Dann übte er mich an den Pfählen ein, und in fünf Minuten konnte ich das Bockspringen gerade so gut wie die andern.

Nun war alle Verlegenheit fort, und ich fühlte mich bald ganz heimisch bei den Knaben.

Als wir eine Zeitlang so gespielt hatten, lief die ganze Schar plötzlich in eine anstoßende Straße, und ich mit hintendrein.

Da bot sich mir ein Anblick, der mir angst und bang machte.

Ich stand zum erstenmal ganz in der Nähe eines jener Fuhrwerke, die mich vorher auf dem Schiff von weitem schon in so gewaltiges Erstaunen versetzt hatten.

Es war ein großer Frachtwagen.

Jetzt erst sah ich die fürchterlichen Riesentiere, die davor gespannt waren.

Ich erschrak dermaßen, daß ich in meiner Angst zu einem Knaben lief und mich fest an ihn klammerte.

»Was ist denn los, Nonni?« fragte er verwundert.

Ich zeigte auf die zwei großen Pferde.

Der Knabe konnte meine Furcht nicht begreifen.

»Hast du denn früher noch nie ein Pferd gesehen?«

»Nein, so ungeheure Tiere habe ich nie gesehen.«

Der Knabe lachte, stellte sich vor das eine Pferd hin und patschte ihm mit der Hand auf die Brust.

Ich war erstaunt über seinen Mut und über die Gutmütigkeit des gewaltigen Tieres.

Es biß nicht und schlug nicht aus, sondern sah uns ganz sanftmütig mit seinen großen Augen an.

»Gibt es denn in Island keine Pferde?«

»Doch, sehr viele; aber sie sind nicht halb so groß wie diese.«

Noch lang betrachtete ich aufmerksam die riesigen Pferde, und meine Furcht vor ihnen schwand nach und nach vollständig. –

Ich ging mit meinen Kameraden noch ein Stück Weges, da begegnete mir ein neues Wunder.

Es kam eine alte Frau auf uns zu. Sie trug zwei große Körbe, an jedem Arm einen.

In den Körben lag eine Menge prachtvoller Kugeln, ungefähr von der Größe eines Handballes. Sie glänzten in den schönsten roten und gelben Farben.

Was konnte das wohl sein?

Ich blieb stehen, zeigte auf die Körbe und sagte zu meinem Begleiter:

»Was sind denn das für Bälle?«

Der Knabe schaute mich verwundert an und sagte:

»Aber Nonni, das sind doch keine Bälle! Das sind doch Äpfel! Hast du denn noch nie Äpfel gesehen?«

»Äpfel! – Sind das Äpfel?«

»Ja, kennst du wirklich keinen Apfel?«

»Nein ich habe noch nie Äpfel gesehen. Ich kenne sie nur von der Biblischen Geschichte. – Sind das also Äpfel, wie sie Adam und Eva im Paradies gegessen haben?«

»Ja, natürlich!«

»Was macht denn die Frau damit?«

»Sie verkauft sie.«

»Verkauft man wirklich Äpfel hier auf der Straße?«

»Selbstverständlich, Nonni! Ist denn daran etwas so Merkwürdiges?«

»Ja, das ist mir ganz neu.«

Und in der Tat, ich konnte es einfach nicht begreifen.

Äpfel! – Das muß doch das Kostbarste sein, was man sich denken kann.

Ich sah diese Frucht für etwas Wunderbares und Heiliges an und verstand nicht, wie eine alte Frau sie öffentlich auf der Straße umhertragen und gar noch verkaufen konnte!

Sollte man wirklich Äpfel von derselben Art wie die des Paradieses verkaufen? – Das kam mir vor wie eine Entheiligung.

»Willst du dir nicht einen kaufen?« sagte der Knabe mit einem einladenden Blick zu dem Korbe hinüber.

»Ich weiß nicht, ob ich so viel Geld habe. Die sind wohl sehr teuer.«

»O nein, jetzt sind sie nicht teuer.«

»Kostet einer mehr als einen Taler?«

Der Knabe lachte und rief die Frau her.

Sie kam sofort auf uns zu, nahm zwei der schönsten Äpfel aus dem Korbe und bot sie uns zum Kaufe an.

Der Knabe sah mich an, und ich verstand, daß ich bezahlen sollte.

Etwas zögernd nahm ich meinen Geldbeutel aus der Tasche, gab der Frau einen Taler und hielt mich bereit, noch mehr zu zahlen, wenn sie es verlangte.

Sie reichte mir die beiden Äpfel, nahm den Taler zwischen die Zähne und gab mir zu meiner Verwunderung eine ganze Anzahl Geldstücke zurück.

Ich zählte nach und entdeckte, nicht wenig erstaunt, daß ich fast all mein Geld wiederbekommen hatte. Es fehlten nur einige Pfennige daran.

»Kosten sie denn nicht mehr?« fragte ich.

»Nein, Kleiner«, antwortete die Frau und ging weiter.

Ich steckte die Äpfel vorsichtig in die Tasche.

Wie wenn ich wunder was für Schätze erobert hätte, begab ich mich ganz feierlich gestimmt sofort auf den Weg zum Schiffe zurück, nicht rechts und nicht links schauend.

Gleich stieg ich in die Kajüte hinab. Sie war leer. Ich schloß sorgfältig die Tür und setzte mich an den Tisch.

