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22. Sonnentage

Ich schlief die ganze Nacht ruhig und fest.

Als ich am Morgen erwachte, war ich nicht wenig überrascht, daß durch die Kajütentür, die jetzt weit offen stand, eine ungemein erquickende, reine Sommerluft hereinwehte.

Heller Sonnenschein strahlte durch Tür und Fenster und erfüllte den sonst etwas dunklen Raum mit goldenem Lichtglanz.

Das Schiff lag still – so still nach sechs lärmenden, bewegten Tagen, daß mein erster Gedanke war, wir befänden uns in einem sichern Hafen, vielleicht an der norwegischen Küste.

Ich sprang auf, wusch mich, kleidete mich an, betete das Morgengebet und lief auf Deck.

Aber wie! – Wir lagen in keinem Hafen!

Wir waren noch weit draußen auf dem großen Meer, fernab von jedem Land!

Und dieses Meer von heute!

War es dasselbe, das ich gestern gesehen? – Ich konnte es kaum glauben.

Todesstille ringsumher. Die unermeßliche Wasserfläche wie ein glänzender Spiegel, kein Fältchen darauf.

Die Sonne stand schon hoch am Himmel und strahlte in seltener Pracht.

Die Luft war so warm, wie wenn es mitten im Sommer und nicht schon Herbst gewesen wäre.

Kapitän und Steuermann hielten vorn auf einer Bank ein Plauderstündchen.

Voll Jubel und Freude sprang ich zu ihnen, reichte jedem die Hand und wünschte ihnen guten Morgen.

»Guten Morgen, kleiner Nonni«, antworteten beide herzlich, und neckend fragte der Steuermann:

»Aber wo sind denn heute dein Südwester, die Lederjacke und die Wasserstiefel? Du hast sie wohl vergessen?«

»Nein, nein, Herr Steuermann«, wehrte ich lachend; »aber ich werde sie jetzt wohl kaum mehr brauchen.«

»O, sag ja das nicht zu früh«, bemerkte der Kapitän; »wir sind noch lange nicht in Kopenhagen.«

»Glauben Sie wirklich«, fragte ich, »daß wir nochmals einen solchen Sturm bekommen können?«

»Auf der See, mein Lieber, geschehen manche Dinge.«

»Aber, Herr Kapitän, nun haben wir doch so herrliches Wetter und so prachtvollen Sonnenschein. Sollen wir das nicht auch genießen dürfen, nachdem wir so viel Ungemach erduldet haben?«

»Du sprichst ja wie ein kleiner Dichter«, meinte der Kapitän, und ein Schmunzeln umspielte seine Lippen.

»Ja, Nonni«, begann der Steuermann wieder und sah mich ganz sonderbar lächelnd an, »auf so einer Seefahrt ist oft gleich eine Überraschung da. Weißt du zum Beispiel das Neueste schon?«

»Nein, Herr Steuermann.«

»Nun, dann will ich's dir erzählen. – Heute morgen haben wir einen neuen Passagier an Bord bekommen. Hast du ihn noch nicht gesehen?«

»Aber, Herr Steuermann, das ist wohl nicht Ihr Ernst?«

»Jawohl, das ist mein voller Ernst. Wir haben wirklich einen neuen Passagier bekommen.«

»Wo ist er dann?«

»Hier auf Deck.«

Ich sah mich nach allen Seiten um, entdeckte aber keine Sterbensseele.

»Aber Herr Steuermann«, wandte ich mich wieder zu ihm, »Sie haben doch gescherzt; ich finde den Passagier nicht.«

»Nun gut«, sagte er, »so will ich dir helfen. Geh und suche ihn. Sobald du bei ihm bist, werde ich es dir sagen.«

Ich wandte mich um und ging einige Schritte voran.

»Jetzt!« rief der Steuermann.

»Wo?«

»Gerade vor dir.«

Ich ging noch weiter.

»Jetzt rechts von dir«, rief der Steuermann wieder.

Ich ging etwas nach rechts.

»Halt! Jetzt gerade über deinem Kopf.«

Ich schaute in die Höhe, sah aber keinen Passagier.

Etwas verdrossen sagte ich:

»Sie wollen mich wohl zum besten haben.«

»Durchaus nicht, Nonni; schau doch genauer zu.«

Ich hielt die Hand gegen die Sonne und schaute hinauf.

Endlich hatte ich den »Passagier« gefunden und brach in einen Ruf der Überraschung aus.

Auf einer der Rahen beim Mast saß ganz still ein allerliebster Singvogel und betrachtete mich ebenso neugierig wie ich ihn.

Seine Federn glänzten in den schönsten Farben, rot und grün und gelb.

Erstaunt fragte ich den Steuermann, wie der seltene Gast hierher gekommen sei.

»Das ist ein Bote vom Land«, gab er zur Antwort.

»Was soll das heißen?«

»Das will ich dir erklären, mein Junge. – Wenn ein Schiff von hoher See kommt und sich dem Lande nähert, geschieht es manchmal, daß sich ein kleiner Singvogel, der sich zu weit von der Küste verirrt hat, todmüd auf das Deck fallen läßt. Ein solcher Vogel heißt bei den Seeleuten ›ein Bote vom Land‹.«

»Wenn er aber nur nicht wieder fortfliegt!« sagte ich.

»Da brauchst du dir vorläufig keine Sorge zu machen«, erwiderte der Steuermann; »diese kleinen Gäste verlassen das Schiff, auf dem sie sich einmal befinden, niemals, bevor sie Land in Sicht bekommen.«

»Und dann fliegen sie fort?«

»Ja, sie fliegen dann in ihre Wälder zurück.«

Ich ging wieder zu dem Vogel, dem lieben, kleinen »Boten vom Land«.

Er brachte für einige Zeit angenehme Abwechslung in das hie und da etwas einförmige Leben an Bord und wurde bald der Liebling aller. –

Auf Deck war gerade jetzt wenig Leben.

Mit Ausnahme von Kapitän und Steuermann lag die ganze Mannschaft des Schiffes unten in ihren Kojen, um nach den vielen Strapazen der vergangenen Tage auszuruhen.

Ich wurde ermahnt, alles unnötige Trampeln zu vermeiden, damit ich die Leute nicht in ihrem Schlafe störte.

Ich hatte aber große Lust, endlich wieder einmal meine zwei Freunde, Owe und den kranken Matrosen, zu besuchen.

Schon lange hatte ich sie nicht mehr gesehen. Owe war beständig seekrank und der Matrose an das Krankenbett gefesselt.

