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15. Über den Polarkreis hinaus

Lange blieben wir an der friedlichen Insel vor Anker hegen.

Ein Tag verstrich nach dem andern, ohne daß wir absegeln und die große Reise über den Atlantischen Ozean nach Dänemark antreten konnten. Immerfort herrschte Windstille, und die Eisberge, so sagte uns der Steuermann, bedeckten das Fahrwasser draußen auf dem Meere.

Von hier aus konnte man sie zwar noch nicht sehen, aber sie hatten dort Stellung genommen wie ein unabsehbares Heer und versperrten uns den Weg.

Stellenweise trieben einzelne sogar bis dicht an die lotrechte Felsenküste und drohten, unser kleines Schiff zu zerquetschen, wenn es sich erdreisten sollte, in ihr Gebiet zu kommen.

Wir konnten nichts anderes tun als warten.

Die Matrosen sagten, es wäre möglich, daß wir wochen-, ja monatelang von den Eisbergen hier festgehalten würden.

Das war eine betrübende Aussicht, und mir wurde ganz weh ums Herz.

Acht volle, lange Tage vergingen. Da endlich kam Erlösung, und zwar mitten in der Nacht.

Ich lag im besten Schlafe. Plötzlich wurde ich aufgeweckt. Mein Bett bewegte sich nach rechts und links, hob und senkte sich, ja die ganze Kajüte, das ganze Schiff war in starker Bewegung.

Der Kapitän in seiner Koje neben mir wurde unruhig und rief:

»He! Steuermann! wir müssen auf!«

Dann sprang er vom Bett und rief nochmals laut:

Steuermann! schnell auf! Es ist höchste Zeit! – Daß dies auch gerade in der Nacht kommen mußte!«

Noch halb schlaftrunken, gab der Steuermann zur Antwort:

»Besser in der Nacht als gar nicht.«

In demselben Augenblick donnerten ein paar Faustschläge gegen die Kajütentür.

Ich schaute hin. Da die Nachtlampe nur noch eben glimmte, schien es mir in dem Halbdunkel, als käme ein mit Schmutz bedeckter, aschgrauer Eisbär zur Tür herein.

Es war der wachhabende Matrose. Er wollte die beiden Schiffsherren wecken.

»Herr Kapitän!« polterte er, indem er eintrat und seinen Südwester abnahm.

»Ja, ja!« antwortete der Kapitän. »Wie ist der Wind?«

»West-Süd-West, Herr Kapitän.«

»West-Süd-West?« wiederholte dieser freudig. »Alle Mann auf Deck! Aber geschwind!«

»Jawohl, Herr Kapitän«, erwiderte der Matrose, setzte seinen Hut auf und trampelte zur Tür hinaus.

»Das war doch ein Glück«, sagte der Kapitän und warf sein Lederwams über den Kopf. »Besserer Wind konnte nicht kommen. – Sind Sie fertig, Steuermann?«

»Ja, Herr Kapitän, im Augenblick.«

Der Kapitän wandte sich zur Tür. Aber in der Eile dachte er nicht daran, daß mein Bett im Wege stand. Er strauchelte und fiel auf mich.

»O du kleiner Schelm! stellst mir da ein Bein. Habe ich dir weh getan?«

»Nein«, stöhnte ich, »es ist nicht schlimm.«

»Gott sei Dank! Ich fürchtete schon, ich hätte dich verletzt.«

»O, es macht nichts. – Aber was ist denn los, Herr Kapitän? Segeln wir ab?«

»Jawohl, Nonni, wir fahren jetzt geradeswegs nach Kopenhagen.«

»Soll ich auch aufstehen?«

»Nein, mein Lieber, bleib nur liegen und schlafe, wenn du kannst.«

Dann ging er.

»Ja, wenn du kannst«, wiederholte der Steuermann mit Nachdruck und verließ ebenfalls die Kajüte. –

Ich legte mich auf den Rücken und spitzte die Ohren, was nun oben alles geschehen würde.

Bald trampelten die Matrosen in ihren schweren Stiefeln geschäftig auf dem Deck herum.

Sie lichteten die Anker und sangen dazu ihre gewohnte eintönige Weise.

Die Segel wurden gehißt, das Fahrzeug legte sich auf die Seite und strich in schneller Fahrt über die Wellen.

Da hörte ich jemand die Treppe herabkommen. Es war Owe, der sich für einen Augenblick zu mir hereinschlich.