Dann nahm ich die Äpfel aus der Tasche und betrachtete sie lange.

Wie schön sahen sie doch aus!

Ich konnte begreifen, daß Eva beim Anblick so köstlicher Früchte in Versuchung geriet.

Zum erstenmal in meinem Leben sollte ich nun einen Apfel essen!

Ich nahm mein Taschenmesser und schnitt ein Stück ab.

Ein erwartungsvoller Augenblick!

Dann steckte ich es in den Mund –

Aber ach! wie war ich enttäuscht!

Kaum hatte das Stück meine Zunge berührt, da fühlte ich einen solchen Widerwillen, daß ich es schnell wieder aus dem Munde nahm.

Der Geschmack ekelte mich förmlich.

Ich machte einen neuen Versuch mit dem andern Apfel, und wieder war es das gleiche.

Nein, das hätte ich doch nicht gedacht.

Aber daran mußte ich glauben: Äpfel waren für mich ungenießbar.

Oder mußte man sie vielleicht anders essen, als ich es tat?

Ich steckte Äpfel und Messer in die Tasche und ging auf Deck.

Da begegnete mir mein Freund, der Matrose, mit dem kranken Bein.

»Ah! Nonni, bist du da! Gut, daß ich dich treffe. Gerade wollte ich dich aufsuchen und glaubte schon, du wärest vielleicht ans Land gegangen. Ich habe nämlich etwas für dich gekauft.«

»Sie sind doch allzu gut«, antwortete ich; »hoffentlich haben Sie meinetwegen nicht zu viel Geld ausgegeben.«

»Nein, das habe ich nicht: es ist nur eine Kleinigkeit.«

Ich mußte nun mit ihm nach vorn gehen.

Dort lag auf einem Stuhl eine große Düte. Er nahm sie und sagte:

»Schau, Nonni. Du warst während meiner Krankheit immer so gut gegen mich. Nun bitte ich dich, nimm diese kleine Gabe als Zeichen meiner Dankbarkeit.«

Er überreichte mir die Düte. Sie war voll von – Äpfeln und Birnen!

Ich war ganz gerührt von der Aufmerksamkeit des guten Mannes und hütete mich wohl, ihm etwas von meinen Kostproben in der Kajüte zu erzählen. Nein, das durfte ich nicht.

Ich tat also, was sich geziemte, und dankte ihm von Herzen.

»Ich habe gerade Äpfel und Birnen gekauft«, erklärte er mir, »weil sie gesund sind, und weil Knaben sie immer gern essen.«

Man denke sich meine Verlegenheit!

Ich mußte mich ordentlich zusammennehmen, daß er nichts merkte.

»Tausendmal Dank!« wiederholte ich öfters und drückte ihm die Hand.

Schließlich hatte ich nur noch eine Furcht: er möchte mich auffordern, von den Äpfeln und Birnen gleich zu essen.

Um dem vorzubeugen, sagte ich:

»Ich will jetzt mit den schönen Früchten ans Land gehen, und ich werde wohl bald keine mehr davon haben.«

»Ja, tu das, mein lieber Nonni«, antwortete der gute Matrose arglos, und die Freude strahlte aus seinen treuherzigen Augen.

Es war mir leid, so an ihm handeln zu müssen; aber ich tat es ja nur, um ihn nicht zu betrüben.

Mein Plan war schon gefaßt: ich wollte den Inhalt der Düte an meine Spielkameraden verteilen.

Auf der Straße begegnete ich den andern Matrosen, die eben aus der Stadt zurückkehrten.

»Sieh, da kommt ja unser kleiner Isländer!« riefen sie mir freundlichst entgegen.

Und kaum daß ich mich versah, füllten sie mir mit größter Freigebigkeit alle meine Taschen mit – Äpfeln und Birnen!

Ich dankte auch ihnen für ihre wirklich rührende Liebenswürdigkeit und eilte dann, schwer beladen mit den »leckern« Früchten, in die nächste Straße, wo die Knaben sich noch tummelten.

Wie aus einer Kehle schrien sie alle, als sie mich erblickten:

»Der Isländer! Nonni! Nonni! komm her!«

Gleich rief ich ihnen zu:

»Mögt ihr gern Äpfel?«

»O ja!« erwiderten sie freudig, und im Nu war ich von ungefähr einem Dutzend Knaben umringt.

Ich begann auszuteilen.

»Aber jeder nur einen!« rief ich, da ich bemerkte, daß einige, die ihren Teil schon erhalten hatten, zum zweitenmal die Hand herstreckten. »Nachher gibt's mehr!«

Da klatschte Ragnar, dem sie, wie mir schien, alle gehorchten, in die Hände und rief:

»Ordnung!«

Dann kommandierte er:

»Alle in einer Reihe hintereinander!«

Die Knaben stellten sich unter vielen Puffen und Stößen auf.

Ich mußte mich mit meinen Geschenken vor die lange Reihe hinstellen.

»Jetzt tritt jeder zu Nonni hin«, befahl Ragnar, »aber einzeln und erst dann, wenn ich ihn beim Namen rufe. – Habt ihr verstanden?«

»Ja!« erscholl es zurück, und die fröhlichen kleinen Knaben stampften vor Ungeduld und froher Erwartung mit den Füßen.

Nun begann die Verteilung in schönster Ordnung.