Lautlos schlüpfte ich in die Matrosenkajüte.

Es herrschte auch tiefste Ruhe dort.

Ich schaute zunächst nach dem kranken Matrosen und fand ihn wach.

»Guten Tag, lieber Freund«, lispelte ich, »wie geht es Ihnen?«

Er faßte meine Hand, zog mich ganz zu sich und sagte leise:

»Das freut mich, Nonni, daß du kommst. Ich habe mich schon so lange nach dir gesehnt. – Es geht mir viel besser. Während des Sturmes habe ich wohl noch zu leiden gehabt; aber das ist nun überstanden.«

»Gottlob! Dann werden Sie gewiß bald wieder gesund sein.«

»Ja, das werde ich.«

»Es war also doch ein Glück, daß der Steuermann Ihnen nicht das ganze Bein abnahm.«

»Ja, selbstverständlich.«

»Wissen Sie schon, daß wir einen neuen Passagier bekommen haben?«

»Wie? einen neuen Passagier?«

»Jawohl, einen kleinen Boten vom Land.«

»So? einen kleinen Vogel, nicht wahr?«

»Ja, einen allerliebsten.«

»Nun, dann sind wir nicht mehr weit vom Lande entfernt.«

»Nein. Und der Steuermann sagte, wir seien nicht mehr weit von der Küste Norwegens.«

»So? sagt er das? Es wird wohl so sein.«

»Aber wir haben jetzt Windstille und kommen fast gar nicht voran.«

»So? kommen wir nicht voran?«

»Nein. – Wissen Sie auch, daß ich gestern mitten im Sturm auf Deck war?«

»So? warst du das?«

»Ja, und ich hatte die Lederkleider des Steuermanns an!«

»So? hattest du das?«

»Und dazu seine großen Wasserstiefel!«

»So? die auch?«

»Und da kam ein Engländer, und wir haben mit ihm gesprochen.«

»So? taten wir das?«

»Und ich sah eine Menge Möwen, die auf dem Wasser schwammen und immer unter den Wellen verschwanden und wieder hervorkamen.«

»So? sahst du die?«

»Ja, die Wellen waren auch so schrecklich hoch.«

»So? waren sie das?«

»Ja, und …«

So teilte ich ihm alle Neuigkeiten der letzten Tage mit, und er gab mir stets seine kurzen, absonderlichen Antworten.

Auf einmal steckte Owe seinen Kopf aus der Koje hervor und nickte mir zu.

Ich verabschiedete mich von meinem Freunde, entzog mich seinen herzlichen Dankesworten und ging zu Owe.

»Ah! mein lieber Owe! Nun haben wir uns aber lange nicht mehr gesehen! Wie geht es dir?«

»Ja, das ist lange her«, sagte er. »Ich bin die ganze Zeit seekrank gewesen.«

»Armer Owe!«

»O, es ist jetzt vorüber. – Und wie ging es dir, Nonni?«

»Ich bin in der Kajüte eingesperrt gewesen.«

»Ja, das kann ich mir wohl denken.«

Ich erzählte ihm nun alles, was sich zugetragen hatte und wie es mir bei dem Sturme ergangen war.

Er hatte eine große Freude und hörte mir eifrig zu.

Dann sagte ich:

»Was meinst du, Owe, kannst du wohl aufstehen? Droben ist es jetzt so schön.«

»Ich glaube schon«, erwiderte er ganz glücklich, »ich fühle mich wieder ziemlich wohl.«

Dann schickte er sich an, aus seiner Koje zu kriechen.

Beim Ankleiden mußte ich ihm behilflich sein, denn von der langen Seekrankheit war er immer noch etwas schwindlig.

Dann gingen wir zusammen auf Deck.

Als der Kapitän uns sah, rief er uns zu sich.

»Bist du wieder gesund, Owe?« fragte er.

»Jawohl, Herr Kapitän.«

»So, das freut mich. Dann kannst du heute wohl ein besonders gutes Mittagessen für uns alle bereiten.«

»Gewiß, Herr Kapitän.«

Owe ging in seine Küche und war bald vollauf beschäftigt.

Zuerst kochte er einen feinen Kaffee und brachte zwei Tassen von dem dampfenden, duftenden Getränk dem Kapitän und Steuermann.

»Dank dir, Owe, für deine Aufmerksamkeit«, hörte ich den Steuermann draußen sagen, »das war schön von dir.«

Als Owe zurückkam, bereitete er auch für mich eine Tasse – das erste warme Getränk, seitdem der Sturm uns überfallen hatte.

Owes Kaffee schmeckte mir darum auch ausgezeichnet.

Man lebte förmlich auf, als es wieder regelmäßigen, warmen Tisch gab, und Owe zeigte an diesem Tag wirklich eine rechte Kunst im Kochen, wie morgens beim Kaffee, so auch am Mittag und am Abend.

Das Wetter war prächtig den ganzen Tag, und die warme Sonne zog einem noch die letzten Schauer aus den Gliedern.

Nach einer ruhigen Nacht und einem gesunden Schlaf waren wir alle wieder frisch und munter und fröhlich.

Am nächsten Vormittag kam der Steuermann zu mir und sagte:

»Hör mal, Nonni, du hast mir während des Sturmes so oft ein gutes Butterbrot gegeben, jetzt will ich dich dafür belohnen.«

»Das ist nicht nötig, Herr Steuermann«, wehrte ich ihm. »Es machte mir Freude, Ihnen einen kleinen Dienst erweisen zu können.«

»Jetzt sprichst du wieder wie ein Buch«, gab er etwas neckisch zurück.

»Meine Belohnung erhältst du aber doch, und die ganze Besatzung soll daran teilnehmen.«

»Nun, dann will ich sie annehmen. – Darf ich vielleicht fragen, worin sie besteht?«

»Es soll ein feines Gericht sein, das wir uns alle zusammen heute mittag schmecken lassen wollen.«

»Was für ein Gericht ist denn das?«

»Es hat einen sonderbaren Namen; es heißt Sackpudding.«

»Sackpudding? – Den Namen habe ich noch nie gehört.«

»Das will ich gern glauben. Diesen Pudding kennt man auch weder auf Island noch in Dänemark.«

»Aber kann Owe ihn bereiten?«

»Nein, das kann er nicht; ich tu es selbst.«

»Darf ich Ihnen zuschauen, Herr Steuermann?«

»Ja, dies Vergnügen sollst du haben. Ich mache mich gleich daran.«

Voller Spannung ging ich mit in die Kajüte hinab.

