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3. Abschiedsbesuche

»Lieber Nonni«, redete ein paar Wochen später meine Mutter mich an, »es wird Zeit, daß du einige Abschiedsbesuche bei Freunden und Verwandten machst.«

»Mir deucht, du könntest heute hinaufreiten nach dem Hofe Hals Ich verändere mit Absicht einige Orts- und Personennamen, da mehrere der hier auftretenden Personen noch am Leben sind. zu unserem guten Freunde, Herrn Thorson. Sag ihm Lebewohl und danke ihm für alle Liebe, die er dir erwiesen hat.«

Schnell war ich zu diesem kleinen Ausfluge bereit. Ich machte leidenschaftlich gern Reisen, mochten sie kurz oder lang sein.

Sofort eilte ich, die Vorkehrungen zu treffen, holte eines von unsern zwei Pferden, sattelte es, und bald ging es im Galopp gegen Westen auf dem Wege, der den Berg hinan zum Hofe Hals führt.

Schon oft hatte ich den hübsch gelegenen Hof besucht. Sobald ich mich daher dem Hause näherte, erkannten mich die Kinder, die alle meine guten Freunde waren.

Munter liefen sie mir entgegen, umringten mich, griffen in die Zügel meines Pferdes und hielten es an.

»Wohin geht's?« rief ein kräftiger, geweckter Knabe mit Namen Julius.

Er war der älteste Sohn des Herrn Thorson, gleich alt wie ich und einer meiner besten Freunde.

Obwohl noch jung, war er doch ein ausgezeichneter Schütze. Wir waren schon oft zusammen auf die Jagd gegangen und hatten eine Menge wilder Enten geschossen, einmal sogar einen wilden Schwan.

»Vorläufig«, sagte ich, »will ich nicht weiter als hierher, Julius. – Ist dein Vater zu Hause?«

»Jawohl! Was führt dich denn heute zu uns, Nonni?«

»Ich komme, um euch Lebewohl zu sagen, denn ich soll bald ins Ausland.«

»Ich habe schon davon gehört«, erwiderte Julius. »Aber nun will ich dir auch etwas sagen, was du sicher noch nicht weißt. Es war nämlich die Rede davon, daß statt deiner ich nach Frankreich gehen sollte.«

»Nein, davon habe ich wahrhaftig nichts gewußt. Hast du wirklich dieselbe Einladung erhalten wie ich?«

»Ja, das habe ich.«

»Weshalb bist du denn nicht gegangen?«

»Mein Vater war dagegen, und so mußte natürlich auch ich nein sagen. – Aber ich bin ganz gewiß«, fügte er nachdenklich hinzu, »ich werde es später bereuen. Ja, ich werde es bereuen, solang ich lebe.«

Ich sprang vom Pferde. Sofort kletterten vier, fünf kleine Reiter auf seinen Rücken. Der fromme, kleine Pony ließ es ruhig geschehen.

Julius bat nun die andern, sie möchten uns allein lassen. Wir gingen eine kleine Strecke schweigend Arm in Arm. Dann begann ich zu reden und fragte:

»Weshalb will dein Vater dich eigentlich nicht gehen lassen?«

»Er habe keine Sicherheit, daß ich glücklich sein würde, sagte er.«

»Genau so wie Thorhalls Mutter!«

»Ja, das habe ich auch gehört.«

»Sonderbar! Meine Mutter scheint keine Furcht zu haben.«

»Nonni, ich glaube, sie hat recht. Du kannst von Glück sprechen. Aber du siehst ein, ich konnte nicht anders handeln. Mein Vater ließ mir zwar volle Freiheit; doch gegen seinen bestimmten Wunsch wollte ich nicht zugreifen.«

»Was hält deinen Vater denn ab?«

»Ja, ich weiß nicht recht, wie ich das ausdrücken soll. Er fürchtet, ich möchte an meiner Seele Schaden leiden.«

»Das begreife ich nicht.«

»Ich auch nicht, Nonni. Aber es ist nun mal so.«

»Was meint er eigentlich damit?«

»Ich vermute, es hängt unter anderem mit der Religion zusammen. Du weißt ja, es gibt draußen in der großen Welt so viele Menschen, die keinen Glauben haben und die über jede Religion spotten.«