»Hallo!« rief ich ihm entgegen, »jetzt geht es schnurstracks nach Dänemark!«

»Ja, Nonni, hoffentlich wird es Ernst. Aber wir bekommen bald Sturm und turmhohe Wellen. Mach dich nur auf Seekrankheit gefaßt.«

»Dann bekommst du sie auch.«

»Das ist möglich. Ich habe aber nichts dagegen. Der Sturm ist jetzt das Beste, was wir wünschen können.«

»Warum denn, Owe?«

»Weil nur er uns vor unserm schlimmsten Feind, den Eisbergen, retten kann.«

»Nun verstehe ich. O, dann schadet es nichts, wenn wir auch ein wenig seekrank werden. – Aber was meinst du, soll ich nicht aufstehen?«

»Nein, tu das nicht. Versuche lieber noch etwas zu schlafen. Der Sturm wird dich früh genug wecken. Wenn wir einmal im offenen Meer sind, wirst du schon von selbst aus dem Bett kommen.

»Doch ich muß gehen und Kaffee kochen«, brach er ab und lief hinauf.

Ich lag wieder allein in der dunklen Kajüte.

Vom Deck drang lärmende Unruhe herab, und die Wellen gingen immer höher.

Gleichwohl schlummerte ich bald ein.

Aber auf einmal erwachte ich wieder und stand in der Ecke meines Bettes fast auf dem Kopf.

»Haha!« dachte ich, »das ist der Sturm. Nun geht das Rutschen wieder los.«

Das war jedoch nichts Neues für mich. – Ich kauerte mich zusammen und schlief nochmals ein.

Aber wieder dauerte es nicht lange, da wurde ich von der einen Ecke des Bettes in die andere geworfen.

Jetzt hatte ich genug. Ich stand auf und ging auf Deck.

Wir waren bereits außerhalb des Fjords und segelten östlich um Island.

Der Wind war günstig und trieb uns schnell voran. Doch da wir mit ihm fuhren, merkte man nicht, daß er so stark war.

Ich stand an der Reling und blickte auf das Land hinüber.

Da rief ein Matrose mir zu:

»Ja, kleiner Isländer, schau dir nur dein Vaterland noch einmal gut an; es wird wohl lange dauern, bis du es wiedersiehst.«

Ich betrachtete die düstern, lotrechten Felsen. Ernst und stumm hoben sie sich aus den wilden Wogen.

Unaufhörlich wälzten die Wellen sich zum Ufer hin und zurück, und in langer, schneeweißer Reihe brandeten sie schäumend die steinige Felswand hinauf.

Aber unbeweglich standen die gewaltigen Riesen auf ihren Grundfesten.

»O Island, starke Felseninsel im brausenden Meere!«

Aus tiefstem Herzen entbot ich auf den Schwingen des heulenden Sturmes dem lieben Vaterlande den letzten Abschiedsgruß. – Ich war überzeugt, daß ich es nie mehr sehen würde 25 Jahre später, im Sommer 1894, sah ich meine liebe Heimat doch noch wieder. Ich machte damals in Begleitung eines zwölfjährigen Knaben einen Ritt quer durch die Insel. Diese Reise habe ich in dänischer Sprache geschildert in dem Buche »Et Ridt gennem Island«. Es wurde dann ins Französische, Englische und zuletzt noch unter dem Titel »Zwischen Eis und Feuer« von J. Mayrhofer ins Deutsche übersetzt..

Meine Augen füllten sich mit Tränen.

Wehmütig wandte ich den Blick von der teuren Insel und lenkte ihn auf das wogende Meer und die zahllose Schar von Seevögeln, die uns begleiteten.

Das Schiff strengte sich gewaltig an.

Es kam mir vor wie ein lebendes Wesen, das seufzend und stöhnend voraneilt, um heimzukommen und im stillen Hafen von den Strapazen auszuruhen.

Bald war ich wieder munter und fand Freude an dem frischen, gesunden Seemannsleben.

Von orkanartigem Sturme getrieben, jagten wir beständig gegen Osten.

Wir mußten nämlich erst die nordöstliche Spitze Islands, Rifstangi und Langanes, umsegeln, bevor wir die Richtung südwärts auf Dänemark zu einschlagen konnten.

Die Küste sank immer tiefer und tiefer ins Meer, und bald hatten wir uns wieder, wie acht Tage früher, so weit vom Lande entfernt, daß wir nur Himmel und Wasser sahen.

Auffällig war mir, daß sich trotz der hohen Wellen weder bei Owe noch bei mir die Seekrankheit einstellte.

Das kam aber wohl daher, daß wir den Wind im Rücken hatten und deshalb flott über die Wasserberge dahinglitten.

Spät am Nachmittag trat ein sonderbarer Wechsel im Wetter ein. Fern am östlichen Himmel stieg eine Menge kleiner, dunkelblauer Wolken auf. Kapitän und Steuermann beobachteten sie außergewöhnlich aufmerksam.