Hier öffnete er eine Lade und nahm eine Rolle weißer Leinwand heraus.

Dann schnitt er vier gleich große Stücke davon ab, nahm Nadel und Faden und nähte im Handumdrehen vier kleine Säcke zusammen.

Jedes Säckchen war ungefähr zwölf Zoll lang und hatte drei bis vier Zoll im Durchmesser.

»So, die wären fertig«, sagte er.

Nun holte er eine große Schüssel und stellte sie auf den Tisch.

»Jetzt kommt Numero zwei«, fuhr er fort und nahm Reis, Mehl, Rosinen und Zucker und mischte alles in der großen Schüssel durcheinander.

»Jetzt kommt erst das Feinste«, schnalzte er mit den Fingern.

Er öffnete eine Lade und holte daraus eine schneeweiße Scheibe – Speck hervor.

»Aber, Herr Steuermann«, rief ich erstaunt und fast erschrocken, »das geht doch nie und nimmer! Wie paßt denn das zusammen?«

»Ha! ob das nicht paßt, Nonni! Wenn du nur wüßtest! Ohne dies wäre sogar der Pudding nicht zu genießen.«

Er nahm ein Messer und schnitt die weiße Scheibe in eine Menge ganz kleiner, viereckiger Stücke und warf sie in die Schüssel.

»Jetzt, mein Freund, sollten wir eigentlich Milch haben. Da es aber auf dem Ozean keine Kühe gibt, müssen wir uns mit klarem Wasser begnügen. Es wird auch so nicht übel.«

Damit goß er entsprechend Wasser in die Schüssel, rührte das Ganze tüchtig um, füllte die vier Säckchen mit dem Teig und nähte sie oben zu.

Dann hängte er sie an zwei Stöcke und trug sie so in die Kambüse.

Dort wurde der größte Kessel mit Wasser gefüllt und aufs Feuer gesetzt. Die zwei Stöcke wurden quer über den Kessel gelegt, so daß die vier Säckchen frei im Wasser hingen.

Owe überwachte dann das Garkochen.

»Aber wo haben Sie denn das gelernt, Herr Steuermann?« fragte ich.

»In England«, sagte er. »Ich bin vor mehreren Jahren in England gewesen. Dort ist es ein Lieblingsgericht.«

Als es Zeit zum Essen war, brachte Owe zwei Säckchen zu den Matrosen, die beiden andern in die Kapitänskajüte.

Die Matrosen bekamen Sirup zu ihrem Pudding, wir dagegen Rotwein.

Es war wirklich ein leckeres Mahl, dieser englische »Sackpudding«.

Ich vergaß aber auch nach Tisch nicht, dem Steuermann meine Anerkennung auszusprechen und ihm für seine liebenswürdige Aufmerksamkeit herzlich zu danken.

Als wir wieder auf Deck kamen, hatte sich die Wasserfläche etwas verändert. Sie war nicht mehr so glatt wie vorher. Eine leichte Brise strich über sie hin, so schwach, daß wir sie kaum merkten.

»Alle Segel auf!« rief der Kapitän, und schnell waren sie gehißt.

Das Steuer mußte jetzt ein Matrose übernehmen.

Diese Gelegenheit benutzte ich und bat ihn, mich das Steuern zu lehren.

»Eigentlich ist es mir nicht erlaubt, hier zu sprechen«, sagte er; »aber solang der Wind so schwach ist, wird der Kapitän es wohl nicht so genau nehmen.«

»Nein, sicher nicht«, meinte ich; »Sie können mir es ruhig zeigen. – Wie geht denn dieses Steuern?«

»Siehst du den Kompaß, der da vor mir steht?«

»Ja, den sehe ich.«

»Siehst du auch, wo die Magnetnadel hinzeigt?«

»Ja, das sehe ich auch.«

»Nun gut. Eben dahin soll jetzt gesteuert werden.«

»Ja, aber wie machen Sie es, daß Sie dahin kommen?«

»Wenn ich das Steuer nach rechts drehe, dann geht die Nadel nach links, und wenn ich es nach links drehe, dann geht sie nach rechts. Das ist die ganze Kunst.«

»Wie? das ist alles? Aber dann könnte ich ja ebensogut steuern wie Sie.«

»Je nachdem.«

»Darf ich es mal versuchen?«

Der Matrose warf einen ängstlichen Blick über das Deck. – Niemand war zu sehen.

Etwas verstohlen übergab er mir das Steuer.

Ich drehte nach rechts und schaute sorgsam auf den Kompaß.

»Siehst du?« sagte der Matrose.

»Ja, die Nadel ist schon zwei Striche nach links gegangen.«

»Gut. Aber nun bring sie schnell wieder auf ihren Platz.«

Ich drehte das Steuer nach der entgegengesetzten Seite, und sofort war die Magnetnadel wieder auf der alten Stelle.

Hoch entzückt von meiner Leistung und dem mir gänzlich neuen Spiel der Nadel, war ich rasch fertig mit dem Urteil:

»Ha! das ist ja kinderleicht; das kann ich auch.«

»Ja, jetzt ist es wohl leicht«, antwortete der Matrose; »aber wenn der Sturm geht, oder wenn es z. B. mitten durch eine Fischerflotte segeln heißt, dann ist die Sache ganz anders, mein Lieber!«

»Ja, ja, das will ich schon glauben«, gab ich etwas kleiner bei.

Kaum hatte ich diese Worte gesprochen, da hörten wir Schritte in der Nähe.

Es war der Kapitän!

Er hatte wohl gerade noch gesehen, was wir taten.

Der Matrose wurde rot bis über die Ohren, gab mir einen kleinen Stoß und trat wieder rasch auf seinen Posten.

Ich verstand augenblicklich den Ernst der Lage, und mein erstes war, dem Mann aus der Verlegenheit zu helfen.

Ohne mich zu besinnen, lief ich auf den Kapitän zu und fragte ihn, wie wenn nichts gewesen wäre:

»Herr Kapitän, ist nun Ihr Arm wieder vollständig geheilt? Mir scheint, Sie haben noch Beschwerden.«

»Danke, Nonni, es ist alles wieder gut«, antwortete er freundlich und ging seines Weges weiter – zum Steuer hin.

Flugs war ich mit etwas anderem bei der Hand.

