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8. Vor Wind und Wellen

Es war Abend geworden.

Ich lag noch immer auf meinem kleinen weißen Bett unten in der Kajüte.

Schon waren wir ziemlich weit von Akureyri entfernt und näherten uns der Bergkette Vadlaheidi auf der gegenüberliegenden Seite des Fjords.

Der Wind wurde stärker und stärker, die Wogen gingen höher und höher. Aber in meiner aufgeregten Stimmung achtete ich nicht auf das Schlingern und Schaukeln des Schiffes.

Als ich eine Weile so gelegen und geweint hatte, hörte ich, daß auf dem Verdeck die Klapptür zum Treppengang geöffnet wurde.

Gleich darauf kam ein Mann mit schwerem Tritt die enge Treppe herunter. Er öffnete die Innentür der Kajüte und trat herein.

Ich war allzu traurig, als daß ich mich darum gekümmert hätte, was in meiner Nähe vor sich ging. Deshalb hielt ich mich mit dem Gesichte auf dem Kissen liegend ganz ruhig.

Der Mann pfiff lustig ein bekanntes dänisches Volkslied vor sich hin und muschelte an der einen Koje herum, als wenn er etwas suchte.

Da wurde er auf mich aufmerksam und stutzte.

Ich sah nicht auf, aber es kam mir vor, als ob er an meinem Bett stände und mich betrachtete.

Ich hatte mich nicht geirrt. In munterem Tone sprach er mich an:

»So, so, du kleiner Isländer! Hast du dich hierher verlaufen? Niemand wußte, wo du geblieben seiest. – Aber wie? Schläfst du, du kleiner Schelm?«

Bei diesen Worten klopfte er mir freundschaftlich auf die Schulter.

Ich wandte den Kopf und sah ihn an.

Es war der Steuermann, der heiterste und gutmütigste von allen auf dem Schiff. Er war immer munter und machte überall Spaß.

Ich war verlegen.

Sprechen konnte ich nicht viel, weil ich noch keine Übung im Dänischen hatte. Deshalb nickte ich ihm nur zu.

Mein verweintes Gesicht mußte ihm wohl aufgefallen sein. Er beugte sich über mich, schaute mir aufmerksam in die Augen hinein und sagte in herzlichem, teilnahmsvollem Tone:

»Ach, du armes, kleines Jüngelchen! Du bist wohl traurig, weil du deine Mutter hast verlassen müssen. Ja, das kann ich gut verstehen. Aber das geht schon vorüber. Hab nur Geduld, es geht schon vorüber. – Sieh, mein Kleiner, du bist schon jung, aber ich war noch jünger, als ich von meiner Mutter fortging. Auch ich war traurig, das muß ich gestehen, aber es dauerte nicht sehr lange. So wird es auch bei dir gehen, mein kleiner Freund.«

Er setzte sich auf die Kante des Bettes und sah mich so zutraulich an, daß es mir warm ums Herz wurde.

Ich faßte seine Hand, drückte sie als Zeichen meiner Dankbarkeit und sagte in gebrochenem Dänisch:

»Herr Steuermann, weshalb mußten Sie denn von der Mutter fort, als Sie noch so jung waren?«

»Das will ich dir sagen, mein Lieber. Ich sollte zur See, ja zur See, gerade wie du. Du gehst ja auch zur See. Glaubst du, ich hätte so geweint wie du? – Pah, eine kleine Träne im Anfang, damit war's vorbei.

»So mußt du es auch machen. Mir ging es sehr gut; dir wird es auch gut gehen. Hast du mich verstanden, kleiner Isländer?«

»Du armer, kleiner Isländer!« wiederholte er langsam, aber in einem herzlichen und zugleich scherzhaften Tone. Dabei strich er mir mit seiner schwieligen Seemannshand über die Haare.

»Aber sei nun nicht mehr traurig«, sagte er weiter, »das hilft doch nichts. Du mußt munter sein und oben auf dem Verdeck herumspringen. So machen es die dänischen Knaben. Du mußt mit Owe Spaß machen, du weißt, mit dem kleinen Koch. Das heißt, wenn er Zeit hat. Natürlich darfst du ihn bei der Arbeit nicht stören.

