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16. Zwischen Eisbergen

Oben auf dem Deck wurde die Kajütentür geöffnet, und ich hörte jemand mit schweren Tritten die Treppe herabkommen.

Aber ich konnte diesmal nicht erraten, wer es war.

Unten an der Treppe blieb er stehen, und anstatt die Tür, die zu mir hereinführte, zu öffnen, machte er einen gewaltigen Lärm.

Er trampelte mit den Füßen und stieß mit aller Kraft gegen die Türpfosten.

Ich konnte gar nicht recht klug werden, was dies wohl sein mochte, und fürchtete mich fast.

Da trat zu meinem Erstaunen der Steuermann ein.

Er hatte seine dicksten Winterkleider an, und eine Schneehaube bedeckte fast das ganze Gesicht. Nur Augen und Nase waren frei. An den Händen trug er große isländische wollene Handschuhe, in denen alle Finger außer dem Daumen zusammen steckten, an den Füßen schwere Schaftstiefel.

Er war ganz bedeckt mit unzähligen kleinen Eisnadeln. Draußen vor der Tür hatte er versucht, sie so viel wie möglich abzuschütteln. Daher der Lärm.

Es war mir sofort klar, daß wir einen gewaltigen Schneesturm gehabt haben mußten.

Der Eismann stellte sich vor mein Bett und schaute mich an.

Wegen der Haube konnte ich nicht unterscheiden, ob er heiter oder ernst war.

Endlich zog er Handschuhe und Haube ab und gab mir herzlich lachend die Hand.

»Guten Morgen, kleiner Nonni; ich habe dich doch wohl nicht erschreckt?«

»Das gerade nicht, Herr Steuermann. Aber Sie haben mich doch etwas in Staunen versetzt.«

»Wieso denn, mein Junge?«

»Erst durch den Lärm, den Sie an der Tür machten, und jetzt durch Ihre Kleidung und die eigentümlichen Eisnadeln, die daran hängen.«

»Armer Nonni«, sagte er freundlich, »du bist die letzten Tage so einsam und verlassen gewesen und weißt wohl gar nicht, was in dieser Zeit vorgekommen ist.«

»Das ist es gerade, Herr Steuermann. Ich weiß gar nicht, wo wir sind. Alles kommt mir so verändert vor. Das Licht ist so blendend weiß, und es ist so kalt. Auch hört man keinen Laut, keinen Fußtritt mehr. Ich habe schon gedacht, ob nicht ein Teil der Besatzung während des Sturmes über Bord gespült worden sei.«

»Dir gehen ja ganz unheimliche Gedanken durch den Kopf, mein Lieber. Du kannst dich aber beruhigen: Wir sind noch alle am Leben!«

»Gott sei gelobt!« rief ich vor Freude.

»Aber wie geht es Owe? Er kommt ja gar nicht mehr zu mir.«

»Er ist seekrank gewesen und liegt noch zu Bett.«

»Liegt er zu Bett? Dann muß ich schnell aufstehen und ihn besuchen. – Aber wer kocht denn jetzt?«

»Das tu' ich

Ich sah ihn erstaunt an.

»Mußt du dich wundern, daß der Steuermann den Koch spielt?« sagte er darauf. »Das kommt auf den kleinen Schiffen oft vor. In der Not hilft man sich, so gut es eben geht.«

»Aber Sie haben doch sonst schon genug zu tun. Hätte ich nur auch das Kochen gelernt, gern würde ich Owe vertreten.«

Der Steuermann lachte, legte das dicke Wams ab und hing es draußen vor der Tür an einen Haken.

Dann kam er wieder herein und setzte sich zu mir.

Allmählich war er wieder der alte, nur sah er sehr müde und angestrengt aus.

»Ich muß etwas ruhen«, begann er wieder; »es ist schon lange, daß ich keinen Schlaf mehr bekommen habe. In den letzten Tagen ging es hart her.«

»Ist jetzt die Gefahr vorüber?«

Der Steuermann schaute mich ernst an und schüttelte mit dem Kopf.

»Sind wir wirklich noch in Gefahr?« fragte ich hastig, indem ich mich etwas aufrichtete und auf die Ellenbogen gestützt ihn erwartungsvoll anschaute.

Statt mir auf diese Frage zu antworten, stellte er mir eine andere.