»Herr Kapitän«, redete ich ihn wieder an, »ich habe eine Bitte an Sie. Wollen Sie mir nicht erlauben zu steuern? – nur solange der Wind schwach ist. Ich kann es schon ganz gut.«

»So? du kannst steuern?« sagte er und sah mich verwundert an. »Wo hast du denn das gelernt?«

»Ja, Sie sollen gleich mal sehen, Herr Kapitän.«

Mit diesen Worten schob ich den Matrosen beiseite, faßte das Steuer, zeigte auf den Kompaß und sagte:

»Sehen Sie, jetzt fahren wir in der rechten Richtung. Wollen Sie mir nun angeben, wohin ich steuern soll?«

»Nach rechts.«

Ich drehte am Steuer, und das Schiff ging nach rechts.

»Gut so«, sagte der Kapitän lächelnd; »bring uns jetzt wieder in die vorige Richtung.«

Auch das hatte ich bald fertig, und mit einem gewissen Selbstgefühl bemerkte ich:

»Nicht wahr, Herr Kapitän, ich kann es ganz gut? Sie können sich auf mich verlassen.«

In diesem Augenblick kam der Steuermann die Treppe herauf.

Als er mich in meiner Stellung sah, rief er:

»Was sehe ich da, Nonni? Bist du Steuermann geworden?«

»Er will durchaus steuern«, sagte der Kapitän.

»Das wird eine nette Steuerei sein!« lachte der Steuermann.

»O nein«, entgegnete ihm der Kapitän; »er kann es besser, als ich geglaubt habe.«

Der Steuermann stellte sich neben mich, und ich überzeugte ihn, daß ich das Steuer, wenigstens bei ruhigem Wetter, schon zu führen wüßte.

Inzwischen schien der Kapitän zu meiner großen Freude vergessen zu haben, was mich und den Matrosen beunruhigt hatte; denn er wandte sich zu ihm und sagte:

»Sie können jetzt zu den andern gehen.«

Der Matrose dankte und ging hinab zu seinen Kameraden.

Nun kam der Kapitän wieder zu mir und sagte in aufgeräumtem Tone:

»Nun, wie gefällt dir dein neues Amt, kleiner Freund?«

»Ausgezeichnet, Herr Kapitän. Solang ich am Steuer stehe, brauchen Sie keine Gefahr zu fürchten, weder für das Schiff noch für die Besatzung.«

»So stelle ich hiermit«, sprach der Kapitän lachend, »das Schiff und die ganze Besatzung unter deine Obhut. Du sollst also jetzt unser Kapitän sein.«

»Paß aber auf«, fügte er hinzu, indem er mit dem Finger nach vorn zeigte, »in diese Richtung mußt du steuern, das ist der gerade Weg nach Kopenhagen.«

»Ja, ich werde genau die Richtung einhalten.«

»Aber wie willst du es anfangen, daß du nicht aus der rechten Linie kommst?«

»Ich schaue bloß auf den Kompaß und gebe acht, daß die Nadel stets nach Süd-West-Süd zeigt.«

»Ganz richtig, mein Junge. – Herr Steuermann, Sie haben wohl ab und zu ein Auge auf ihn, nicht wahr?«

»Selbstverständlich«, antwortete dieser.

»Herr Kapitän«, fiel ich ein, »das ist gar nicht notwendig. Sie können sich ganz auf mich verlassen.«

Der Kapitän nahm mir mein reichlich großes Selbstbewußtsein nicht im geringsten übel; er lächelte bloß.

Dann wandte er sich zum Steuermann und sagte:

»Ich denke, wir wollen uns nun etwas gütlich tun und Punsch trinken. Die Leute haben es nach all den Strapazen wohl verdient. Sie brauchen an Kognak oder Rum nicht zu sparen.«

»Owe!« rief der Steuermann.

»Jawohl!« erklang die Stimme des Knaben aus der Matrosenkajüte, und schon sprang er die Treppe herauf.

»Owe«, setzte nun der Steuermann ihm auseinander, »der Kapitän will uns einen Punsch spenden. Sorge gleich für alles, was dazu gehört: warmes Wasser, Gläser, Zucker und Zitronen. Das übrige gebe ich dir dann. Tu das deinige, daß die Leute zufrieden sein können.«

»Und vergiß nicht unsern neuen Steuermann«, fügte er schelmisch hinzu. »Aber du darfst ihm keinen Punsch geben, solang er am Steuer steht.

»Es könnte ihm sonst zu heiß im Kopf werden«, neckte er wieder. »Er bekommt seinen Teil nachher.«

»Jawohl, Herr Steuermann«, antwortete Owe und nickte mir schmunzelnd zu.

Kapitän und Steuermann gingen in ihre Kajüte hinab, Owe verschwand in der Kambüse.

Bald war das Fest in vollem Gang.

Ich war nun allein auf Deck und fühlte mich am Steuer als die wichtigste Persönlichkeit des ganzen Schiffes.

Owe bediente die Leute und lief hurtig die Kajütentreppe auf und ab.

Einmal, da er aus der ersten Kajüte heraufkam, brachte er mir eine ordentliche Portion Feigen und Rosinen.

»Da, Nonni«, sagte er, »da schickt dir der Steuermann auch etwas zum Festen. Weißt du, ein Schiffsführer darf wohl essen, aber keinen Wein und keinen Punsch trinken.«

»Das ist auch ganz recht so«, stimmte ich ihm bei und warf mit Kennermiene einen Blick auf den Kompaß. – »Und wie geht's unten?«

»Da feiert man den neuen Steuermann und ist munter und fröhlich. Die Matrosen trinken warme Punschbowle, und keine schwache, sage ich dir; sie haben zwei ganze Flaschen Kognak und Rum bekommen. Kapitän und Steuermann sitzen bei einer Weinbowle.«

»Laß sie nur lustig sein, ihr Posten hier ist ja besetzt.«

»Gewiß, du steuerst schon ganz prächtig. Du kannst stolz auf diese Beförderung sein.

»Jetzt muß ich aber wieder hinunter, Nonni. Leb wohl.«

»Leb wohl, Owe, und unterhalt dich gut.«

Als Owe fort war, kam der Steuermann herauf und schaute über die See hin. Er wollte sehen, ob vielleicht ein Schiff in Sicht sei.

»Lassen Sie sich doch nicht stören, Herr Steuermann«, sagte ich zu ihm; »ich werde schon fertig werden.«

Er nickte mir freundlich zu und ging wieder.

Das heitere Lachen der Matrosen wurde lauter und lauter; der Punsch fing an zu wirken.

»Wenn sie nur des Guten nicht zu viel tun«, dachte ich.