»Sei also vernünftig, mein kleiner Isländer, und hör ganz auf zu weinen. Na, was sagst du dazu?«

»Ja, Herr Steuermann, ich will es versuchen. O, ich bin so froh, daß Sie gegen mich so gütig sind. – Ich fühle mich so verlassen, so einsam hier.«

»Wie?« sagte er halb spaßend, halb tröstend, »mein – ach, wie heißt du doch wieder?«

»Ich heiße Nonni.«

»Ja, richtig. Also, mein kleiner Nonni, einsam, sagst du? Aber das bist du doch nicht. Du hast ja uns hier, und wir alle haben dich gern. Du wirst noch der Liebling auf dem ganzen Schiffe. – Oder glaubst du, wir Dänen seien Menschenfresser? O nein, so wild sind wir nicht, wir sind ganz friedliche Leute. Ja, Nonni, so ist es. Nimm z. B. mich. Glaubst du, ich hätte dich nicht gern? O, ich habe dich sehr, sehr gern.

»Aber jetzt wisch die Tränen ab und laß nicht merken, daß du geweint hast. Sieh hier –«

Er nahm ein Handtuch, tauchte das eine Ende in einen kleinen Behälter mit Wasser, der am Boden befestigt war, und reichte es mir mit den Worten:

»Wasch jetzt alle deine Tränen weg.«

Ich stand auf, wusch mein Gesicht und trocknete es sorgfältig ab.

Dann fing der muntere Steuermann wieder an:

»So, nun bist du fein geworden und siehst ganz nett aus. Jetzt komm mit auf Deck und rede mit den Leuten. Nachher gehst du wieder hinab und speisest zu Abend mit dem Kapitän. Denk dir, mit dem Herrn Kapitän selbst! Welche Ehre, mein Junge, zusammen mit dem Kapitän zu speisen! Du sollst auch Feigen, Rosinen und Zwetschgen haben. Das gefällt dir wohl, kleiner Isländer? Schau mal her!«

Er öffnete eine Schublade, die voll von Rosinen war; dann eine andere mit Feigen, und noch eine dritte mit Zwetschgen.

Das gefiel mir. Ich fing an zu schmunzeln.

»Siehst du, wie gut du es bei uns haben wirst. – Also, jetzt munter und froh und keine Träne mehr, Nonni!«

»Ja, Herr Steuermann.«

Wir gingen zusammen auf das Verdeck.

Als ich den Kopf durch die Tür steckte, sauste der scharfe Nordwind mir so gewaltig um die Ohren, daß ich ganz wirr im Kopf wurde. Er faßte so kräftig in meine Haare, daß ich glaubte, er wolle sie alle mit der Wurzel ausreißen.

Ich sprang zurück, holte meine Mütze und zog sie fest über die Ohren. So stieg ich wieder aufs Deck.

»Uh, ha!« rief ich beim Anblick der schäumenden Wogen. »Was für ein Wetter! was für eine Segelfahrt!«

Ich blieb stehen und schaute mich verwundert um. Wie wild war alles um mich her!

Es fing schon an zu dunkeln. Der Himmel war mit aschgrauen Wolken bedeckt. In der Dämmerung sahen die hohen Bergketten auf beiden Seiten des Fjords gespenstisch aus und glichen drohenden Ungeheuern. Sie schienen viel höher, als sie in Wirklichkeit waren, und es kam mir vor, als grollten sie mir, weil ich sie auf immer verlassen wollte.

Ich warf einen Blick auf die bewegte See.

Wie schauerlich schwarz und drohend sie aussah! Welch gewaltige Bewegung! Wie rasten und tobten die grimmigen Wogen ringsum!

Der Wind nahm immer mehr an Stärke zu, die Wellen wurden höher und größer.

Ununterbrochen klatschten sie an den breiten Schiffsbug und jagten dann zischend weiter die Schiffseite entlang.

Der kleine Segler wurde zuweilen so erschüttert, daß man die Planken krachen hörte.

Der Kapitän stand selbst am Steuer. Denn an dieser Stelle war die Fahrt nicht ohne Gefahr.

Zwei Matrosen waren an den Segeln, auf jeden Wink ihres Herrn gefaßt.

Alle trugen die gelben Ölkleider und den Südwester. Und das war notwendig; denn die gewaltigen Wogen überschütteten jeden Augenblick das Verdeck mit Wasser und Schaum.

Ich meinerseits suchte einem solch unbehaglichen Sturzbade zu entgehen, indem ich, sobald eine Welle herankam, hinter die Küchenwand sprang. Und auch da mußte ich noch gut achtgeben, um nicht begossen zu werden.

Bei dem Hin- und Herspringen auf dem Deck, bei dem Schlingern und Schaukeln des Schiffes, bei der sausenden Fahrt, da lebte ich wieder auf.

Ich vergaß – wenigstens für den Augenblick – Tränen, Wehmut und Schmerz und fand es ganz lustig, im Halbdunkel auf den gewaltigen, unruhigen Wassern dahinzusegeln.