Um zu erfahren, was das sei, machte ich mich so nahe wie möglich an sie heran. An die Reling gelehnt, tat ich, als ob ich die Wogen betrachtete.

»Meine Meinung ist«, sagte der Steuermann, »daß der Sturm, der dort heranzieht, in einigen Stunden auch hier losbricht. Er wird äußerst heftig werden und uns weit gegen Norden treiben. Und da haben wir die Eisberge wieder. Es wäre daher wohl das beste, wir suchten in einen Fjord des Ostlandes zu kommen und warteten dort so lange, bis das Unwetter vorüber ist.«

»Sie können wohl recht haben«, erwiderte der Kapitän; »doch ziehe ich es vor, auf offenem Meer zu bleiben, auch auf die Gefahr hin, daß wir in die Nähe der Eisberge kommen. Der Sturm kann unmöglich so lange währen, daß er uns wirklich in Lebensgefahr bringt. Übrigens sind wir schon so weit östlich, daß wir uns ruhig ein paar Tage nach Norden treiben lassen dürfen. Die Eisberge befinden sich weiter im Westen.«

Jetzt wußte ich genug. Schnell lief ich zu Owe, um ihm die Neuigkeit mitzuteilen.

Er war in der Kambüse und bereitete eben von dem Helleflunder eine Mahlzeit für die ganze Besatzung.

Ich setzte mich in einer Ecke nieder.

»Owe, ich kann dir etwas Wichtiges mitteilen.«

»So? was ist denn das?« fragte er, »und woher weißt du es?«

»Vom Kapitän und Steuermann selbst.«

Nun erzählte ich ihm, was ich von diesen gehört hatte, und mit ernsthafter Miene setzte ich hinzu:

»Morgen früh werden wir wohl mehrere Meilen nördlich vom Polarkreis sein.«

»Aber«, erwiderte er, »dann treiben wir ja auf die Eisberge los.«

»Das gerade nicht, meinte der Kapitän. Wir sind ja beständig nach Osten gesegelt, und die Eisberge kommen vom nördlichen Amerika, also von Westen her.«

»Wir wollen das Beste hoffen, Nonni. Aber es sind ernste Neuigkeiten, die du da erzählst.«

»Ja, das sind sie. Und der Kapitän scheint mir diesmal sehr dreist zu sein.«

»Ja, Nonni, er wagt wirklich ein Spiel auf Leben und Tod.«

Wir wurden beide sehr ernst und saßen eine Weile stumm da. Dann sagte Owe in feierlichem Tone:

»Morgen werden wir vielleicht wichtige Dinge erleben.«

»Hoffen wir, daß wir mit heiler Haut davonkommen«, sagte ich und ging wieder aufs Deck hinaus. –

Der Wind hatte bereits stark abgenommen, und bald wurde es vollständig windstill.

Aber es dauerte nicht lange, da meldete sich der neue Sturm. Und er kam wirklich von Süden.

Erst waren es nur einzelne Stöße. Dann wurden sie häufiger und heftiger. Schließlich blies der Wind ununterbrochen. Er wurde stärker und stärker und wuchs in kurzer Zeit zu dem gewaltigen Orkan, wie Kapitän und Steuermann ihn vorausgesagt hatten.

Gegen die Riesenkräfte eines solchen Sturmes war unser Schiff natürlich ohnmächtig. Es wurde von ihm erfaßt und unaufhaltsam nach Norden gejagt. –

Ich ging zeitig zu Bett und traf meine Vorbereitungen für die Nacht; denn ich wußte, was sie mir bringen würde.

Mit starken Schnüren band ich mich fest, um nicht allzusehr im Bette herumgeworfen zu werden.

Bald fiel ich in Schlaf.

Die ganze Nacht war ein solches Heulen und Poltern und Krachen rund um mich her, daß ich nicht recht wußte, ob ich schlief oder wachte.

Im Halbschlaf träumte ich, wir seien von Wikingern angefallen worden und auf Deck werde eine blutige Schlacht geliefert.

Dann wieder entführte mich ein Traum zu den großen isländischen Wasserfällen. Sooft nämlich eine Woge über das Schiff stürzte, hörte ich ein Getöse ähnlich dem Brausen eines schäumenden Wasserfalls.

Gegen Morgen legte sich der Sturm.

Ich stand auf und begab mich auf Deck.

Beim Anblick des Meeres war ich ganz überrascht. Nirgends auch nur eine Spur von den Eisbergen.

Der Kapitän hatte also recht gehabt. Das Eis war auf der Wanderung von Amerika her noch nicht so weit nach Osten getrieben.

Ich ging zum Steuermann und fragte, wo Island läge.

Er zeigte nach Süden.