»Elof!« rief Ragnar.

Und Elof ging zu mir her. Er bekam einen Apfel, sagte Tak! (»Dank«) und machte noch dazu eine rasche Verbeugung mit dem Kopfe.

»Borge!« rief Ragnar weiter.

Borge trat vor und tat genau so wie Elof.

»Ulf!« – »Ubbe!« – »Eskil!« – »Helge!« – »Rolf!« – »Kai!« – »Axel!« – – –

Und zuletzt kam Ragnar selbst.

Die lebhafte Schar war still geworden. Sie waren ja alle eifrig mit dem Verspeisen meiner Äpfel beschäftigt.

Ich gab genau acht, wie sie die Früchte aßen.

Keiner nahm ein Messer; jeder biß einfach von seinem Apfel herunter, und im Handumdrehen waren sie fertig.

»Sind sie gut?« fragte ich.

»Und wie! Dank schön, Nonni, dank schön!«

Ich hatte eine Anzahl Äpfel übrig und gab noch mal jedem einen.

Die letzten behielt ich für Owe.

Dann kamen die Birnen an die Reihe.

Ich versuchte eine und machte es jetzt genau wie die Knaben.

Aber es half nichts; ich mußte auch sie fortwerfen wie vorher die Äpfel.

Einer der Knaben sah es und fragte:

»Warum ißt du deine Birne nicht?«

»Sie schmeckt mir nicht.«

»Warum denn nicht?«

»Das weiß ich selbst nicht.«

»Magst du denn Äpfel und Birnen überhaupt nicht?«

»Nein. Ich habe noch nie einen Apfel oder eine Birne gegessen.«

Die Knaben schauten sich erstaunt an.

»Gibt es denn auf Island kein Obst?«

»Nein.«

»Ja dann!« –

Nun gab ich den Knaben auch fast alle meine Birnen.

Nachdem alles verspeist war, sagte Ragnar:

»Jetzt müssen wir aber dem Isländer auch etwas geben.«

»Ja, das ist wahr«, stimmten alle bei.

»Ißt du gern Kuchen?« fragte er.

»O ja.«

»Napoleonskuchen?«

»Den kenne ich nicht.«

»Komm, ich will dir einen zeigen.«

Er führte mich, die andern natürlich alle hintendrein, zu einer Konditorei und zeigte mir im Schaufenster einen Kuchen, der aus mehreren Schichten bestand und dazwischen mit Creme, Zucker und Eingemachtem gefüllt war.

Mir lief das Wasser im Munde zusammen.

»Nun, was meinst du von dem?«

»Der scheint mir sehr gut zu sein.«

»Sollen wir ihm nicht einen Napoleonskuchen kaufen?«

»Ja, einen Napoleonskuchen!« riefen alle durcheinander.

»Gut, dann wollen wir einsammeln.«

Bald hatte Ragnar zehn Pfennige beisammen, ging mit mir in den Laden und kaufte ein Stück Napoleonskuchen.

Als wir wieder draußen waren, wollte ich, den Kuchen sorgfältig in der Hand tragend, gleich aufs Schiff gehen.

Da drangen aber einige von den Knaben in mich, ihn doch gleich zu essen.

Ich widerstand der Versuchung nicht lange und folgte ihrem Rat.

»Nun, wie schmeckt er?«

»Großartig! Noch nie habe ich so was Feines gegessen.«

»Napoleonskuchen sind aber auch die besten!« meinte ein Kleiner.

Bald merkte ich, daß einige von den Jüngeren auch gern solche Kuchen hätten. Großmütig sagte ich daher zu der ganzen Schar:

»Wollt ihr auch Napoleonskuchen haben? Ich kaufe jedem einen.«

»Ja, Nonni, tu das!« baten die Kleinsten.

»Nein, nein!« rief einer, der ungefähr so alt war wie ich und Harald hieß, »tu das nicht, Nonni.«

»Schämt euch doch«, sagte er dann zu den andern; »erst hat er uns alle seine Äpfel und Birnen gegeben, und nun soll er noch Kuchen für uns kaufen? Ihr solltet euch schämen, so was zu verlangen.«

»Nein, Nonni«, wandte er sich an mich, »du darfst nichts für uns kaufen.«

»Ja, der Harald hat recht«, stimmten ihm die Größeren bei.

Harald nahm mich nun beiseite und sagte:

»Nonni, so etwas darfst du nie tun. Du mußt dein Geld behalten. Meine Eltern sagen immer, kleine Knaben dürfen nicht so Geld ausgeben, das sei gefährlich, besonders hier in Kopenhagen.

»Im Sommer war auch ein fremder Knabe hier. Er war ungefähr so groß wie du und kam auch auf einem kleinen Schiff.

»Der hatte drei Taler in seinem Geldbeutel und gab sie alle in zwei Tagen für Näschereien aus.«

»Ist das möglich, Harald?«

»Ja, Nonni. Und dann hatte er gar nichts mehr.«

Ich mußte staunen, wie klug der Junge sprach, und schaute fast mit Ehrfurcht zu ihm auf.

Eine Weile noch plauderten wir miteinander, dann aber war es Zeit für mich geworden.

Ich dankte Harald herzlich für seinen guten Rat und nahm Abschied von dem lieben, guten Knaben.

