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20. In Erwartung des Orkans

Wir befanden uns nördlich vom Polarkreis. Island lag immer noch im Süden.

Unser Schifflein hatte alle Segel gehißt und strengte sich redlich an, vorwärts zu kommen, aber vergebens; der Wind, der allein es auf der weiten Bahn beflügeln konnte, hatte sich zur Ruhe gelegt.

Ein graues Heer von Nebeln zog sich zusammen, und dichte Schwaden hüllten uns zeitweise förmlich ein.

Obwohl in diesem Fahrwasser nicht leicht Gefahr bestand, mit andern Schiffen zusammenzustoßen, mußten doch die Nebelsignale gegeben werden.

Alle fünf Minuten wenigstens einmal setzte der Wachthabende das gewaltige Nebelhorn an den Mund und tutete aus Leibeskräften.

Die langgezogenen, durchdringenden Töne wurden nie von einem Schiff erwidert: wir trieben allein in endloser Wasserwüste, keine Ausschau ringsumher.

Ab und zu begegneten wir einem einzeln schwimmenden Eisberge, diesen heillosen Wanderern und Wegelagerern in solcher Wüstenei.

Wie mir der Steuermann erzählte, stößt man in diesen nördlichen Breiten zuweilen auf Eisberge von ungeheurer Größe.

Sie sähen aus wie schwimmende Inseln, und oft hausten auf ihnen Seehunde, Seelöwen, Eisbären und eine Menge Seevögel.

Eines Tages sahen wir zur Backbordseite einen solchen Eisberg. Anfangs glaubten wir, es sei Land. Doch Kapitän wie Steuermann versicherten, daß nirgends Land in der Nähe sei.

Es war in der Tat ein Eisberg.

Der Kapitän schätzte ihn über zwanzig Kilometer lang. Bis wir an ihm vorbeikamen, brauchten wir einen vollen Tag.

Mit dem Fernglas konnte man auf ihm deutlich einzelne Eisbären und eine Anzahl Seehunde und Vögel erkennen.

So etwas hatte ich in Island, wenn die Eisberge von Grönland kamen, doch noch nie gesehen.

Aber wie horchte ich erst auf, als der Kapitän mir erzählte:

»Was meinst du, kleiner Eisbergriecher, das ist noch lange nicht der größte Eisberg. Es gibt noch viel, viel größere. Gerade an der Stelle, wo wir jetzt sind, fuhr im Jahre 1823 Clavering an einem Eisberg vorbei, der mehr als hundert Kilometer lang war.

Ein andermal wieder trafen wir einen Eisberg von eigentümlicher Gestalt. Nach der Schätzung des Steuermanns war er ungefähr 200 Meter lang und 100 Meter breit. Er ragte gut 100 Fuß hoch in die Luft und war an zwei Stellen durchlöchert. Diese Löcher glichen hohen und breiten Gewölben, groß genug für unser Schiff, um durchzusegeln. Doch hüteten wir uns vor einem solchen Wagestück.

Der Kapitän erklärte uns, wenn wir uns diesen Eisberg auf dem Lande stehend dächten, so würde seine Höhe wenigstens 700 Fuß betragen, den nur der siebte Teil der ganzen Höhe rage aus der Oberfläche des Wassers hervor. –

So ging die Fahrt einige Tage langsam und ruhig vonstatten.

Dann aber erfuhr sie eines schönen Vormittags ein ebenso rasches wie unerwartetes Ende.

Früh am Morgen weckte mich Owe mit den auffallenden Worten:

»Nonni, ich rate dir, steh sofort auf. Wir werden heute große Dinge erleben.«

Kaum hatte er diese Worte gesprochen, da taumelte er gegen mein Bett und wäre beinah auf mich gefallen.

Ich merkte, daß wir unruhige See hatten, und sagte:

»O, jetzt weiß ich, was du meinst.«

»Ja«, sprach Owe weiter, »es droht ein Sturm oder vielmehr ein Orkan, wie wir ihn seit unserer Abfahrt vom Eyjafjördur nicht erlebt haben. Der Kapitän meint, er wird uns noch im Laufe des Vormittags, vielleicht schon in ein paar Stunden mit ganzer Gewalt überfallen. Man trifft bereits alle Vorbereitungen.«

Ich wußte nicht, was er damit meinte, und fragte:

»Welche denn?«

»Das kannst du mit eignen Augen sehen, wenn du dich jetzt ankleidest und mit auf Deck kommst.«

Statt zu antworten, sprang ich aus dem Bett und nahm meine Kleider.