»Was würde die Mutter wohl sagen, wenn sie mich so kühn auf dem schräghängenden Deck umhergehen sähe?«

Mut und Selbstgefühl wuchsen. Ich trat fester auf und kam mir beinahe wie ein Seemann vor. –

Plötzlich erscholl ein kurzer, kräftiger Kommandoruf des Kapitäns.

Das Schiff war auf der Westseite des Fjords dem Strande ganz nah gekommen. Aber im Nu drehte es sich gen Norden hin. Die Matrosen hielten mit fester Hand die Taue. Ich beobachtete aufmerksam, was jetzt vorging.

»Paß auf den Knaben auf!« schrie der Kapitän.

Der kleine Koch springt aus seiner Küche heraus, läuft auf mich zu, faßt mich beim Arm und zieht mich nahe an den Mast heran.

»Bleib hier stehen, ganz still«, sagte er, »bis wir gewendet haben.«

Ich gehorchte aufs Wort und konnte nun genau beobachten, wie die Dinge sich weiter entwickelten.

Das Schiff hatte sich schon so viel gedreht, daß die Spitze nach Norden schaute, gerade gegen den Wind.

Es hob sich aus der schrägen Stellung, so daß der Mast wieder lotrecht in die Höhe ragte. Einen Augenblick schienen wir stillzustehen.

Die Segel, eben noch straff gespannt, hingen jetzt schlaff herab und flatterten wild und ausgelassen im Winde. Da ertönt ein neuer Kommandoruf.

Alsbald schwingen sich die Rahen mit ihren Segeln, von kräftigen Matrosenarmen gezogen, auf die andere Seite. In aller Hast werden die Taue festgeschlungen. Schon faßt der Wind die Segel und bläht sie auf. Das Schiff legt sich auf die Seite, die bisher oben war, und in sausender Fahrt segeln wir gegen Nordost auf die Vadlaheidikette zu.

Ich war ganz entzückt über dieses meisterliche Manövrieren und fühlte mich stolz, dabei gewesen zu sein, obwohl ich nichts dazu getan hatte.

Wie flink ward doch dies alles ausgeführt! Ich bekam hohe Achtung vor der Tüchtigkeit der dänischen Seeleute.

Nach einer halben Stunde, sobald wir dem östlichen Gestade des Fjords näher gekommen waren, wurde das Schiff gewendet, und wir segelten wiederum gegen die Westseite des Fjords.

So sollte es nun mit dem Hin- und Herkreuzen die ganze lange Nacht hindurch gehen. Der Fjord ist ja, wie schon gesagt, 60 Kilometer lang und wird nach Norden hin immer breiter. Die Mündung hat eine Weite von 15 Kilometern.

Bald nach der ersten Wendung verließ ich meinen Platz am Mastbaum und ging zur Küche, die auf dem Deck angebracht war. Die Seeleute nennen sie meist Kambüse.

Ich steckte den Kopf durch die Tür und sah meinen Freund, den kleinen Koch, eifrig beschäftigt, Kalbskoteletts zu braten.

»Guten Abend, Owe«, redete ich ihn an.

»Guten Abend, Nonni«, antwortete er, indem er von seiner Bratpfanne aus mich lächelnd anschaute; »komm nur herein.«

Ich setzte mich auf einen Holzklotz neben der Tür.

»Bist du nicht seekrank, Nonni?« fragte er.

»Nein, Owe, nicht die Spur.«

»Das ist gut, dann wird dir dies nachher munden. Ich bereite das Abendessen. So lecker ist es nicht jeden Tag. Heute soll es extra fein sein.

»Aber sag mal, Nonni«, fuhr er fort, während er mit den schwarzen Fingern Salz auf das Fleisch streute, »wie gefällt dir das Segeln?«

»Ausgezeichnet, Owe; ich hätte nicht geglaubt, daß es so lustig wäre.«

»Meinst du? Ja, ja, so ist es am Anfang; aber warte nur, du wirst schon noch anders reden. Wir wollen mal sehen, wie du diese Nacht bei all dem Drehen und Wenden schlafen wirst. Weißt du, wir brauchen die ganze Nacht dazu, um aus diesem schrecklich langen Fjord herauszukommen. Und je mehr wir uns der Mündung nähern, desto stärker wird der Wind, und desto höher gehen die Wellen. Ja, Nonni, wir wollen sehen, wie es dir morgen beim Aufstehen zumute ist. – Aber jetzt muß ich mit den Kartoffeln anfangen; zu den Koteletts gehören ordentlich viel.«

Ich schaute ihm zu und sagte: »Was für ein geschickter Koch du bist! Deine Koteletts sehen ja großartig aus.«

»Gefallen sie dir, Nonni? Das freut mich. Ich habe wohl keine andere Wahl, als mir Mühe zu geben. Sonst geht's mir schlimm, kannst es glauben. Es ist nicht so angenehm, Koch auf diesem kleinen Schiff zu sein. Ich habe schon manches durchgemacht.«