»Betest du zuweilen, Nonni?«

»O ja.«

»Gut, so rate ich dir, Gott zu bitten, er möge jetzt seine Hand über uns halten.«

»Aber warum gerade jetzt?«

»Nun, wenn uns noch einmal ein solcher Sturm überfällt, dann ist es aus mit uns.«

Ich glaube, ich wurde vor Schrecken bleich.

Der Steuermann merkte es und suchte mich zu beruhigen.

»Ich sage das nicht, um dir Angst zu machen, sondern damit du zu Gott betest. Er allein kann uns helfen.«

»Ist das wirklich Ihr Ernst?«

»Ja, Nonni, das ist mein voller Ernst. Du bist noch ein unschuldiger, braver Knabe, und die erhört Gott eher als uns Erwachsene.«

Ich wurde verlegen und wußte nicht recht, was ich antworten sollte.

Unmöglich konnte ich glauben, daß Gott mich eher erhören würde als den Kapitän und den Steuermann. Doch stammelte ich schüchtern ein Versprechen hervor.

Der Steuermann schwieg.

Nach einer Weile fragte ich weiter:

»Herr Steuermann, wollen Sie mir nicht sagen, welche Gefahr uns droht?«

»Hast du das noch nicht gemerkt?«

Ich dachte etwas nach.

»Ja, ich glaube, ich weiß es jetzt«, sagte ich. »Wir sind gewiß zwischen die Eisberge gekommen.«

»Du hast recht geraten; so ist es. Wir sitzen mitten im Polareis.«

»O ich dummer Knabe! Das hätte ich aber auch vorher wissen können. Die Kälte und das weiße Licht und die Eisnadeln sind mir ja schon aufgefallen, als ich im Eyjafjördur bei Akureyri zum erstenmal die Eisberge sah.«

»Wie? du hast bei Akureyri schon Eisberge gesehen? – Da kannst du mir wohl etwas davon erzählen.«

»O ja, ich erinnere mich noch sehr gut. Es war im März vor zwei Jahren. Ich schlief zu Hause im Dachzimmer. Den ganzen Tag hatten wir Nordwind gehabt, und abends, als ich zu Bett ging, wehte er sehr stark.

»Als ich am andern Morgen aufwachte, lag auf der Bettdecke vor meinen Lippen ein kleines, schneeweißes Kissen von leuchtenden Kristallen.

»Mein Atem hatte sich des Nachts, als ich schlief, an der Bettdecke festgesetzt und war zu Eis gefroren.

»Außerdem fiel mir auf, daß das Licht ungewöhnlich weiß war, gerade wie hier.

»Schnell sprang ich auf und lief ans Fenster.

»Da hatte ich einen wundervollen Anblick.

»Der ganze Fjord war mit Eisbergen bedeckt, die nachts in aller Stille hineingetrieben waren.

»Es wehte kein Wind mehr. Die Eisberge lagen ruhig und feierlich gerade vor unserem Haus und so dicht gedrängt, daß man keine offene Stelle im Wasser mehr finden konnte.

»Der Erdboden war mit einer dicken Lage Schnee bedeckt. So sah es wenigstens aus. Aber das war kein rechter Schnee, sondern lauter kleine, harte Eisnadeln, gerade solche, wie Sie eben auf Ihren Kleidern hatten.«

»Und die Eisberge, wie sahen die aus?« unterbrach mich der Steuermann.

»O, die waren schön! Sie waren ganz rein und blendend weiß. Und wenn übertags hie und da die Sonne darauf schien, das hätten Sie sehen sollen! Dann leuchteten sie wie funkelnde Perlen und strahlten wie Diamanten in allen Farben, rot, grün, blau, golden. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie schön das war.

»Die einzelnen Eisberge waren aber sehr verschieden und nicht alle gleich groß. Einige waren höher als die Häuser, ja sogar höher als die Kirche; doch waren auch kleinere darunter.

»Die meisten hatten schöne Türme und Zacken. In manchen waren Höhlen, große und kleine, andere waren ganz durchbrochen und bildeten Tore und Gewölbe.

»Und wissen Sie, was gerade vor unserem Haus geschah?

»Eines Tages war die See unruhig, und zur Zeit der Flut stieg das Wasser höher als sonst. Da warf eine gewaltige Welle einen von den kleinen Eisbergen auf den Strand, und ein größerer, der hinter ihm schwamm, schob ihn noch höher hinauf. Als dann die Woge zurückging, blieb der kleinere Eisberg auf dem Lande sitzen.