»Wie kann man denn einen solchen Sturm voraussehen?« wandte ich mich wieder an Owe, während ich mich fertig machte.

»Die großen Orkane«, antwortete er, »pflegen schon mehrere Stunden voraus durch gewisse Anzeichen ihren Ausbruch anzukündigen.«

»Hast du denn heute eins von diesen Zeichen gesehen?«

»Ja, heute morgen früh sah der Himmel ganz anders aus als sonst. Am nördlichen Horizont war ein pechschwarzer Streifen, darüber ganz auffallende Farben, hellgrün, gelb, violett. Diese Farben veränderten sich beständig und gingen so eigentümlich ineinander über.

»Das Barometer soll so tief gestanden sein, daß selbst der Steuermann sagte, er habe nie in seinem Leben etwas Ähnliches gesehen.«

»Sind Kapitän und Steuermann bange?«

»Bange? – Das darf ein Kapitän oder Steuermann nie sein, Nonni.«

»Glaubst du, Owe, daß der Orkan wirklich so gefährlich werden wird?«

»Ja, das glaube ich allerdings. Weißt du denn nicht, daß die Herbststürme bei Island sehr heftig sind und lange dauern?«

»Ja, das weiß ich sehr gut, Owe. Im Spätjahr gehen dort zuweilen Schiffe und Boote dutzendweise zugrunde.«

»Und zum Unglück ist unser Kapitän noch nicht wiederhergestellt, und ein Matrose liegt schwer krank danieder. Wenn der Orkan lange währt, wie werden dann die paar noch rüstigen Leute sich ablösen und ausruhen können?

»Und dazu noch die schwimmenden Eisberge! Des Nachts, zumal bei Nebel, können wir jeden Augenblick mit ihnen zusammenstoßen.«

»Aber Owe, wenn wir nur nicht ums Leben kommen!«

»Nun, an so Schreckliches mußt du nicht gleich denken, Nonni«, tröstete er. »Die Gefahr wird wohl auch wieder vorübergehen.«

Wir schauten uns beide eine Zeitlang schweigend an, als wollten wir einander vom Gesicht ablesen, wie es enden werde.

Doch bald gewann die jugendliche Sorglosigkeit wieder die Oberhand.

Schelmisch neckend sagte ich ganz ernsthaft:

»Nimm dich in acht, Owe; es kommt noch eine andere Gefahr dazu! – Du wirst ja bei Sturm immer seekrank!«

»Und du auch, du –«, gab er lachend zurück und faßte mich an der Schulter.

Doch Owe wurde bald wieder ernst und sagte:

»Ja, Nonni, wir stehen hier und lachen. Der Kapitän und der Steuermann und die Matrosen, die lachen nicht mehr. Du solltest mal sehen, wie ernst sie alle sind!«

Ich war mit dem Ankleiden fertig, und wir waren eben im Begriff, die Kajüte zu verlassen.

Da wurde die Tür aufgerissen, und der Steuermann stürzte herein.

Ganz gegen seine Gewohnheit schob er uns auf die Seite und sagte kein Wort. Er schaute uns nicht einmal an.

Er ging an seine Koje, nahm den Winkelmesser und sprang rasch wieder die Treppe hinauf.

»Es ist doch auffallend, wie ernst er ist«, bemerkte ich; »er ist doch sonst nicht so.«

»Das war es ja, was ich eben sagte«, antwortete Owe. »Und so sind sie alle zusammen oben.«

»Ja, Owe, ich sehe, du hast recht; es muß ernste Gefahr vorhanden sein.«

Wir eilten nun auf Deck und fanden die Matrosen und die beiden Schiffsführer in fieberhafter Tätigkeit.

Alles, was nicht schon niet- und nagelfest war, wurde nachgesehen und festgemacht.

Der Lastraum stand offen. Jedes irgendwie entbehrliche Stück wurde hineingeworfen.

Die meisten Segel und Rahen waren mit doppelten Tauen festgebunden. Selbst Owes kleine Kambüse war mit eisernen Ketten umspannt und ans Deck verankert.

Es sah aus da oben wie auf einem Kriegsschiff, wenn alles zur Schlacht bereit gemacht ist. Man hätte glauben können, wir müßten uns zu einem blutigen Kampf mit Wikingern oder Seeräubern rüsten.