»Gewiß. Das hat meine Mutter mir schon gesagt. Aber sie hat hinzugefügt, daß es überall auch viele gute Menschen gibt, und zu solchen soll ich reisen.«

»Das weiß ich, Nonni. Und gerade der französische Edelmann, der uns zu sich einladet, soll ein außerordentlich guter Mann sein. Aber trotz alledem ist mein Vater nun einmal sehr besorgt.«

»Das wundert mich, Julius; wir sind doch keine Kinder mehr, und wir brauchen uns doch nicht von bösen Menschen verführen zu lassen.«

»Das ist wohl wahr. Aber der Vater meint, die Gefahr sei zu groß.«

Inzwischen waren wir zum Eingangstor des Hofes gekommen, und Julius lief ins Haus, um seinen Vater zu rufen.

Gleich darauf kam Herr Thorson, grüßte freundlich und bat mich, ihm in sein Zimmer zu folgen.

Ich hatte vor, ihm sofort zu erzählen, weshalb ich gekommen sei. Aber nach dem, was ich eben von Julius gehört, war mir etwas ängstlich zumute. Ich wußte nicht recht, wie ich anfangen sollte. Doch half er mir bald aus meiner Verlegenheit.

»Den Grund deines Besuches kann ich wohl erraten«, begann er; »du willst gewiß Abschied nehmen.«

»Ja, Herr Thorson, und Ihnen danken für die Güte, die Sie mir immer erwiesen haben.«

»Das laß schon gut sein. Aber ich höre, du willst nach Frankreich reisen. Wann denkst du uns zu verlassen?«

»In einigen Tagen mit dem kleinen Schiff von Rönne, das nach Kopenhagen fährt.«

»Du meinst wohl das kleine Handelsschiff ›Valdemar‹, mit Kapitän Foß? – Das ist allerdings ein sehr kleines Schiff, ein Einmaster mit drei Matrosen.«

»Und einem Knaben«, fügte ich bei.

»Ja, ja; aber der zählt nicht mit. Er wird wohl Koch sein und ist nicht viel älter als du.«

»Ja, aber dann sind noch der Kapitän und der Steuermann da.«

»Ohne Zweifel! Es wäre schlimm, wenn die fehlten. – Du willst also nach Frankreich reisen. Hast du wirklich große Lust dazu?«

»Ja, Herr Thorson.«

»Nun, das kann ich mir wohl vorstellen. Du bist noch ein Kind und denkst nur an das Verlockende einer solchen Reise. Du betrachtest eben das Leben noch mehr von der heitern Seite. Schon gut. – Aber denkst du auch daran, daß es draußen in der Welt Gefahren gibt, und das ganz besonders für einen Knaben in deinem Alter?«

»Was für Gefahren meinen Sie, Herr Thorson?«

»Ich meine die Gefahren, welche deiner Seele, deinem Glauben und deiner Tugend drohen. Hat dich denn niemand darauf aufmerksam gemacht, wie gefährlich es für einen kleinen Jungen unter wildfremden Menschen weit weg von der Familie und von allen Verwandten sein kann?«

»Doch, Herr Thorson, ich habe schon davon gehört und auch in Büchern davon gelesen. Aber ich habe mir fest vorgenommen, immer gut zu sein und alles Böse zu meiden.«

»Das ist ein guter Vorsatz, aber du bist noch zu jung, um ihn halten zu können, wenn du ganz allein dastehst. – Ich fürchte sehr für dich, mein kleiner Nonni …«

Ich wurde verlegen und wußte nicht, was ich sagen sollte. Doch nach einer kleinen Pause fiel mir folgende Antwort ein:

»Ich glaube nicht, daß Sie für mich bange zu sein brauchen, Herr Thorson. Ich werde mich sicher nicht von den bösen Menschen verführen lassen. Ganz sicher nicht.«

»Und wer wird dir zur Seite stehen, dir helfen und dich mahnen, wenn du von deiner Mutter getrennt bist?«

»Meine Mutter hat gesagt, daß der Edelmann, zu welchem ich gehe, ein sehr guter und gottesfürchtiger Mann ist. Er wird mich mahnen und für mich sorgen.«