»Und denken Sie, er war noch da, als die andern später aus dem Fjord trieben; ja er blieb den ganzen Sommer hindurch.

»Und als das Wetter warm wurde, schmolz er, und es floß ein ganzer kleiner Bach von ihm aus ins Meer. Wir Knaben tranken zuweilen daraus; es war Süßwasser.«

»Du verstehst ja ganz prächtig zu erzählen. – Aber jetzt steh auf. Oben in der Küche habe ich warmen Kaffee und Brot für dich bereitet.

»Iß nur ordentlich. Nachher kannst du die Gegend betrachten und schauen, ob die Eisberge hier auch so sind wie die, welche du in Akureyri gesehen hast.«

»Ja, Herr Steuermann, ich will gleich aufstehen, und dann bete ich mein Morgengebet und bitte Gott, er möge uns beistehen.«

»Brav so! – Betest du jeden Morgen?«

»Ja, wenn ich es nicht zufällig vergesse.«

Der Steuermann lächelte.

»Paß aber auf, daß du es nicht zu oft vergißt.«

»Nein, das tue ich nicht. Ich mußte es meiner Mutter versprechen vor der Abreise.«

»Das war schön von deiner Mutter, daß sie dir das Versprechen abnahm. Halt es nur auch gut, mein Junge!«

Diese Worte machten großen Eindruck auf mich, und ich hielt ihn für einen guten, gottesfürchtigen Mann.

Ich stand auf, und der Steuermann ging zu seiner Koje.

Bevor er sich zu Bett legte, verrichtete er ein kurzes Gebet.

Sein Beispiel ergriff mich noch mehr als seine Worte.

Nachdem ich mich fertig gemacht hatte, betete ich mein Morgengebet.

Am Schluß flehte ich zu Gott, er möge seine schützende Hand über unser kleines Schiff halten und uns vor den gefährlichen Eisbergen bewahren. Auch bat ich ihn, er möge uns günstigen Wind senden, damit wir vor ihnen fliehen könnten.

Dann zog ich meinen Überrock an und begab mich auf Deck.

Hier bot sich mir ein Anblick, so märchenhaft seltsam, so unheimlich wild, so überraschend neu, daß ich wie gebannt und sprachlos vor Staunen dastand.

Das erste, was mir förmlich ins Gesicht schlug, war das Licht. Es blendete mich so, daß ich die Hand vor die Augen halten mußte.

Ich sah kein Meer, kein Wasser, keine Wellen mehr – nur Schnee und Eis.

»Aber, du guter Gott«, rief ich aus, »wir sind ja gar nicht mehr auf dem Meere! Wir sind aufs Land geraten!«

Ja, man hätte fast glauben können, einer von den alten Hrímthursen, den gewaltigen nordischen Riesen der Edda, hätte unser Schiff gefaßt und es auf eines der großen Polarländer gesetzt.

Das ungewöhnliche Schauspiel verwirrte mich dermaßen, daß ich Mühe hatte, meine Gedanken zusammenzuraffen.

Erst nach und nach kam mir unsere wirkliche Lage klar zum Bewußtsein.

Nein, wir befanden uns nicht auf dem Lande, wir waren auf dem Meere, und weiter vom Lande entfernt als je zuvor. Und was das Schlimmste war, wir saßen im Polareise!

Ja, die wilde, schauerlich schöne Landschaft, die vor mir lag, war das fließende, treibende Polareis, unser Todfeind, der Feind, den jeder, der Kapitän sowohl wie der Steuermann und die Matrosen, mehr als alles andere fürchtete.

Ich schaute in die Ferne.

Soweit das Auge reichte, nur Eis und Schnee! Und alles, was ich sah, war übergossen von diesem blendend weißen Glast, der von dem leuchtenden Schnee zurückflimmerte.

Vor mir, hinter mir, zur Rechten, zur Linken, fern und nah, allüberall nur dieses eine: der weiße Schnee!

Allmählich gewöhnte sich das Auge an das scharfe Licht, und es tauchten Einzelheiten auf, die ich anfangs gar nicht beachtet hatte.