Da stapfte einer die Treppe herauf, zwei Fischleinen in der Hand.

Sein Gesicht war feuerrot.

»Aha!« sagte ich leise vor mich hin, »dem wird es schon zu heiß; der wird etwas Kühlung brauchen.«

Er kam auf mich zu und redete mich an:

»Ah! du steuerst ja ganz nett, mein Junge. Mach nur so voran, dann wird noch ein rechter Steuermann aus dir.«

»Ja, ich habe jetzt das Steuern gelernt«, antwortete ich. – »Aber was wollen Sie mit den Schnüren? Sie wollen doch nicht etwa fischen?«

»Ja und nein. Paß nur mal auf. Ja, ja – aber ein wenig Geduld – ein bißchen langsam, Kleiner«, kam es ihm so nach und nach von der nicht mehr ganz gelenken Zunge, während er etwas Lockspeise an den Fischangeln befestigte.

Dann warf er sie ins Wasser, die eine auf der einen, die andere auf der andern Seite des Schiffes.

Die Angeln sanken nicht, sondern schleiften an der Oberfläche hinter dem Schiffe nach.

»So, jetzt hör mal, Junge«, fing der Angeheiterte wieder an, »ich habe da unten gewettet. Was meinst du, was ich gewettet habe? Ich habe gewettet, ich hätte bis heute abend – Goldfische zum Essen. Die schwimmen immer an der Oberfläche des Meeres. – Ich lasse diese Angeln hinter dem Schiffe herschleppen. Ich will Goldfische fangen. Verstehst du? – Schau hie und da mal nach, ob ein Fisch an der Angel sitzt, und dann zieh schnell herauf, verstehst du?«

»Ja, aber ich muß steuern.«

»Weiß ich, Junge, das brauchst du mir nicht zu sagen. – Aber bei diesem Wetter geht das Schiff auch mal von selbst, verstehst du? Da kannst du auch einen Augenblick vom Steuer weggehen. – Wie? – Das willst du nicht?«

Der Mann wurde ganz zornig, und ich fürchtete mich beinah vor ihm.

»Ja, ja, gewiß«, antwortete ich daher.

»Also, du schaust nach den Angeln und ziehst die Fische herauf. – Hast du verstanden, Junge? Gib Antwort!«

»Ja, ja, ja!«

Ich merkte, daß es nicht ratsam sei, dem halbbetrunkenen Matrosen zu widerreden, und versprach, alles zu tun, was er gewünscht; ich wolle auf die Angeln wie auf das Steuer achten.

Der Matrose holte nun einen Eimer, band ein Tau daran und ließ ihn über die Reling ins Meer gleiten. Dann zog er ihn in die Höhe, halb mit Wasser gefüllt, stellte ihn neben mich hin und sagte kurz und bestimmt:

»Da wirfst du die Goldfische hinein, hörst du?«

»Ja, ich werde es so machen.«

»Das ist dann brav von dir, mein Junge«, sagte er etwas begütigt. »Jetzt gehe ich wieder hinunter zu den Leuten.«

Dann ging er, und ich war froh, daß ich den sonst gutmütigen, aber jetzt, wie mir schien, etwas gefährlichen Kraftmenschen los war.

Bald nachher kam der Steuermann wieder herauf, warf einen forschenden Blick in die Ferne, nickte mir zu und ging wieder.

Nun verließ ich einen Augenblick das Steuer und sah nach den Schnüren.

An der ersten regte sich nichts. Die andere aber bewegte sich stark; sie wurde gezogen und gezupft.

Es mußte etwas Lebendiges daran sein.

Schnell zog ich sie herauf.

Und wirklich, ein wunderschöner Goldfisch hing an der Angel.

Vorsichtig löste ich den Haken aus seinem Maul und legte den Fisch in den Eimer.

Sofort schwamm er munter umher.

Dann steckte ich einen neuen Köder an die Angel und warf sie wieder ins Wasser.

Es war ein schönes Tierchen, dieser Fisch. Wie ich gleich bemerkte, war er an verschiedenen Stellen mit scharfen kleinen Stacheln dicht bewaffnet, denn ich hatte mich daran gestochen. Er war ungefähr so lang wie ein großer Hering. Seine Farbe war prächtig. Er glänzte von flimmerndem rötlichem Gold, und eine Menge purpurroter Flecken bedeckte den ganzen Leib.

Vor lauter Freude an dem Fischlein vernachlässigte ich meine Pflicht am Steuer und schaute viel öfter als nötig nach den Schnüren.

Die Folge war, daß wir immer mehr in einer ungeraden Linie, ja in einem förmlichen Zickzack segelten.

Aber schöne Goldfische gab es hier; da hatte der Matrose recht.

Sie bissen so fleißig an, daß ich in weniger als einer Stunde wohl ein Dutzend herrlicher lebender Goldfische im Eimer hatte. –

Da plötzlich überraschte mich der Steuermann, als ich eben eine Schnur aufzog.

»Hallo!« rief er und nahm einen etwas strengen Ton an, »was ist das, kleiner Steuermann? So erfüllst du deine Pflicht?«

Statt zu antworten, zog ich schnell den Goldfisch über das Geländer, hielt ihn hoch und sagte:

»O, seien Sie nur nicht böse, Herr Steuermann. Ich kann gut beides besorgen.«

Rasch warf ich den Goldfisch in den Eimer, die Schnur ins Wasser und lief wieder zum Steuer.

Die Magnetnadel war nur zwei Striche zu weit nach rechts gegangen.

Sofort drehte ich das Steuer mit gewohnter Fertigkeit, und der Fehler war wieder gutgemacht.

»Sehen Sie, Herr Steuermann«, sagte ich beschwichtigend, »wir sind wieder auf dem rechten Wege.«

Kopfschüttelnd erwiderte er:

»Ja, ja. Augenblicklich scheint aber hier an Bord nicht alles so ganz zu stimmen. Du kannst froh sein, daß der Wind so schwach ist, sonst würde es nicht so leicht mit deinen zwei Geschäften gehen.«

»Ja, das ist wahr. Aber es ist für einen der Matrosen; für ihn muß ich auf die Angeln aufpassen. Ich fürchte, er würde böse werden, wenn ich es nicht täte.«

»Was will der denn mit den Goldfischen?«

»Er sagte, sie sollten heute unser Abendessen werden.«

Der Steuermann lachte.

»So, so, ein Abendessen soll das geben? Es wird aber doch gut sein, mein Junge, wenn du besser auf das Steuer acht gibst, ich müßte dich sonst absetzen.«

Damit wandte er sich um und wollte gehen.