Auf dem ganzen Weg zum Schiff dachte ich über seine Worte nach.

Es kam mir vor, als hätte Gott mir gerade jetzt, wo ich so allein auf mich gestellt war, diesen Knaben als Schutzengel geschickt, damit ich durch seine Hilfe mich in acht nehme vor einem Fehler, den ich ohne seine Warnung gewiß nicht beachtet hätte.

An Bord suchte ich zuerst Owe auf. Er war, wie gewöhnlich, in der Kambüse.

»Nonni«, redete er mich an, als ich zur Tür hineintrat, »du hast ja noch gar nicht zu Mittag gegessen. Es ist höchste Zeit, daß du etwas ißt.«

Und in wehmütigem Tone fügte er hinzu:

»Das wird dein letztes Mittagessen an Bord sein.«

Auch ich wurde bei diesem Gedanken beinah traurig.

»Aber es ist doch eigentlich sonderbar«, sagte ich zu Owe, »ich fühle heute noch gar keinen Hunger.«

»Das kann ich gut verstehen; das kommt daher, weil du heute so viel Neues erlebst. Aber es ist dennoch besser, du ißt etwas. Ich werde dir das Mittagessen gleich in die Kajüte bringen.«

»Du bist sehr freundlich, Owe. – Aber erlaube mir eine Frage:

»Bist du Freund von Äpfeln und Birnen?«

»Ja, das bin ich.«

»Gut, da habe ich dir einige mitgebracht.«

Ich leerte meine Taschen und schenkte ihm alles Obst, das ich noch hatte.

»Aber etwas mußt du für dich behalten«, wehrte er.

»Nein, ich kann nichts davon essen.«

Owe wunderte sich darüber ebenso wie vorher die Knaben.

Nun erzählte ich ihm meine Erlebnisse.

Als ich zuletzt davon sprach, was Harald getan und welchen guten Rat er mir gegeben habe, traten Owe Tränen in die Augen, und er sagte:

»Was muß doch das für ein guter und braver Junge sein!«

Auch mir wurde es weich ums Herz, und ich ging in die Kajüte hinab.

Gleich darauf brachte Owe das Essen.

Als ich fertig war, kam Kapitän Foß.

»Wie? du ißt jetzt erst zu Mittag! Es ist ja schon bald Zeit zum Abendessen!«

»Ich habe nicht ans Essen gedacht, Herr Kapitän. Ich habe mich die ganze Zeit so gut unterhalten.«

Lächelnd gab er zur Antwort:

»Freilich, es ist ja das erstemal, daß du in Kopenhagen bist. – Aber sag mal, Nonni, hast du deine Sachen zusammengepackt und den Koffer gerichtet?«

»Jawohl, Herr Kapitän.«

»Gut, dann lasse ich ihn noch heute abend in deine zukünftige Wohnung in der Stadt bringen. Sie ist nicht weit von hier.«

»So, ist sie in der Nähe?«

»Ja, in der ersten Straße, am Neuen Königsmarkt (Kongens Nytorv), kaum fünf Minuten weit. Dort wohnt der Präfekt Grüder, bei dem du bis zu deiner Fahrt nach Frankreich bleiben sollst.«

»Wissen Sie, wie lange das dauern wird?«

»Nein, das weiß ich nicht. Aber es wird gewiß eine gute Zeit dauern; denn Frankreich ist förmlich überschwemmt von deutschen Truppen. Solange Krieg ist, kannst du nicht reisen.«

»Wie lange, glauben Sie, wird der Krieg noch dauern?«

»Das ist schwer zu sagen, mein Junge. Es hat Kriege gegeben von hundert, von dreißig, von sieben Jahren. Doch wir wollen hoffen, daß es zwischen Frankreich und Preußen nicht so lange gehen wird.«

Bei diesen Worten wurde ich sehr nachdenklich.

Der Kapitän merkte es und sagte:

»Sei ohne Sorge, Nonni. Es ist allerdings möglich, daß du etwa ein Jahr in Kopenhagen bleiben mußt; aber das ist kein großes Unglück.«

»Nein, das glaube ich auch nicht, Herr Kapitän. Bis jetzt gefällt mir Kopenhagen sehr gut, besonders die Knaben; die sind so freundlich gegen mich.«

»So? bist du schon bei ihnen gewesen?«

»O! ich habe mit ihnen Bock gesprungen, und dann habe ich ihnen Äpfel gegeben, und sie haben mir einen Napoleonskuchen gekauft!«

»Einen Napoleonskuchen?« sagte der Kapitän und lachte. »Das ist ja ganz großartig! Da glaube ich freilich, daß du die Knaben in dein Herz geschlossen hast und ganz Kopenhagen mit.«

Dann aber fuhr er in etwas ernstem Tone fort:

»Diese Nacht, Nonni, wirst du noch hier auf dem Schiffe schlafen. Morgen früh bringe ich dich dann zu Herrn Gisli Brynjúlfsson draußen bei den Seen. Zu ihm sollst du ja zuerst gehen. Er wird dich dann zu dem Präfekten in der Breitstraße (Bredgade) führen.

»So, und jetzt laß es dir noch gut gefallen hier«, schloß er und ging.

Ich blieb unten und hatte mir bald einen Zeitvertreib ausgedacht.

Ich nahm meine Papiere hervor und setzte mein Tagebuch fort.