»Ach, du armer Junge, einen Vater und eine Mutter wird er schwerlich ersetzen können.«

»Aber die Mutter hat mir auch noch gesagt, daß Gottes Vorsehung ebensogut für mich in Frankreich sorgen wird wie hier.«

»Ja, das ist gewiß wahr. Aber dann mußt du selbst dich an Gott halten und täglich zu ihm beten. – Ob du das auch tun wirst, mein kleiner Nonni, wenn die Mutter nicht mehr da ist, um dich daran zu erinnern?«

»Ja, Herr Thorson, ich werde es tun. Ich habe es mir fest vorgenommen. Übrigens hat mir die Mutter versprochen, mir oft zu schreiben.«

»Schon recht, kleiner Freund, das sind gewiß gute Gesinnungen. Möchtest du sie nur immer behalten! Aber eine so weite Reise ist doch eine sehr gewagte Sache …«

Wir sprachen noch eine Zeitlang hin und her über die Gefahren, die meiner in Frankreich warteten.

Doch ließ ich mich dadurch nicht weiter einschüchtern.

Es wurden mir nun einige Erfrischungen angeboten, die ich mit meinem Freunde Julius zusammen genießen durfte.

Dann nahm ich herzlich Abschied von Herrn Thorson und versprach ihm, die Ermahnungen, die er mir gegeben, nicht zu vergessen. Der biedere Mann küßte mich nach Landessitte und drückte mir nebenbei still einige Taler in die Hand. Dabei sagte er mir leise ins Ohr:

»Leg das zu deinem Taschengeld, kleiner Freund! Und nun lebe wohl! Gott sei mit dir!«

Ich war ganz gerührt von dieser Güte.

Jetzt mußte ich mich noch von meinen kleinen Freunden und Freundinnen verabschieden. Die kleinen Mädchen fingen an zu weinen; die Knaben folgten ihrem Beispiel. Alle Augen füllten sich mit Tränen. Das waren wehmütige Augenblicke.

Ich holte meinen Pony, und Julius begleitete mich noch ein Stück Weges den Berg hinab.

Wir waren beide sehr traurig. Keiner sprach ein Wort. – Endlich aber trennten wir uns mit Tränen in den Augen.

Ich schwang mich auf mein Pferd, und nassen Blickes schauten wir einander nach. –

Als ich nach Hause kam, erzählte ich meiner Mutter, wie freundlich Herr Thorson gegen mich gewesen sei und was für eine Menge Ratschläge er mir gegeben habe.

»Ja, Herr Thorson ist ein guter Mann«, sagte sie, »und er hat es gewiß herzlich gut mit dir gemeint.«

»Aber Mutter«, fragte ich, »glaubst du wirklich, daß ich so großen Gefahren in Frankreich entgegengehe, wie Herr Thorson sagt?«

»Gefahren sind schon da. Wenn du aber dafür sorgst, dich täglich im Gebet an Gott zu wenden, dann fürchte ich nichts für dich.«

»Dann will ich immer fromm und brav sein, Mutter«, sagte ich mit Nachdruck, indem ich meiner guten Mutter um den Hals fiel.

Ohne ein Wort zu sprechen, drückte sie mich an ihr Herz und küßte mich. –

Einige Tage später rief meine Mutter mich wieder und sagte:

»Heute wollen wir beide zusammen zu Pastor Magnusson reiten. Du weißt, er ist ein besonderer Freund unseres Hauses.«

»O, das ist prächtig, Mutter! Das ist mal eine weite Reise, und zudem mag ich den Pastor Magnusson gut leiden.«

»Das weiß ich, mein Junge. Ich habe aber noch einen besondern Grund, gerade ihn zu besuchen«, fuhr die Mutter fort. »Ich möchte nämlich seine Meinung über deine Reise hören. Er ist ein gottesfürchtiger geistlicher Herr und dazu ein gelehrter und kluger Mann. Außerdem ist er auch, im Gegensatz zu Herrn Thorson, etwas optimistisch veranlagt. Ich bin gespannt, zu erfahren, was er von deinem Aufenthalt in Frankreich hält.«

»Ja, das wird interessant werden. Wann reiten wir?«

»In einer Stunde. Mach dich also gleich fertig. Vergiß nicht, Gesicht und Hände zu waschen und das Haar zu ordnen.«

»Gut, Mutter, ich werde sogleich fertig sein.«

In aller Eile machte ich mich so rein und fein, wie ich konnte.