Als wir eine Weile diesem Tun und Hasten zugeschaut hatten, rief uns der Steuermann.

Wir eilten zu ihm.

»Owe«, sagte er, »geh gleich und hol den großen Schinken, ein Roggenbrot und einen Topf Butter und trag alles in die Kapitänskajüte hinab.«

»Jawohl, Herr Steuermann«, sprach Owe und tat hurtig, wie ihm befohlen.

Ich wollte mit ihm gehen, wurde aber vom Steuermann zurückgehalten.

»Nonni«, sagte er mit ernster Miene, »geh in die Kajüte und nimm die Lebensmittel, die Owe holt, in Empfang. Leg sie dort in eine leere Lade, aber so, daß sie während des Sturmes nicht hin und her geworfen werden. Es ist dein Mundvorrat.

»Solange der Orkan wütet, darfst du die Kajüte nicht verlassen. Das kann diesmal lange dauern. Warmes Essen gibt es nicht, bis das Unwetter sich ausgerast hat. Fülle auch ein Dutzend leere Flaschen mit Trinkwasser aus der Tonne und bring sie in die Kajüte.«

Das der rasche Befehl des Steuermanns, und sofort war er wieder bei der Arbeit.

Ich horchte mit Aug und Ohr auf, wie er so auf mich einredete.

Ja, das war kein Scherz mehr von unserem Steuermann! Und er konnte doch immer so lustig sein.

Mir wurde allmählich ganz unheimlich zumute.

»Was wird aus uns werden?« sprach eine dumpfe Stimme in mir. »Sollten wir verloren sein?«

»Ach nein!« gab ich zur Antwort und riß mit jugendlich leichtem Sinn mich wieder aus den trüben Gedanken. »Es wird nicht so gefährlich werden. Nein, nein, ein Schauspiel wird es geben, wie du noch keins gesehen hast!

»Jetzt aber hinunter in die Kajüte, sonst wird der Steuermann schelten!«

Als ich die Wasserflaschen gefüllt und die Sachen in der Lade versorgt hatte, holte Owe vom Deck ein dünnes Tau und brachte es mir.

»Was soll ich damit machen?« fragte ich.

»Wir wollen es von der einen Ecke zur andern durch die Kajüte spannen«, erklärte Owe.

»Warum denn?«

»Kannst du das nicht erraten, Nonni?«

Ich dachte etwas nach. Dann ging mir ein Licht auf.

»Das ist wohl dazu, die Wände zusammenzuhalten, daß sie beim Sturm nicht auseinandergehen.«

Owe lachte über meinen Einfall.

»Nein, das glaubst du wohl selber nicht. Ich will dir aber sagen, wozu das ist. Bei den großen Stürmen kommt es zuweilen vor, daß die kleinen Schiffe sich so arg auf die Seite legen, daß die Wand zum Boden und der Boden zur Wand wird. Da hält man sich dann an dem gespannten Seil, damit man nicht umgeworfen wird.«

Nun war es mir klar.

Wir banden das Tau an den Eisenringen, die in den vier Ecken angebracht waren, ordentlich fest.

Owe schloß noch sorgfältig alle Schubladen und Kästen zu, damit sie während des Wellenganges sich nicht öffneten und herausfielen.

Dann eilten wir wieder auf Deck, um so lange noch als möglich die frische Luft zu genießen und besonders die Ankunft des Orkans zu beobachten.

Alles war vorbereitet auf den Kampf. Die Männer waren ziemlich ruhig geworden.

Die Stille vor dem Sturm!

Ich hörte, wie Kapitän Foß zum Steuermann sagte:

»Das wird ein böses Wetter werden! Sehen Sie mal die Wolken an!«

Damit zeigte er nach dem schweren Himmel in der Ferne.

Diese Wolken – sie waren finster wie die Nacht und zerrissen in den wunderlichsten Formen.

Mit rasender Geschwindigkeit schienen sie auf uns losgepeitscht zu werden.

»Aber ein Trost ist's immerhin«, antwortete der Steuermann, »daß sie von Norden kommen. So werden wir wenigstens nicht aus dem Kurs getrieben.« –

Eine sorgenvolle Stunde ging vorüber. Der Himmel wurde immer dunkler, und der Nordwind nahm beständig zu.

Trotzdem wir nur noch ein paar kleine Segel gehißt hatten, trieb das Schiff bereits in flotter Fahrt gen Süden.


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