Ich aber rief ihm nach:

»Herr Steuermann, darf ich gar nicht mehr nach den Fischen sehen?«

Mit dem Zeigefinger drohend, meinte er:

»Ja, schon, aber nur nicht zu oft!«

Zum Glück kam bald der große Matrose wieder auf Deck.

Sein Gesicht war noch röter als zuvor, es glühte förmlich.

Gleich wackelte er auf mich zu.

Ich empfing ihn mit der boshaften Bemerkung:

»Haben Sie Kopfweh? Das Blut ist Ihnen so ins Gesicht gestiegen.«

»Laß es steigen, wohin es will! – Hast du Goldfische gefangen?«

Schnell hielt ich meine Hände über den Eimer und sagte:

»Raten Sie mal, wieviel ich habe.«

Der Mann war aber nicht zum Spaßen aufgelegt. Er stieß mich auf die Seite und schaute in den Eimer.

Als er die vielen Goldfische erblickte, wurde er freundlicher.

»Ha! das ist ja eine ganze Menge! Das hast du gut gemacht, Junge. Du sollst dafür auch den größten zum Abendessen bekommen. – Ich glaube, wir haben für diesmal genug.«

Sprach's, nahm den Eimer, und – o weh! im nächsten Augenblick strauchelte er am Mast, fiel um, und der Inhalt des Eimers lief übers Deck.

Ich eilte herbei und wollte ihm helfen, die zappelnden Goldfische wieder einzufangen.

Aber da kam ich schlecht an. Er stieß mich weg und schrie:

»Fort mit dir! Glaubst du, ich könnte mir nicht selbst helfen? Mach dich ans Steuer!«

»Ich glaubte, Sie wären vielleicht etwas schwindlig geworden«, antwortete ich boshafter Schelm und ging zurück an meinen Platz.

Mit großer Mühe brachte der Wankende die Goldfische wieder in den Eimer und verschwand damit in seine Kajüte.

Bald ertönten zu seinem Empfang von unten her lebhafte Hurrarufe, und das Fest ging unter Gesang und Spaßen lustig weiter.

Doch alles hat sein Ende. So auch dieses muntere Fest.

Die Matrosen kamen einer nach dem andern auf Deck, um frische Luft zu schöpfen, und der Steuermann löste mich ab.

Drauf wurde ich zu einer kleinen Weinbowle beim Kapitän in der Kajüte eingeladen und aufs liebevollste bewirtet.

Aber lange blieb ich nicht unten.

Ich wollte sehen, wie die Goldfische zubereitet würden, und suchte meinen Freund Owe auf.

Da gab's nun eine Überraschung und ganz neue Kurzweil.

Owe war nicht in der Kambüse. Ich traf ihn vorn im Schiffe.

Er hatte eine Harmonika auf dem Schoße und spielte den heiter gestimmten Matrosen dänische Tanz- und Volksweisen auf.

Wie ich da unsern kleinen Koch anstaunte! Gleich setzte ich mich an seine Seite und schaute und hörte aufmerksam seiner Musik zu.

Der große »Goldfisch«-Matrose verlangte mehrmals eine gewisse Polka.

Als sie zum dritten- und viertenmal gespielt war, fragte ich ihn:

»Warum wollen Sie denn gerade die so oft haben?«

»Warum? – Weil sie so schön ist«, antwortete er. »Meinst du nicht auch? Es ist doch die Hammerpolka. Kennst du sie nicht? – Und soll ich dir sagen, wo ich sie kennengelernt habe? – In dem gemütlichsten Wirtshaus von Kopenhagen. – Und willst du wissen, wie das heißt? – ›Grüne Laterne‹ heißt es. Es liegt kaum eine Viertelstunde vom Neuhafen. – Und die Musik, die es dort hat! Die muß man gehört haben, mein Junge! So ein Wirtshaus gibt es auf ganz Island nicht. Hast du verstanden?«

»Ja, das will ich gern glauben«, gab ich zur Antwort. »In all diesen Dingen sind wir ja in Island noch weit zurück.«

»Kannst mir glauben«, fuhr er fort, »für Matrosen ist die ›Grüne Laterne‹ eine der besten Stuben in Kopenhagen. Ich kann euch allen nur raten, sie aufzusuchen, wenn wir in die Hauptstadt kommen.«

Ich bekam natürlich eine hohe Meinung von der »Grünen Laterne«.

Es gab überhaupt nichts, was ich lieber hörte, als etwas von Kopenhagen; denn diese Stadt war ja das erste Ziel meiner Reise.

Die Matrosen schienen sie genau zu kennen.

Ich wollte daher die Gelegenheit benutzen und sie über die Stadt etwas ausforschen.

»Ist Kopenhagen wirklich so schön, wie man sagt?«

»Kopenhagen!« antwortete der große Matrose, der das Wort führte; »ob Kopenhagen schön ist? – Das will ich meinen! Es ist eine herrliche Stadt. Ja, das ist sie. Und wenn du dahinkommst, wirst du noch große Augen machen. Verstehst du, mein Junge?«

»Wie hoch sind dort die Häuser? Wohl wie der Mast hier?«

»Wie dieser Mast? – Ha, ha, ha! Du hast eine Ahnung! In Kopenhagen gibt es Häuser, die doppelt, dreimal so hoch sind als dieser Mast da.«

»Wie? dreimal so hoch als dieser Mast? – Nein, das ist doch nicht möglich.«

»Und doch ist es wahr. – Und die Türme in Kopenhagen, die sind wenigstens noch doppelt so hoch als die höchsten Häuser.«

»Aber das ist doch bald nicht mehr zu glauben.«

»Wie? das glaubst du nicht? – Du wirst es schon noch glauben. Da ist z. B. die Erlöserkirche. Die hat einen Turm so hoch, daß eine Figur, die oben darauf steht und weit größer als ein Mensch ist, unten von der Straße aussieht wie eine kleine Puppe. Dieser Turm ist allerdings der höchste in Kopenhagen. Hast du verstanden?«

»Das muß aber sonderbar aussehen.«

»Und dann gibt es mitten in der Stadt einen andern Turm. Da geht innen ein breiter Wendelgang bis auf die Spitze, und dieser Weg hat keine Tritte und ist so breit wie eine Landstraße.«

»O, davon hat meine Mutter mir schon erzählt. Heißt er nicht der Runde Turm?«

»Ja, das ist der Runde Turm. Du kennst also schon etwas von Kopenhagen?«

»Ja, aber nur sehr wenig.«

»Das begreife ich. – Aber du sollst mal sehen, wie es in Kopenhagen abends aussieht, wenn die Straßenlaternen angezündet sind! Das ist erst eine Pracht, mein Junge!«

»Was brennt denn in diesen Laternen? Talg- oder Stearinkerzen oder vielleicht Tranlampen?«

Die Matrosen lachten hell auf.