Eine Stunde später begaben wir uns auf den Weg.

Ich ritt einen Goldfuchs, die Mutter saß auf einem stahlgrauen Schimmel. Diese galten bei uns als die feinsten.

Unterwegs sprachen wir nur wenig; denn die Pferde waren sehr willig und liefen beständig in starkem Trab, so daß es schwer war, ein Gespräch zu führen.

Nach etwa zwei Stunden waren wir am Ziel.

Die Leute empfingen uns sehr freundlich und boten uns zunächst eine kleine Stärkung an. Dann führte der Pastor uns in sein Zimmer und bat uns, Platz zu nehmen.

Ich sehe noch den ehrwürdigen Greis mit dem gutmütig lächelnden Gesicht, wie er dasaß, den Arm auf den Schreibtisch gestützt, und meine Mutter fragend anschaute.

Er war über 75 Jahre alt und wegen seiner schwachen Gesundheit kurz vorher in den Ruhestand getreten. Er hatte sich nie schonen wollen und war jetzt ein abgearbeiteter, kränkelnder Mann geworden.

»Herr Pastor«, hub meine Mutter an, »ich komme, um Sie in einer wichtigen Sache um Rat zu fragen. Ich habe vor, meinen Sohn, den Knaben hier, nach Frankreich reisen zu lassen. Er soll dort studieren. Da er aber noch jung ist, könnte er leicht von der fremden Umgebung ungünstig beeinflußt werden und zuletzt vielleicht Schaden an seiner unsterblichen Seele leiden. Einige Freunde haben mir deshalb abgeraten. Was meinen nun Sie, Herr Pastor, und was würden Sie mir wohl raten?«

Herr Pastor Magnusson sah mich erst mit großen Augen an. Dann sagte er:

»Es ist wahrhaftig ein seltener Fall, daß ein Knabe in diesem Alter von hier nach Frankreich reist, um zu studieren. – Ich wünsche dir Glück, mein kleiner Freund! Es kann für dich ein großer Segen werden.«

Der freundliche Greis schwieg eine Weile und blickte sinnend vor sich hin. Dann fuhr er fort:

»In alten Tagen ist einer der größten Männer Islands auch nach Frankreich gereist. Er weilte dort viele Jahre und studierte an der Pariser Hochschule. Dann ließ er sich zum Priester weihen. Schließlich kam er hierher zurück als ein überaus gelehrter Mann. – Du kennst doch sicher seinen Namen, mein kleiner Nonni?«

Ich fühlte, daß ich rot im Gesicht wurde, denn ich konnte im Augenblick nicht herausfinden, wer es war.

Pastor Magnusson merkte meine Verlegenheit und kam mir gleich zu Hilfe.

»O doch, Nonni, du kennst seinen Namen schon. Er soll ein Buch zusammengestellt haben, das eines der berühmtesten Bücher der Welt geworden ist.«

Jetzt wußte ich Bescheid.

»Es war Sæsmundr der Weise«, sagte ich, »der die Lieder der älteren Edda gesammelt haben soll.«

»Ganz richtig«, erwiderte Herr Magnusson und fuhr lächelnd fort: »Und jetzt willst du nach Frankreich reisen wie Sæsmundr der Weise? – Wer weiß, vielleicht wirst auch du einst ein gelehrter Mann, am Ende gar ein berühmter Geistlicher werden wie er.«

»O nein, Herr Pastor!« antwortete ich lachend. »Ich glaube nicht, daß ich je ein gelehrter Mann werde. – Aber ganz sicher werde ich niemals ein berühmter Geistlicher. Ich will bloß in Frankreich studieren, und dann wähle ich mir irgendeinen Beruf, der mir gefällt.«

Pastor Magnusson nickte mir freundlich zu. – Dann wandte er sich an meine Mutter und sagte:

»Nun, es wird mit Ihrem Sohne gehen wie mit uns allen: wir machen unsere Pläne und meinen, unsern Lebenslauf selbst zu ordnen und zu bestimmen. Und doch sind wir es trotz unserer Freiheit in Wirklichkeit nicht; es ist ein anderer, der alles ordnet und lenkt und uns zuletzt zu Zielen führt, an die wir vielleicht nie gedacht hatten.«

»Wer ist das, Herr Pastor, der uns so führt?« fragte ich.