Erst warf ich einen flüchtigen Blick auf die vielen Seiten, die ich schon während meiner langen Seereise geschrieben hatte; dann schrieb ich bis zum Abend weiter.

Die Erlebnisse des letzten Tages schilderte ich so:

Kopenhagen, Oktober 1870;
denn ich bin nun schon in Kopenhagen.

Meine liebe Mutter!

Du kannst dir gar nicht denken, welch große Dinge ich heute gesehen und gehört habe.

Ich getraue es mir fast nicht zu erzählen; denn du wirst mir vielleicht nicht glauben.

Liebe Mutter! Es ist so großartig, daß ich nicht weiß, womit ich anfangen soll.

Alles, was ich in den Abenteuern von »Tausendundeine Nacht« gelesen, ist nichts im Vergleich mit dem, was ich heute gesehen habe.

Jetzt habe ich Dänemark gesehen. Es ist viel schöner, als ich mir vorgestellt hatte.

Und Kopenhagen ist viel größer, als ich geglaubt hatte; und es sind weit mehr Menschen und Pferde darin, als ich gedacht hatte, und auch weit mehr Wagen.

Und dann sind da so viele Kinder, besonders Knaben, daß man von ihnen gleich umringt wird, wenn man ans Land kommt.

Und fast alle Knaben hier sind von meinem Alter oder auch etwas jünger als ich.

Und die haben ganz andere Namen als bei uns. Und alles übrige ist hier anders als bei uns.

Ich will dir einige dieser Namen hier aufschreiben: Alf und Ulf, Kai und Rolf, Elof, Ubbe, Borge, Tage, Frede, Frode, Skjold, Mogens, Egede, Viggo, Henning und Svend.

Dann hat auch jeder noch einen andern Namen, aber davon habe ich nur das letzte Ende behalten können, weil es bei allen dasselbe ist. Es heißt »sen«.

Vor dem »sen« kommt aber fast immer Han, Jan oder Jen, Jörgen, Rasmus oder Sören.

Und das ist alles, was ich von den Namen habe behalten können.

Und diese Knaben gehen gar nicht in die Schule, sondern spielen die ganze Zeit auf der Straße und wissen doch viel mehr als ich.

Und hier gibt es keine unartigen Kinder, ausgenommen die Straßenjungen, aber die habe ich noch nicht gesehen; denn alle Kinder sind so gut und freundlich, und sie haben mich Bockspringen gelehrt.

Dies ist ein dänisches Spiel, das alle Knaben hier können.

Und sie gaben mir einen Napoleonskuchen, den ich auf der Straße verspeisen mußte.

Da dachte ich an dich, liebe Mutter; denn ich wollte gern, daß du ihn geschmeckt hättest, er war nämlich sehr gut.

Und ein Knabe hat mir guten Rat gegeben und sagte, ich sollte sparsam und nicht naschhaft sein; und er war doch nicht älter als ich. Aber er war auch ein sehr guter Knabe, so daß Owe die Tränen in den Augen standen, als er es hörte. Dieser gute Knabe heißt Harald.

Und dann habe ich Äpfel und Birnen gegessen und mußte sie gleich wieder ausspeien; denn sie schmeckten wie rohe Kartoffeln, die man in Tinte getaucht hat, und die Knaben sagten, ich sei noch nicht daran gewöhnt, mit der Zeit würde es aber schon noch kommen.

Sie waren alle daran gewöhnt und konnten sie essen wie nichts.

Wenn man die dänischen Knaben Äpfel und Birnen essen sieht, so glaubt man, daß sie gut schmecken. Nur wenn ich sie esse, schmecken sie schlecht.

Die Leute sind hier nicht größer als in Island, und viele haben hohe, seidene Hüte auf.

Aber die Pferde sind hier viel, viel größer als auf Island. Ich fürchtete mich ganz, als ich sie zum erstenmal sah.

Aber trotzdem tun sie einem nichts, und die Knaben haben gar keine Angst vor ihnen, und ich jetzt fast auch nicht mehr.

Meine liebe Mutter! Nun sehe ich, daß ich vergessen habe, dir den Anfang zu erzählen.

Und das kommt daher, weil ich die ganze Zeit an Kopenhagen denken muß.

Denn das ist das Merkwürdigste von allem, was ich bis jetzt in meinem Leben gesehen habe.

Jetzt will ich dir also den Anfang erzählen; das war heute morgen.

Wir fuhren in den Öresund hinein. Und da sah ich Kronborg. Es war sehr groß und hatte Türme, die hoch über die Wolken ragten.

Und Owe zeigte mir die Kanonen, womit die Dänen früher alle Schiffe in den Grund bohrten, die keinen Zoll bezahlen wollten. Und jeden Tag waren es viele.

Aber das Schönste von allem im Öresund sind die Buchenwälder, die bis ans Wasser hin wachsen.

Ich dachte, es müßten wohl viele Räuber und Gespenster in den tiefen Wäldern sein, und Zwerge in den Steinen und allerlei Kobolde in den Höhlen.

Und ich dachte, es müßte lustig sein, dort abends zu gehen und in der Ferne ein Licht zu sehen und zu einer Hütte zu kommen und die Nacht bei einem Räuber zuzubringen, wie es in den Räubergeschichten steht.

Aber mach dir nur keine Angst, liebe Mutter, ich werde mich diesen Gefahren nicht aussetzen.