»Nur langsam!« sagte der Große, »wir dürfen nicht über ihn lachen. Er hat ja die Welt noch nicht gesehen; das ist nicht seine Schuld. – Du meinst also, mein Junge, es brennen Kerzen oder Tranlampen in den Straßenlaternen? Nein, so ist es nicht. Aber ich will dir sagen, was es ist: es ist reine Luft.«

»Luft? – Die Luft brennt in den Laternen von Kopenhagen? Nein, das kann ich nun doch nicht glauben.«

»Und trotzdem hast du es zu glauben«, bekräftigte er in überlegenem Tone. »Und du wirst noch ganz andere Dinge glauben müssen, von denen du nie etwas gehört oder gesehen hast. Also paß auf. In den Straßenlaternen von Kopenhagen befindet sich eine neue Art Lampen. Die bestehen aus nichts anderem als einem einzigen Metallröhrchen, und da brennt das Licht ohne Öl, Tran, Docht oder dergleichen.«

»Wie ist das aber möglich?«

»Heutzutage ist alles möglich, mein Junge. – Aus diesen Röhrchen strömt eine Art Luft. Diese Luft wird angezündet, und dann brennt sie so hell und stark, daß man mitten in der Nacht auf den Straßen lesen kann wie am hellen Tage.«

»Das ist aber doch ganz wunderbar!«

»Ja, und du wirst noch andere Wunder in Kopenhagen zu sehen bekommen, so z. B. die ›Wälzenpeter‹ Velozipede. So nannte das Volk die damaligen großen Fahrräder.

»Wälzenpeter! Was ist denn das?«

»Das ist ein Fahrzeug mit zwei Rädern hintereinander. Das wird von keinem Pferd gezogen. Man setzt sich drauf, tritt links und rechts mit den Füßen, und dann fährt es so schnell dahin, daß kaum ein Pferd so laufen kann.«

»Das wäre ja die reinste Zauberei. Ist das auch wirklich wahr?«

»Das kann dir als Zauberei vorkommen, aber es ist doch wahr. Du hast noch nicht viel von der Welt gesehen und kennst nichts von den neuen Erfindungen. Ha! du wirst Augen machen, wenn du alle diese Dinge siehst.«

»Können die ›Wälzenpeter‹ auch durch die Luft fliegen?«

»Nein, das gerade nicht. Aber durch die Luft fliegen kann man in Kopenhagen auch.«

»Wirklich? In Kopenhagen kann man durch die Luft fliegen?«

»Ja, das kann man dort. Das macht man mit Luftballons. Die steigen dort zuweilen auf.

»Aber nun muß ich dir noch etwas anderes erzählen, was du sehen solltest, wenn du nach Kopenhagen kommst. – Es liegt zwar nicht in der Stadt selbst, sondern etwa sieben Kilometer davon entfernt. Das ist der große Wald, den man Tiergarten nennt, wegen der vielen Hirsche, die darin leben. Einen solchen Wald hast du auf Island auch noch nicht gesehen.«

»Nein; aber ich habe schon Bilder von ihm gesehen. Danach muß dieser Wald wohl ungefähr das Schönste sein, was es auf der Welt gibt.«

»Kann wohl sein. Nun, freue dich, bei Kopenhagen wirst du wirkliche Wälder sehen. – Und da ist eine Stelle im Tiergarten, die du vor allem anschauen mußt. Das ist Dyrehavsbakken.«

»Dyrehavsbakken? – Was ist das?«

»Ja, das ist etwas, was man nicht mit einem Wort sagen kann. Es ist eine Anhöhe, mitten in dem herrlichen, grünen Wald, in der Nähe eines Ortes, der Klampenborg heißt.

»Da gibt es allerhand große und kleine Belustigungsstätten: Tanzstuben, Wirtschaften, Kaufläden, Karusselle und noch vieles andere.

»Alles strömt von Kopenhagen dort hinaus, um sich zu erholen und zu erheitern.

»Abends ist dann Musik, ich sage dir, die feinste und größte Musik, die man sich denken kann.

»Da wird nicht gespart mit den Stücken, da geht es immer fort. Und es gibt kein einziges Instrument, glaube ich, das auf Dyrehavsbakken nicht zu finden wäre. Und alle spielen zusammen, Horn, Piano, Drehorgel, Harmonika, Flöte und viele andere. Rechts und links schlägt man auf große Trommeln, und zwischen hinein schießt man mit Gewehren und Kanonen. – Ja, glaube mir, mein Junge, das ist eine Musik, die muß man hören! Da hat man für sein Geld auch was, das heißt, es kostet nichts, man kann alles umsonst sehen und hören.«

Mir ging es rund im Kopf herum, wie der Mann so erzählte, und es wurde mir immer mehr klar, daß ich von der Welt und ihren Herrlichkeiten noch nichts gesehen hatte.

»Ferner, mein Junge«, fuhr der Matrose fort, »gibt es dort Eisenbahnen; die hast du auch noch nie gesehen.«

»Eisenbahnen gibt es in Kopenhagen auch?«

»Ja, sie fahren von Kopenhagen über das ganze Land und kommen wieder dahin zurück.«

»Ist es wahr, daß sie so schnell fahren? Ich habe gehört, sie fahren ebenso schnell wie der Blitz.«

»Ja, das ist wahr. Sie fahren so schnell, daß du dir keine Vorstellung davon machen kannst. Man setzt sich in einen Wagen, und der Zug fährt fort über Felder und Wiesen, über Flüsse und Seen, durch Busch und Wald. Und wenn man aus dem Fenster schaut, weißt du, was man dann sieht? Man sieht Bäume und Telegraphenstangen, Häuser und Hügel und Wälder und Menschen und Tiere mit Blitzesschnelle vorbeifliegen.«

»Aber ich glaubte, es sei der Eisenbahnzug, der davoneilt, nicht diese Gegenstände.«

»Allerdings; das kommt einem eben nur so vor.«

»Wie muß das doch wunderbar sein, wenn man in einem solchen Zuge fährt!«

»Ja, mein Junge, das alles kannst du selbst sehen und mitmachen, wenn du nach Dänemark kommst.« –

Indessen war es für Owe Zeit geworden, das Abendessen zu bereiten. Er ging in seine Küche, und wir standen ebenfalls auf.