»Es ist die Vorsehung Gottes, mein kleiner Freund.«

Und wieder an meine Mutter gewandt, fuhr Herr Magnusson fort:

»Sie fragen mich um meinen Rat anläßlich der Reise Ihres jungen Sohnes. Es ist ja gewiß ein überaus wichtiger Entschluß, den Sie da fassen müssen. Es ist ein Schritt, der für das ganze Leben des Knaben entscheidend werden kann.«

Diese Worte des guten Greises stimmten mich sehr ernst, und wir saßen alle drei eine Weile schweigend da.

Bald fuhr aber Herr Magnusson fort, und indem er mir einen väterlichen Blick zuwarf, fragte er mich:

»Und was meinst du eigentlich selber, mein kleiner Nonni, von dieser gewaltig großen Reise? Fürchtest du dich nicht, so weit in eine dir gänzlich unbekannte Welt hinauszuziehen?«

»Hie und da wird es mir etwas merkwürdig zumut, Herr Pastor, wenn ich an meine Abreise denke.«

»Und was ist es, was dich dann drückt?«

»Es ist besonders der Gedanke, daß ich meine Mutter verlassen muß. Das tut mir schrecklich leid.«

Bei diesen Worten traten mir die Tränen in die Augen.

Pastor Magnusson faßte tröstend meine Hand und sagte:

»Das kann ich begreifen, mein gutes Kind, aber Gott wird dir nicht nur ein Vater, sondern auch wie eine liebreiche Mutter in der Fremde sein. – Gibt's aber sonst etwas, was dich wegen dieser Reise beunruhigt?«

»Vieles nicht, Herr Pastor, aber doch einiges: ich habe z. B. gehört, daß die Knaben im Auslande ganz anders behandelt werden als hier bei uns. Man sagt, sie hätten keine Freiheit wie wir und dürften nicht mit den Erwachsenen umgehen, sondern müssen immer unter sich sein wie Schafe in einer Hürde. – Das mißfällt mir sehr.«

Pastor Magnusson erwiderte lächelnd:

»Etwas Wahres ist daran. Hier darfst du dich sozusagen in völliger Freiheit in Berg und Tal und auf dem Meere noch dazu herumtummeln. Eine solche Freiheit gibt's im Auslande nicht so leicht. Da leben die jungen Leute in den Erziehungsanstalten unter sich und müssen sich gewissen – übrigens sehr vernünftigen – Bestimmungen fügen. Davor braucht es dir aber nicht bang zu sein. Du wirst dich schon leicht daran gewöhnen.«

»Dann hat auch der Herr Thorson zu Hals mir gesagt, ich könnte leicht unter den fremden Menschen meine Seele verlieren. – Das macht mir aber keine so große Furcht, denn ich habe mir fest vorgenommen, brav und fromm zu bleiben.«

»Wenn du in dieser Gesinnung beharrst, wirst du deine Seele im fremden Lande nicht verlieren, mein kleiner Nonni«, entgegnete Herr Magnusson.

Jetzt bat er meine Mutter, ihm etwas Näheres über die Veranlassung zu meiner Reise zu erzählen.

Sie sagte ihm nun alles über den französischen Edelmann in Avignon, und wie das Ganze überhaupt gekommen sei.

Er hörte aufmerksam zu, und als sie fertig war, dachte er zuerst etwas nach. Dann sprach er mit Nachdruck:

»Wie klingt doch alles das außergewöhnlich! Diese ganze Sache kommt mir wie eine Fügung Gottes vor.«

Es entstand eine Pause.