Das Leben in den Häusern am Strande ist herrlich.

Da wächst alles, was man braucht, auf der Erde und auf den Bäumen. Da braucht keiner was zu tun. Man kann den ganzen Tag spielen und lustig sein.

Als wir weiter in den Öresund kamen, sahen wir auch den Hügel im Tiergarten, wo Tag und Nacht gespielt wird auf allen Musikinstrumenten, die es gibt, und dazu wird auf Trommeln geschlagen und mit Kanonen geschossen.

Alle Leute von Kopenhagen kommen dahin, um die Musik zu hören.

Die sind auch reich. Sie brauchen nicht zu arbeiten und können sich Tag und Nacht belustigen.

So hat einer der Matrosen mir erzählt.

Als wir vorbeisegelten, glaubte ich deutlich die Musik und das Schießen zu hören.

Kurz darauf sah ich zum erstenmal Kopenhagen.

Und weißt du, wie es anfangs aussah? Wie lauter Rauch und Nebel mit Türmen oben drüber.

Das kommt von den vielen Häusern in der Stadt. Aber Owe sagte, das sehe nur so aus.

Und dann kam ein Dampfboot von Kopenhagen und zog uns nach der Stadt.

Ich stand vorn am Bugspriet. Die Matrosen standen hinter mir auf Deck.

Am Hafen war alles schwarz von Menschen und Pferden und Hunden, denn alle wollten uns anschauen, wie wir hineingeschleppt wurden.

Die Matrosen waren deshalb auch in ihren besten Kleidern, wie wenn sie zu einem Hochzeitsfeste gefahren wären.

Das Schiff wurde bis mitten in die Stadt gezogen und in einem Kanal festgebunden. Der Kanal heißt Nyhavn.

Und rund um uns herum sind ganze Reihen von Häusern, so groß wie Berge, und sie rauchen alle wie Vulkane.

Wir liegen wie in einer Bergkluft. Man sieht kein Land mehr und kein Gras und keine Blumen und keine Bäche und Flüsse, sondern nur Himmel und Häuser und viele flache Steine zwischen den Häuserreihen.

In den Straßen wimmelt es von Menschen, Pferden und Hunden. Aber es sind keine Schafe und Kühe da, denn es wächst kein Gras auf den Straßen …

 

So ging es weiter.

Als ich mich endlich ganz müde geschrieben hatte, trat Owe in die Kajütentür und sagte:

»Nonni, willst du nicht mit mir und einem Matrosen in die Stadt gehen?«

»Sehr gern«, erwiderte ich und packte alle meine Papiere zusammen.

Dann nahm ich meine Mütze und ging mit Owe auf Deck, wo der Matrose auf uns wartete.

Die Straßenlaternen waren schon lange angezündet.

Ich sollte jetzt einen kleinen Begriff von Kopenhagen bei Nacht bekommen.

Wir gingen über die Landungsbrücke und wandten uns links zur Stadt hin.

Als wir zur ersten Laterne kamen, sagte Owe:

»Siehst du jetzt, Nonni, daß das Licht da ohne Docht brennt?«

Ich blieb stehen und schaute zu der brennenden Gasflamme hinauf.

»Nein, das ist doch nicht möglich«, sagte ich. »Es ist gewiß ein Docht da, ich kann ihn nur von unten nicht sehen.«

Da packte mich der Matrose und hob mich in die Höhe.

»Stell dich auf meine Schultern«, sagte er, »und sieh dir mal genau die Flamme an, die aus dem Röhrchen kommt.«

Ich faßte mit beiden Händen den Laternenpfahl, setzte die Füße auf die Schultern des Matrosen und kam so bis ans Licht.

Nun sah ich aber genau zu. Und wirklich, es war so, wie man mir gesagt hatte.

»Ja, Sie haben recht; es ist kein Docht da.«

Dann setzte der Matrose mich wieder auf den Boden.

Dieses Licht war für mich eine große Merkwürdigkeit, ja das reinste Wunder.

Wir gingen weiter und kamen zu einem großen Platz.

Hier blieb der Matrose stehen; denn es war ein dichtes Gedränge, und viele Menschen strömten aus einer breiten Seitenstraße zur Rechten.

»Wie heißt dieser Platz?« fragte ich.

»Das ist der Neue Königsmarkt, der Mittelpunkt von ganz Kopenhagen«, antwortete der Matrose.

Kaum hatte er dies gesagt, da kam aus der Straße ein anderes Wunder.

Das Ding glich einem gewaltigen, länglichen Kasten, und es sah aus, wie wenn es aus lauter glänzendem Kristall gebaut gewesen wäre.

Er warf so grelle Lichtstrahlen nach allen Seiten, daß ich fast geblendet wurde, und drinnen saß eine Menge Herren und Damen.

Man hörte nur ein schwaches Läuten, sonst glitt der Kasten lautlos an uns vorüber wie ein Boot, das auf dem Wasser fährt.

Ich konnte mir gar nicht denken, was das sei.

Bestürzt schmiegte ich mich ganz nah an den Matrosen und hielt mich an seinem Arme fest.

Aber schon war auch die strahlende Erscheinung vorbei und zwischen den Menschen auf dem großen Platz verschwunden.