Stellenweis bemerkte ich klares Wasser, und im Süden, etwa ein paar hundert Meter von uns entfernt, entdeckte ich sogar die Grenze des Eises, das offene Meer.

Im Norden dagegen und im Osten und Westen sah man nur zusammengeschobene Eisberge.

Ich betrachtete sie lange, und es fiel mir auf, wie verschieden sie waren von den Eisbergen, die ich in Akureyri gesehen hatte.

Dort waren sie durchsichtig, funkelklar und scharf gekantet mit allerlei Zacken; hier ohne Glanz, die Formen alle weich und rund.

Das Ganze machte nicht den Eindruck einer Eisgegend, sondern einer Schneelandschaft mit weit ausgedehnten Flächen und runden Hügeln, durchbrochen von zahlreichen Schluchten und kleinen Tälern.

Dieses unheimliche und zugleich großartige Schaustück der Natur hatte mich so ergriffen, daß ich die nächste Umgebung, das Schiff selbst, beinahe vergessen hätte.

Kein Wunder. Es war ja kaum mehr zu finden. Das Deck lag unter hohem Schnee.

Das ganze Schiff sah aus wie ein großer Schneehügel, aus dem ein Mast, einige Rahen und Taue hervorstachen.

Welch ein Schneesturm mußte gerast haben!

Owes Küche war vollständig im Schnee begraben. Ein schmaler aufgeworfener Gang führte bis zur Türe.

Jetzt verstand ich auch, weshalb ich vorher in der Kajüte kein Zeichen mehr vernommen hatte von einem menschlichen Dasein. Jeder Laut verlor sich ja im tiefen Schnee.

Wie ich so meine Betrachtungen anstellte, fiel mir auf, daß dieser Schnee nicht war wie sonst der Schnee. Er kam mir so sonderbar vor.

Ich nahm daher eine Handvoll und untersuchte ihn. Er war nicht weich, sondern bestand aus lauter Eisnadeln und kleinen, harten Eiskristallen.

Die Luft war totenstill und sehr kalt.

Doch ich achtete kaum auf die Kälte; denn des Neuen und Seltsamen um mich her war zu viel, und ich war ganz davon gefangen.

Plötzlich regte sich etwas Lebendes vorn im Schiffe.

Es war der Kapitän, der hinter einem Schneehaufen gesessen hatte.

Eben erhob er sich und schaute, tief in Gedanken versunken, gegen Norden. Außer mir war er das einzige lebende Wesen auf dem Deck.

Er schien mich nicht bemerkt zu haben.

Bei einer Bewegung, die er machte, bekam ich flüchtig sein Gesicht zu sehen. Er sah noch müder aus als der Steuermann.

Als er mich erblickte, winkte er mir.

Ich watete mühsam durch den Schnee zu ihm hin und wünschte ihm guten Morgen.

Freundlich reichte er mir die Hand:

»Guten Morgen, mein Junge. Es freut mich, daß du schon aufgestanden bist. Hoffentlich bist du frisch und gesund.«

»Danke, Herr Kapitän, ich befinde mich ganz wohl. Aber wie geht es Ihnen? Sie sehen so müd aus.«

Er lächelte, gab aber keine Antwort.

Ich konnte gut merken, daß er nicht bloß müde, sondern auch in gedrückter Stimmung war. Sein sonst so feines, noch jugendliches Gesicht hatte Falten und Runzeln.

Nach einer kleinen Pause begann ich wieder:

»Darf ich fragen, wo die Matrosen sind?«

»Die Matrosen –«, antwortete er, und sein Gesicht zeigte einen bittern Zug, »die schlafen; sie liegen alle in ihren Kojen.«

»Und Owe, höre ich, soll krank sein.«

»Ja, der ist krank.«

»Darf ich mal zu ihm gehen und etwas mit ihm plaudern?«

»Das kannst du tun; aber nimm dich in acht, daß du die Matrosen nicht weckst.«

»Danke, Herr Kapitän. Ich werde schon still sein und ganz leise gehen.«

Als ich zur Tür der Matrosenkajüte kam, hörte ich von unten herauf, wie mir schien, unheimliche Laute.

Ich öffnete behutsam die Tür ein wenig und lauschte.

Jetzt ward es mir klar, was für Töne das waren. Die Matrosen lagen in tiefem Schlaf und schnarchten.

Den Preis aber verdiente unbedingt der Große mit dem roten Bart.