»Dort, weit, weit von hier. Diese Nacht waren wir auf dem Wege zum Nordpol.«

Augenblicklich hatten wir schwachen Südwind und suchten mit vollen Segeln gegen Südost zu fahren.

»Wie lange«, fragte ich, »wird es wohl dauern, bis wir wieder Ost-Island erreichen?«

»Mit dem Wind, den wir jetzt haben«, antwortete er, »werden leider wohl mehrere Tage hingehen.«

»Ach«, seufzte ich, »hätten wir doch stärkeren Wind!«

»Dein Wunsch wird wahrscheinlich bald erfüllt«, erwiderte der Steuermann und warf einen sorgenvollen Blick nach Süden. –

Ja, mein Wunsch ging nur allzusehr in Erfüllung.

Noch am selben Vormittag fing der fürchterliche Orkan von Süden her wieder mit solcher Gewalt an zu toben, daß der Kapitän mir befahl, mich schleunigst in die Kajüte zu retten, damit ich nicht von den Wellen über Bord gespült würde. –

Das Unwetter wütete den ganzen Tag und die folgende Nacht. Wir kamen immer weiter nach Norden, und alle Anstrengungen, gegen den Wind zu segeln, waren fruchtlos.

Wir mußten ihm folgen, den Eisbergen entgegen, wo Tod und Verderben unser warteten.

Als ich am andern Morgen aufstand, schaukelte das Schiff gewaltig. Der Wind heulte mit ungeschwächter Kraft, der Wogengang war fürchterlich.

Die Wellen geiferten und tosten, als wären wir ringsumher von brausenden Wasserfällen umgeben.

Das war ein Kochen und Sieden und Donnern und Krachen, daß einem fast die Sinne schwanden. –

Des langen Eingesperrtseins in der dunklen Kajüte überdrüssig, kroch ich mühsam die Treppe hinauf.

Kaum hatte ich die äußere Tür geöffnet, da erhielt ich ein solches Sturzbad gerade ins Gesicht, daß ich beinahe die Treppe hinabgestürzt wäre.

Schnell schloß ich die Tür wieder und ging zurück.

Gleich darauf kam der Kapitän herein und verbot mir strengstens, ohne ausdrückliche Erlaubnis die Kajüte zu verlassen.

»Die Tür darf nur geöffnet werden«, unterwies er mich kurz, »wenn wir uns zwischen zwei Wellen befinden; sonst ist Gefahr, daß das Wasser alle Räume füllt.«

So blieb ich denn beständig eingesperrt. Draußen heulte der Wind und brausten die Wogen.

Es gab keine regelmäßigen Mahlzeiten mehr. Von warmen Speisen konnte erst recht keine Rede sein.

Ich mußte das Leben mit dem Mundvorrat fristen, den man für mich in einer Schublade des Kajütentisches zurechtgelegt hatte.

Drei Tage und Nächte trieb der Sturm sein unheimliches Spiel mit uns. Endlich am Schluß der dritten Nacht legte er sich.

Als ich am Morgen erwachte, war ich erstaunt über die plötzliche Stille und Ruhe, die auf dem ganzen Schiff herrschte.

Von Wellen keine Spur mehr.

Gottlob, dachte ich, jetzt werde ich endlich vom Kapitän die Erlaubnis erhalten, mein Gefängnis zu verlassen.

Während ich so in meinem Bett geduldig wartete, nahm ich auf einmal wahr, daß die Luft merklich kühler geworden und sogar das Licht sich auffällig verändert hatte.

Ich konnte mir das nicht erklären, richtete mich auf und schaute umher.

Was ist das doch für eine sonderbare Beleuchtung? dachte ich. Sie war blendend weiß, und doch schien die Sonne nicht. Und die Luft war so kalt, so bitter kalt.

Ich legte mich wieder nieder, deckte mich sorgfältig zu und sah gegen die dicke Glasscheibe oben in der Kajütendecke.

Das seltsame weiße Licht fiel in blendenden Strahlen auf mein Gesicht.

Ich wurde unruhig und ängstlich.

Woher diese Kälte und dieses helle Licht? Wohin in aller Welt sind wir denn gekommen? Was machen wohl die Schiffsleute?

Ich hörte keinen Laut. Auf dem ganzen Schiff herrschte Grabesstille.

Sind am Ende gar einige über Bord gespült worden?

Wenn nur Owe und der Steuermann noch am Leben sind! Ach, käme doch einer von ihnen zu mir!

Sonst erhielt ich ja morgens am Bett regelmäßig den einen oder andern Besuch. Heute kam niemand.

Zum Aufstehen aber fühlte ich wegen der beißenden Kälte wenig Lust.

Endlich wurde ich aus meiner schrecklichen Ungewißheit befreit.


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