»Armer Owe!« tröstete ich ihn. »Auf mich kannst du dich verlassen; ich werde immer auf deiner Seite stehen, mag kommen, was da will. Meine Mutter hat mir auch gesagt, ich solle immer gut gegen dich sein.«

»Hat sie das gesagt? O, das war doch schön von ihr! – Aber meinst du, es könne etwas nützen, wenn wir zwei Kleinen zusammenhalten gegen die großen Matrosen? Die sind ja viel stärker als wir. Doch davon wollen wir jetzt nicht weiter sprechen. –

»Sieh, das große Stück hier ist für den Kapitän. Das muß immer besonders fein zubereitet sein.« –

»Aber, Owe, was mag das bedeuten? Es wird mir übel.«

»So? Schon jetzt? Dann nimm dich in acht, sonst kannst du nicht zu Abend essen. Weißt du nicht, was diese Übelkeit bedeutet? Das ist der Anfang der Seekrankheit. Aber befolg nur meinen Rat, so wird es bald vorübergehen. Lauf gleich hinaus in die frische Luft und halte dich in der Nähe des Mastes. Dort merkst du das Schaukeln des Schiffes am wenigsten und bist auch nicht leicht in Gefahr, von der großen Rahe erfaßt zu werden, wenn das Schiff wendet und die Segel auf die andere Seite schwingen. Bleibe beständig in Bewegung und halte dich warm; besonders aber sei recht heiter. Das ist das beste Mittel gegen Seekrankheit, wie gegen alle andern Krankheiten auch.

»Aber jetzt geh! – schnell! – sonst ist es zu spät.«

Sofort stand ich auf, klopfte Owe auf die Schulter, dankte ihm für seinen guten Rat und ging auf das nasse Verdeck.

Draußen war es höchst ungemütlich.

Der Nebel wurde dichter, und der Nordwind pfiff immer kälter. Die Berge gegen Osten waren deutlich sichtbar, weil wir ihnen jetzt näher kamen; die westlichen waren im Nebel verschwunden.

Auf dem Verdeck waren nur drei Personen, zwei Matrosen bei den Segeln und der Kapitän am Steuer.

Auch er trug Südwesterhut und Ölkleider. Er sah nicht mehr aus wie ein feiner Herr, sondern wie ein echter Seebär.

Vom Kopf bis zu den Füßen war er tropfnaß. Hut und Kleider glitzerten im Schein des Kompaßlichtes von dem salzigen Seewasser.

Das Schiff quälte sich unaufhörlich durch die schäumenden Wogen vorwärts, ähnlich einem großen Lasttiere, das mit Aufgebot aller Kraft sich voranschleppt.

Doch fuhr es schnell; ja wenn der Wind es ganz auf die eine Seite legte, schoß es förmlich dahin.

Nach Owes Rat hielt ich mich auf der Mitte des Verdecks und stapfte auf und ab, um warm zu bleiben.

Es glückte mir jetzt, alle düstern Gedanken aus dem Sinn zu schlagen und bei dem großartigen Spiel der Wellen froh und munter zu sein.

Ja, das war nun einmal eine echte Seereise, ein wirkliches Segeln.

Meine Übelkeit war wie fortgeblasen. Mir wurde so wohl zumute, daß ich anfing, mit dem zunächststehenden Matrosen in aller Gemütlichkeit zu plaudern.

Da erscholl plötzlich ganz barsch die Stimme des Kapitäns:

»Junge, bleib weg von den Leuten!«

Erschrocken und beschämt über die derbe Ermahnung lief ich schnell an meinen Platz neben dem Mast zurück.

Sonderbar! dachte ich. Warum darf ich denn nicht mit dem Matrosen sprechen? Das kann doch nicht schaden. Ich will mal Owe fragen.

Ich ging in die Kambüse und sagte: »Hör mal, Owe, der Kapitän hat eben geschimpft, weil ich mich mit dem Matrosen unterhielt. Darf man denn das nicht?«

»Wie?« sagte Owe, »du wolltest mit dem Matrosen sprechen? Weißt du denn nicht, daß es streng verboten ist? Das darfst du nie tun, wenn sie bei schwieriger Fahrt an ihrem Posten stehen.«

Kleinlaut gab ich zur Antwort: »Nun, wie sollte ich das wissen?« und hielt es für das beste, bei Owe zu bleiben und mich mit ihm zu unterhalten, während er das Abendessen bereitete.

Die Seekrankheit hatte ich vollständig vergessen, und sie schien mich auch nicht mehr belästigen zu wollen.


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