Auf den Zehen schlich ich die Treppe hinab und näherte mich Owes Bett.

Er rührte sich nicht.

Ich konnte fast nichts sehen.

Infolge des plötzlichen Übergangs aus dem grellen Licht von oben in diesen engen Raum kam es mir ganz dunkel vor, zumal da das einzige Fensterchen mit dickem Schnee bedeckt war.

Ich tastete umher und stieß mit der Hand an Owes Nacken. Er schlief und hatte den Rücken gegen die Öffnung der Koje gewandt.

Schnell zog ich die Hand zurück, um ihn nicht zu wecken, und wollte schon wieder fortgehen; da hörte ich, daß er sich umdrehte.

Ich hatte ihn also doch geweckt.

Er richtete sich empor, streckte den Kopf aus der Koje und gab mir die Hand.

Ich drückte sie herzlich und fragte leise, wie es ihm gehe.

»Es tut's so«, antwortete er. »Und wie geht es dir, Nonni?«

»Ich bin frisch und gesund wie ein Fisch.«

Dann bat ich ihn, er möge sich niederlegen und sich wieder zudecken. Ich stellte mich nun auf einen kleinen Kasten, der neben dem Bett stand, und steckte den Kopf in die Koje, damit die Matrosen uns nicht sprechen hörten.

Leise flüsternd begann ich:

»Owe, sei doch so gut und erzähle mir, was in den letzten zwei Tagen alles geschehen ist. Ich war immer in der Kajüte eingesperrt und weiß von nichts.

»Was hat man denn vor? Es schlafen ja alle außer dem Kapitän, und ihn mag ich nicht fragen; er ist müde und nicht gut gelaunt.«

»Ganz recht, Nonni. Ich will dir alles erzählen.

»In den letzten Tagen ging es schlimm zu. Der Sturm war so fürchterlich, daß niemand in all der Zeit ruhen durfte.

»Wir wurden beständig nach Norden getrieben.

»In der Nähe der Eisberge schlug der Wind plötzlich um. Wir bekamen eiskalten Nordwind, und sofort begann der Schneesturm. Er überschüttete uns mit gewaltigen Schneemassen von den Eisbergen her.

»Du kannst dir keine Vorstellung machen, wie schrecklich das war.

»Einzelnen Eisbergen waren wir schon begegnet, und nun trieb das Schiff blindlings voran!

»Den gefährlichen Feinden irgendwie auszuweichen, war unmöglich, denn wegen des Schneesturms konnte man nichts sehen.

»Wir alle glaubten nicht mehr anders, als daß wir verloren seien, und jeden Augenblick erwarteten wir einen Zusammenstoß.

»Die Gefahr war aufs höchste gestiegen.

»Da legte sich wie durch ein Wunder der Wind, und der Schneesturm hörte auf: wir waren vorläufig gerettet.

»Eine Zeitlang trieben wir noch mit den Eisbergen umher und kamen schließlich mitten in sie hinein.

»Heute morgen früh stellte der Kapitän an die Matrosen die Frage, ob sie noch Kraft hätten, sofort an die Arbeit zu gehen und das Schiff aus dem Eis zu bringen. Doch fügte er hinzu, er wolle sie nicht zwingen, denn er wisse, wie erschöpft sie seien.

»Die Matrosen erklärten alle bis auf den letzten Mann, sie müßten erst ausruhen.

»Der Kapitän machte sie darauf aufmerksam, wie lebensgefährlich es sei, zwischen den Eisbergen sitzen zu bleiben.

»Überrascht uns hier ein Sturm, schloß er, so sind wir verloren.

»Aber die Matrosen blieben bei ihrer Weigerung; denn, sagten sie, das Unmögliche könne man von ihnen nicht verlangen; sie könnten kaum noch auf den Beinen stehen.

»Der Kapitän bestimmte nun, daß die ganze Mannschaft vier Stunden schlafen sollte, er selbst würde während der Zeit Wache halten.

»So kamen die Matrosen hierher und legten sich zur Ruhe.

»Ich war schon in meiner Koje und konnte alles hören, was sie sprachen.

»Es war entsetzlich.«

Hier hielt Owe in seiner Erzählung inne. Er streckte den Kopf in die Höhe und lauschte, ob alle noch schliefen.