»Sie meinen also nicht, Herr Pastor«, fragte schließlich meine Mutter, »daß ich Grund habe, zu fürchten?«

»Nein, ich glaube es nicht. Ich bin im Gegenteil davon überzeugt, daß es Gott selber ist, der Ihren Sohn auf diesen Weg führt, und daß er daher auch über ihn wachen wird. Sie brauchen keine Angst zu haben. – Aber du, mein kleiner Nonni«, wandte er sich jetzt an mich, »du mußt dich bemühen, deinem Vorsatze treu zu bleiben: ein frommer und braver Knabe zu sein.«

Dann schloß Herr Magnusson mit folgenden Worten, die großen Eindruck auf mich machten:

»Ich glaube fest an eine höhere Macht, die alles in unserem Leben leitet. Es gibt keinen Zufall in der Welt. ›Die Würfel werden in den Schoß geworfen, aber der Herr verteilt sie‹, sagt die Heilige Schrift. Alles, was uns trifft, mag es angenehm oder unangenehm, groß oder klein sein, kommt uns von Gott her und wird uns immer von ihm zu unserem Besten gegeben.«

»Sie glauben also wirklich, daß es Gottes Wille ist, daß mein Sohn nach Frankreich reisen soll?« fragte meine Mutter.

»Ja, es ist meine feste Überzeugung«, antwortete Herr Magnusson. »Was Gott mit dem Knaben vorhat, weiß ich nicht, aber ich glaube sicher, daß es sich hier um eine ganz besondere Fügung seiner Vorsehung handelt, und daß Ihr Kind einem großen Glück und Segen entgegengeht.«

Ich war erstaunt über die Sicherheit, mit welcher Herr Magnusson sprach, und ich fühlte mich in meinem Entschluß, nach Frankreich zu reisen, mächtig gestärkt.

Meine Mutter dankte dem Pastor für die Aufklärungen, die er uns gegeben. Dann sprach auch ich meinen Dank aus.

Ich sah, er war innig gerührt, während ich ihm dankte.

Leise zog er mich etwas auf die Seite und drückte mir drei Taler in die Hand.

»So«, sagte er, »da mußt du noch etwas Taschengeld haben auf die lange Reise. Halte dich nur immer an unsern Herrn und Gott. Er wird sich deiner annehmen.«

Ich dankte ihm noch einmal herzlich für seine Freundlichkeit.

Dann nahmen wir Abschied und ritten heim.

Noch lange dachte ich nach über alles, was Pastor Magnusson von der Vorsehung Gottes gesagt hatte. Meine Reise schien mir eine neue unerwartete Weihe bekommen zu haben. Gott hatte etwas Wichtiges mit mir vor, dachte ich, und all mein Sehnen und Trachten ging nun darauf aus, seinen geheimnisvollen Absichten zu entsprechen.

Eins aber konnte ich nicht begreifen, wie Pastor Magnusson und Herr Thorson, beide erfahrene und kluge Männer, ganz die entgegengesetzte Ansicht über meine Auslandsreise haben konnten. – Nun, sagte ich zu mir selbst, du wirst schon sehen, wer von beiden recht hat, wenn du zu dem deutschen Herrn in Kopenhagen kommst, und vielleicht mehr noch, wenn du mal in dem fernen Frankreich bist. –

Mein Reitpferd hatte in den folgenden Tagen wenig Ruhe. Täglich ritt ich bald da-, bald dorthin im Eyjafjördur herum. Überall, wohin ich kam, war das Erstaunen groß, sobald mein Vorhaben bekannt wurde.

Ich fand allgemeine Teilnahme; manche gaben mir zu Ehren sogar ein kleines Abschiedsfest.

Mein Geldtäschchen, das ich einst von einem französischen Knaben gegen eine Mundharmonika eingetauscht hatte, wurde immer schwerer. Jeder wollte beitragen zur Aussteuer für meine Reise. Es war zuletzt so voll von blanken Talern, daß ich mir ein größeres verschaffen mußte.

Es kam mir vor, als wäre ich auf einmal ein reicher Mann geworden. – –

Das Urteil über meine Reise war sehr geteilt. Das zeigte sich am auffälligsten an meiner Geburtsstätte, dem großen Hofe Mödruvellir im Hörgártale.

Der Weg dorthin und zurück erforderte eine ganze Tagereise. Ich brach daher schon früh am Morgen auf. Das Wetter war herrlich; die Sonne schien heiter und klar.