Mir pochte das Herz, und ganz außer mir, fragte ich den Matrosen:

»Um Gottes willen, was war doch das?«

»Ich glaube gar, Nonni, du hast Angst bekommen vor dem Wagen«, antwortete der Matrose. »Das war doch nur ein Pferdebahnwagen.«

»Aber das war doch kein Wagen. Der hatte ja gar keine Räder, und man hörte ihn nicht fahren; er hat nur geläutet.«

»Doch, Nonni, er hatte ganz kleine Räder und lief auf Schienen.«

»Schienen? Was ist denn das?«

Der Matrose zeigte mir die Schienen auf der Straße.

Ich kannte mich gar nicht mehr wieder vor Staunen und Verwunderung.

»Aber in dem Kopenhagen gibt es merkwürdige Sachen!« wandte ich mich mit großen Augen zu Owe.

»Nicht wahr, Nonni, da schaust du! – Aber warte nur, du wirst dich bald daran gewöhnen.«

Wir gingen weiter quer über den Platz.

Als wir in die Mitte kamen, blieb ich plötzlich erschrocken stehen.

»Owe! Owe!« rief ich und schaute in die Luft. »Was ist denn das? Da oben reitet ja ein Mann auf einem furchtbar großen Pferde!«

Owe und der Matrose lachten beide hellauf.

»Sei doch ruhig, Nonni! Das ist ja bloß eine Reiterstatue«, erklärte Owe. »Die lebt nicht; sie ist nur gegossen aus Metall.«

»Was? die ist nur gegossen?« fragte ich, noch ganz verdutzt. »Ich glaubte wirklich, sie sei lebendig! Ich habe noch nie eine solche Statue gesehen.«

Ermutigt durch die Versicherung Owes, daß Roß und Reiter nicht lebendig seien, musterte ich sie neugierig von allen Seiten.

»Ist dieses Tier auch wirklich ein Pferd?« fragte ich Owe.

»Gewiß, Nonni.«

»Aber warum sieht es denn nicht so aus wie die Pferde, die auf der Straße laufen?«

»Das kommt daher, weil es so alt ist. Früher wurden die Pferde so gemacht.«

»Ja, Nonni, es ist aber doch ein prächtiges Denkmal«, bemerkte der Matrose und schickte sich an, weiterzugehen.

»Komm, wir gehen jetzt dort hinüber in die Östergade. Das ist eine der schönsten Straßen von Kopenhagen.«

Am Eingang zur Straße stand ein Mann bei einem eigentümlichen kleinen Wagen, auf dem ein Feuer brannte.

Er wandte sich mit großer Liebenswürdigkeit an Owe und mich und lud uns ein, seine Apfelkuchen zu verkosten.

»Komm doch, kleiner Seemann! Komm, mein Junge!« redete er Owe und mich freundlich an. »Hier gibt's die besten Apfelkuchen in ganz Kopenhagen. Sie sind fertig, ganz warm und mit Zucker bestreut. Kommt doch und nehmt ein paar mit!«

Damit reichte er mir auf einem niedlichen Tellerchen zwei schöne, warme Apfelkuchen.

»Was doch die Kopenhagener für gastfreie und freundliche Leute sind!« dachte ich bei mir.

Schmunzelnd nahm ich das Tellerchen an, gab dem guten Manne die Hand und dankte ihm herzlich.

Owe und der Matrose schlugen das freundliche Anerbieten ziemlich trocken ab, gingen einige Schritte weiter und blieben stehen.

Ich wunderte mich darüber sehr und konnte mir gar nicht denken, warum sie nicht auch Kuchen essen wollten.

Mir schmeckten die meinen vorzüglich, und bald war ich damit fertig.

Dann zog ich meine Mütze ab, dankte dem Manne nochmals für seine Gabe und wandte mich zum Gehen.

Aber kaum hatte ich einen Schritt getan, da faßte mich der »gute Mann« beim Arm.

»He! Kleiner, das Bezahlen nicht vergessen!«

»Bezahlen? Muß ich bezahlen?«

»Hoffentlich!« lautete es jetzt in einem weniger freundlichen Tone. »Glaubst du denn, ich teile meine Apfelkuchen umsonst an die Leute aus?«

Diesmal erschrak ich zwar nicht, aber ich war doch gewaltig enttäuscht, und meine hohe Meinung von der Gastfreiheit der Kopenhagener war stark gesunken.

Ich mußte mit meinem Geldbeutel heraus und dem Mann ein paar Skillinge bezahlen.

Er nahm sie, ohne Dank zu sagen.

Etwas kleinlaut lief ich zu Owe und dem Matrosen.

Beide konnten ein stilles Lachen nicht unterdrücken.

Doch der Matrose schaute mich freundlich an und entschuldigte sich:

»Nimm uns das nicht übel, Nonni. Wir wollten dich nur etwas auf die Probe stellen und sehen, was du machtest. Solche Erfahrungen schaden nichts. Du wirst dafür ein andermal besser auf deiner Hut sein.«

»O, ich nehme euch das nicht übel. – Aber denkt euch, ich mußte die Apfelkuchen bezahlen!«

»Das war Lehrgeld für dich, mein Freund. Hier muß alles bezahlt werden.«

Eine Weile noch setzten wir unsern Spaziergang durch die hellerleuchtete Östergade fort.

Dann kehrten wir auf das Schiff zurück und legten uns bald zur Ruhe.