Das regelmäßige Schnarchen ließ keinen Zweifel, daß sie noch fest schlummerten.

Dann fuhr er fort:

»O, Nonni, es war geradezu schrecklich, wie aufgebracht die Matrosen gegen Herrn Foß waren. Sie sagten:

»Er allein ist schuld an allem. Es war unverantwortlich, uns bei einem solchen Sturm in offener See zu lassen. Wir hätten ebensogut in einen isländischen Fjord flüchten können. So aber hat er uns in die größte Lebensgefahr gebracht. Kommen wir mit heiler Haut weg, ihm haben wir nichts zu danken.

»Sie sprachen auch davon, daß sie ihn beim Gericht verklagen würden, sobald sie nach Dänemark kämen.«

»Der arme Kapitän!« unterbrach ich Owe. »Man kann doch nicht verlangen, daß er alles voraussieht.«

»Da hast du recht, Nonni; aber die Matrosen tun es nun einmal. Wahrlich, es ist kein Vergnügen, Kapitän zu sein.«

»Jetzt verstehe ich, Owe, weshalb er vorhin so betrübt aussah. Er hat sicher die Stimmung der Matrosen gemerkt.«

»Gewiß hat er das. – Aber, Nonni, ich bitte dich, sag ja keinem Menschen ein Wort davon, was ich dir jetzt erzählt habe. Es würde uns beiden teuer zu stehen kommen.«

»Ich werde mich hüten, Owe.«

Wir wollten die Unterhaltung noch fortsetzen, da merkten wir, daß ein Matrose aufhörte zu schnarchen und sich bewegte.

»Nonni, geh schnell fort!« lispelte Owe. »Wenn er wach wird und uns hier zusammen sieht, könnte er Verdacht schöpfen.«

Rasch drückte ich Owe die Hand und entfernte mich.

Ganz leise, wie ich gekommen, ging ich wieder fort und war froh, daß keiner der Matrosen mich bemerkt hatte.

Oben war es noch immer beißend kalt.

Mich fror. Und hungrig war ich auch, denn ich hatte ganz vergessen, meinen Morgenkaffee zu trinken.

Sofort eilte ich in die Kambüse und holte das Versäumte nach.

Dann ging ich in meine Kajüte hinab.

Dort lag der Steuermann im besten Schlafe. Ich hielt mich daher ganz still, nahm mein Schreibzeug hervor und setzte den Brief an meine Mutter fort.

Die Erlebnisse der letzten Tage gaben mir so reichlichen Stoff, daß ich ihn kaum bewältigen konnte, zumal da meine lebhafte Phantasie alles vergrößerte und es noch schrecklicher darstellte, als es in Wirklichkeit war.

Ich erzählte und dichtete in kindlicher Einfalt, ohne mich meiner Übertreibungen bewußt zu werden.

Ich schrieb:

 

Wäre der Orkan über Akureyri gefahren, so hätte er alle Häuser umgeworfen. – Die Wellen waren so hoch wie der Kirchturm, ja manchmal fast wie die Berge im Westen der Stadt. – Die Matrosen schnarchten, daß das Schiff zitterte. – An Bord ist man der Meinung, das Schiff werde bald zwischen den Eisbergen zerquetscht, und wir alle würden hier den Tod finden. – Owe und ich sind aber nicht dieser Meinung. Du kannst also ganz ruhig sein, liebe Mutter. Die Erwachsenen scheinen alle Schwarzseher geworden zu sein. Wir beiden Knaben sind die einzigen, die noch bei vollem Verstande geblieben sind. – Owe sagt: Gott könnte doch so was nicht zulassen. Wir sind ja noch viel zu jung, um jetzt zu sterben. Und das sage ich auch. Und das ist ja doch sonnenklar. Die Matrosen können das nicht einsehen. Owe meint, es komme daher, weil sie so müde sind.

 

Als ich mit der Beschreibung fertig war, las ich den Brief nochmals durch.

Ich war beinahe stolz darauf, wie ich alles so großartig geschildert hatte, und glaubte selber fest, es stimme genau mit der Wirklichkeit überein.

Plötzlich wurde ich gestört. Der Kapitän kam herein, um den Steuermann zu wecken.

Die Mannschaft hatte die vier Stunden geruht.

Jetzt war es Zeit, an die große Arbeit zu gehen und das Schiff aus dem Eise zu schaffen.


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