Nach kurzer Zeit schon brachte Owe ein leckeres Mahl auf den Tisch: die Goldfische, duftend und fein gebraten, fast so köstlich wie Forellen, dazu die aufgewärmten Reste des englischen Sackpuddings.

Nach dem Abendessen wurden wie gewöhnlich die zwei Laternen, die rote und die grüne, je an einer Seite des Schiffes aufgehängt, und der Kapitän übernahm das Steuer. –

So ging der festliche Tag zu Ende.

Am Abend aber wurde uns ganz unerwartet noch eine überaus liebliche Überraschung zuteil.

Die Matrosen saßen in ihrer Kajüte beisammen und tranken heiter und fröhlich ihren Punsch zu Ende.

Owe und ich waren bei ihnen.

Es war ein herrlicher, stiller Abend, die Luft gar rein und ruhig und warm.

Wenn ab und zu die Unterhaltung in der Kajüte ein wenig schwieg, war nicht der leiseste Laut zu hören.

Da auf einmal erklang vom Deck her ein ergreifend schöner Gesang.

Aus wunderbarer Herbstnacht schwebte er zu uns herab wie ein zarter, frischer Lufthauch.

Mit gehemmtem Atem lauschten wir alle auf.

»Hört ihr? Das ist der Steuermann!« lispelte Owe.

Wir saßen da und regten uns nicht.

Jetzt konnten wir deutlich die Worte vernehmen:

»Es kommt der große Meister,
Er müht sich schwer und heiß;
Er sitzt am Feuertiegel
Und schmilzt das Silber mit Fleiß.«

Dann folgte eine kurze Pause.

Und wieder sang es so klangvoll, so innig, so rein:

»Er harrt des Augenblickes,
Mit Lieb er ihn erspäht,
Wo klar sein eigen Bildnis
Im Silberspiegel steht.«

Leise schlich ich auf den Zehen einige Stufen die Treppe hinauf und steckte den Kopf ein wenig hinaus.

Da stand der Steuermann im Halbdunkel an den Mast gelehnt, hielt die Hände auf dem Rücken und schaute zu dem nächtlichen Sternenhimmel auf.

Still, wie ich gekommen war, ging ich wieder hinab an meinen Platz.

Er sang weiter:

»Es kommt der große Meister,
Er schmilzt den Sinn dir ein;
Er sitzt an der Herzensgrube
Und schaut in die Seelen hinein.«

»Was ist denn das für ein wunderschönes Lied?« bemerkte der kranke Matrose. »Wer hat das wohl gedichtet?«

»Das ist von Ingemann«, sagte Owe; »ich weiß es von der Schule her.«

Der Steuermann fuhr fort:

»Und wenn in Herzenstiefen
Sein Bildnis leuchtend lacht,
Dann freut sich der hohe Meister,
Dann ist sein Werk vollbracht.«

Jetzt hörte der Sänger auf, und wir getrauten uns beinahe nicht, das Schweigen zu stören.

Ich hatte weder das Gedicht noch die Melodie jemals gehört, und obwohl ich jedes Wort verstanden hatte, konnte ich mir doch den Sinn des Ganzen nicht zurechtlegen.

Ich wußte nur, daß die Rede war von dem großen Meister, der an der Herzensgrube sitzt und in die Seelen schaut.

Das muß wohl der allwissende Gott sein, dachte ich.

Aber was der Schmelztiegel bedeuten sollte und der Silberspiegel, worin der Meister sein Bild sah, das konnte ich nicht verstehen.

Das Lied hatte auf uns alle einen tiefen Eindruck gemacht. Nachdenkend und stumm saßen wir da.

Würde mir doch jemand den Sinn des Gedichtes erklären, sagte ich im stillen zu mir selbst.

Da nahm der große Matrose wieder das Wort und kam meinem Wunsch zu Hilfe.

»Hör mal, Owe«, wandte er sich an den Knaben, »du sagtest, eben, Ingemann habe diese Verse gedichtet. Weißt du vielleicht mehr darüber?«

»Ja, unser Lehrer hat es einmal in der Schule erklärt.«

»Was hat er denn gesagt?«

»So genau kann ich mich nicht mehr erinnern; aber was ich noch weiß, will ich euch gern erzählen.

»Der Lehrer sagte, das Gedicht sei auf folgende Weise zustande gekommen: Ingemann kam einst auf einer Reise in Schweden in eine Werkstatt, wo Gold, Silber und andere Edelmetalle geschmolzen wurden.

»Man führte ihn herum, und da kam er zu einem Schmelztiegel, worin man gerade Silber schmolz.

»Er blieb stehen und schaute zu.

»Das geschmolzene Silber war anfangs voll von Schmutz, der auf der Oberfläche schwamm. Der Meister nahm den Tiegel vom Feuer, entfernte den Schmutz und schob den Tiegel wieder in die Glut.

»Nach einiger Zeit zog er ihn wieder heraus und reinigte die Oberfläche von neuem. Dies wiederholte er so lange, bis das flüssige Silber spiegelklar geworden war.

»Als er nun darin deutlich sein eigenes Bild erkannte, war das ein Beweis für ihn, daß die Läuterung vollkommen sei.

»Bei dieser Gelegenheit soll Ingemann der Gedanke gekommen sein, daß Gott der Herr auf ähnliche Weise die Seelen läutere, wie dort das Silber gereinigt wurde. Und alsbald schrieb er sein Gedicht nieder.«

Mit Spannung waren wir alle Owes Erzählung gefolgt und dankten ihm für seine vortreffliche, schöne Erklärung.

»Weshalb mag wohl der Steuermann dieses Lied gerade jetzt gesungen haben?« fragte ich.

»Das mußt du dir schon von ihm selbst sagen lassen«, erwiderte der große Matrose. »Jedenfalls kann es weder dir noch uns schaden, zuweilen an Gott zu denken. Hast du verstanden, Jüngelchen? – Und nun gute Nacht! alle Mann, ich geh' jetzt zu Bett.«

»Gute Nacht!« antworteten wir alle zusammen und begaben uns dann ebenfalls zur Ruhe.

Der Kapitän und ein Matrose hielten Steuer und Wacht.

Sanft wiegte das Schifflein uns in Schlummer und trug einsam bei klarer Sternenpracht uns über die tiefen Wasser.


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