Es war meine letzte Nacht auf »Valdemar von Rönne«. Nie war ich mit so vielen und mannigfachen Eindrücken zu Bett gegangen wie an diesem Abend.

Lange schlief ich nicht ein.

Meine Gedanken waren zu lebhaft beschäftigt mit allem, was ich tagsüber gesehen und auf der langen Reise erlebt hatte.

Nimmer müde, trieben sie selbst im Schlafe noch ihr geisterhaftes Spiel in meinem Kopfe.

So träumte ich die ganze Nacht hindurch die wunderlichsten Dinge.

Ich fuhr in einem strahlenden Kristallwagen durch lichte Buchenwälder, und an allen Zweigen hingen Napoleons- und Apfelkuchen.

Plötzlich verwandelte sich der schöne Wald in eine blendendweiße Schneelandschaft, wo viele kleine Bären über die aufrechtstehenden Eiszapfen Bock sprangen.

Auf einmal war wieder alles verändert.

Die ganze Landschaft wurde zu einem wogenden, schäumenden Meere, und die Eisbären schwammen darin wie weiße Möwen munter umher.

Dann wieder ward der Wagen in ein Schiff verwandelt, und ein großer englischer Segler fuhr plötzlich neben uns her. Der Kapitän rief mit gewaltiger Stimme zu uns herüber …

Ich fuhr auf und schaute um mich.

Es war Morgen.

Der fremde Kapitän aber war kein anderer als Herr Foß, der sich bemühte, mich aus meinem tiefen Schlaf zu wecken.

»Steh auf, Nonni, und kleide dich an! Wir gehen dann zusammen zu Herrn Gísli Brynjúlfsson.«

Bald war ich fertig und trank zum letztenmal meinen Morgenkaffee in der kleinen, trauten Kajüte des »Valdemar von Rönne«.

Dann ging ich auf Deck und nahm herzlichen Abschied von der Besatzung, besonders von meinen zwei guten Freunden, dem Steuermann und dem kranken Matrosen.

Die Tränen standen mir in den Augen, als ich scheiden mußte von den guten Menschen, die ich während der langen Reise so liebgewonnen hatte.

Mit meinem Herzensfreund Owe wollte ich zum Abschied am liebsten allein unten in der Kajüte sein.

Ich bat den Kapitän um Erlaubnis dazu und erhielt sie bereitwilligst.

Und so stiegen wir denn hinab.

Ich faßte Owes Hand und wollte ihm einige Abschiedsworte sagen, die ich während des Kaffeetrinkens vorbereitet hatte.

Aber merkwürdig! Als ich anfangen wollte, konnte ich mich keiner Silbe mehr erinnern.

Ich sagte ihm daher, was mein Herz mir für den Augenblick eingab:

»Es tut mir so leid, daß ich jetzt von dir scheiden muß, Owe. Auf der ganzen Reise warst du immer so gut und liebevoll gegen mich. Ich danke dir von Herzen dafür und wünsche dir alles Gute.«

»Du hast mir nichts zu danken, Nonni. Ich habe dir nicht mehr Liebe erwiesen als du mir. Es tut auch mir weh, daß ich von dir scheiden muß. Wir sind ja so gute Freunde geworden.«

»Doch bevor wir uns trennen, Owe, habe ich noch eine Bitte an dich. Wenn du nächstes Jahr nach Island fährst, willst du dann nicht meine Mutter besuchen und ihr einen Gruß von mir bringen? Erzähle ihr, wie froh ich bin und wie gut es mir geht. Sag ihr auch, daß ich alle ihre guten Ratschläge und Ermahnungen beobachten wolle.«

»Ja, das will ich gern tun, Nonni. – Aber ich fürchte, daß ich nächstes Jahr nicht nach Island komme. Ich weiß nicht, es quält mich immer noch die eigentümliche Angst, ich würde nicht einmal mehr in mein Heimatland Bornholm zurückkehren und meine eigene Mutter wiedersehen. Erinnerst du dich nicht, ich habe dir dasselbe schon vor fünf Wochen auf Island gesagt, als wir in der kleinen Stube in eurem Hause saßen.«

»Ja, ich kann mich gut erinnern. Aber diese Furcht brauchst du nicht zu haben, Owe. Du hast ja gar keinen Grund dazu. Man sollte fast meinen, es sei Aberglaube. Sei nur ruhig, mein lieber Owe, du wirst deine Mutter schon bald wiedersehen.«

Seine Augen füllten sich mit Tränen, gerade wie damals auf Island.

Ach der arme, gute Owe! –

»Nun komm, Nonni!« rief der Kapitän vom Deck herab. »Seid ihr noch nicht fertig mit eurem Abschied?«

»Ich komme gleich, Herr Kapitän!«

Owe und ich drückten uns zum letztenmal die Hand und stiegen beide langsam die Treppe hinauf.

Mit schwerem Herzen verließ ich das kleine Bornholmsche Schiff, wo ich so glückliche Tage verlebt und das mich so sicher den langen, gefahrvollen Weg über das Meer getragen hatte.

Und dann ging ich mit Kapitän Foß durch die Straßen Kopenhagens auf die Dossering zu.

Meine Seereise war zu Ende.

In der glänzenden Großstadt am Öresund sollte nun für mich ein neues Leben beginnen.


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