Bevor ich zum Hofe selbst hinaufritt, mußte ich einen kleinen Abstecher machen, um bei meinem früheren Pfarrer, dem Pastor Bórdur, meinen Taufschein zu holen.

Der Pastor empfing mich sehr freundlich. Zuerst mußte ich ihm etwas über meine nah bevorstehende Reise erzählen. Dann überreichte er mir meinen Taufschein und sprach:

»Mein lieber Freund, diese Reise wird dir zum Heile dienen, wenn du dich brav hältst.«

»Ich werde mich bemühen, fromm und brav zu sein, Herr Pastor, ich habe es mir eigens vorgenommen.«

Pastor Bórdur lächelte und sagte: »Das freut mich aber sehr, mein kleiner Nonni, daß du den Vorsatz eigens gemacht hast, und es wird mich noch mehr freuen, wenn du ihn hältst.«

»Darauf können Sie bauen, Herr Pastor.«

Bevor ich ging, fragte ich nach meiner Schuldigkeit wegen des Taufscheines und holte aus der gefüllten Geldtasche einen Taler hervor.

»Schon gut«, winkte er ab, »beraube dich nicht deines Taschengeldes. Ich will lieber noch etwas dazulegen.«

Er gab mir einen Doppeltaler und sagte lächelnd: »Möge er dir ein Glückspfennig sein.«

Zum Abschied reichte er mir die Hand und sprach: »Gott segne dich, solange du lebst!«

Ich war ganz gerührt. Den lieben, guten Pastor Bórdur aber habe ich nie mehr vergessen.

Dann ging es weiter nach Mödruvellir.

Auf diesem ausgedehnten Hofe wohnten mehrere Familien. Zweien von ihnen mußte ich einen Besuch abstatten.

Zuerst stellte ich mich vor in der feinen Amtmannswohnung. Sie war stattlich und hoch und aus Ziegelsteinen gebaut, eine große Seltenheit in dem von Erdbeben so oft heimgesuchten Lande. Das Haus hieß »Friedrichsgabe«.

Hier wurde mir eine Tasse frischer warmer Milch gereicht, mein Lieblingsgetränk.

Nun aber wurden tausend Fragen an mich gerichtet, und ich gab Antwort, so gut ich konnte.

Schließlich wollte auch jedes seine Meinung kundgeben. Das Urteil insgesamt war recht günstig. Wie um die Wette wurde auf mich eingeredet:

»Das ist das größte Glück, das du dir wünschen kannst. – Du findest die beste Gelegenheit, dich auszubilden. – Dies ist aber ein Vorteil, um den mancher junge Mann dich beneiden könnte. – Es ist ja, als wenn dir auf einmal alle Güter der Erde zu Füßen gelegt würden. – Danke Gott auf den Knien dafür.« –

Mit herzlichen Worten nahm ich Abschied von den lieben Leuten und ging in das andere Haus.

Hier wohnte eine zahlreiche Bauernfamilie. Alles war auch da neugierig auf mich, und ich mußte fast dieselben Fragen beantworten.

Aber wie so ganz anders urteilten diese Leute!

»Du armer Junge! – Es ist unbegreiflich, daß deine Mutter so etwas zuläßt. – Warum willst du von uns fortreisen und heimatlos bei wildfremden Menschen umherirren? Wohin soll das führen? – Da ist sicher der Teufel im Spiele. – Du wirst in die Hände von gewissenlosen Menschen fallen, und was wird dann aus dir werden? – Sei doch vernünftig und bleib hier und stürz dich nicht ins sichere Verderben!«

Die braven Leute meinten es so aufrichtig und so gut.

Mir aber kam es wieder sonderbar vor, daß so viele Menschen die entgegengesetzte Ansicht in derselben Sache haben konnten.

Doch nahm ich mir all die Worte nicht weiter zu Herzen. Mein Entschluß stand fest, nichts vermochte daran zu rütteln.

Ich fürchtete mich nicht mehr vor den großen Gefahren, die mir in dem fremden Lande bevorständen, sondern hatte die feste Überzeugung, daß ich unter dem Schutz von guten Geistern sei und von einer gütigen Vorsehung geleitet würde.

Nur eines machte mir noch Sorge: die Unglückspropheten könnten meine Mutter umstimmen.


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