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10. Auf hoher See. – Wir wittern Gefahr

Ich erwachte erst, als die bekannte heitere Stimme des Steuermanns an mein Ohr drang. Der freundliche Herr steckte den Kopf in meine Koje, faßte mich beim Arm und sagte:

»Nun, kleiner Nonni, willst du denn heute gar nicht aufstehen? Es ist schon längst hell am Tage. Auch sind wir bereits aus der Mündung des Eyjafjördur geschlüpft und segeln flott ins offene Meer hinaus.«

Ich richtete mich auf, gab ihm die Hand und wünschte ihm guten Morgen. Dann rieb ich mir den Schlaf aus den Augen und fragte:

»Haben Sie die ganze Nacht am Ruder gestanden?«

»O nein, der Kapitän hat mich abgelöst, und jetzt habe ich schon meine vier Stunden Schlaf gehabt.«

»Steht der Kapitän noch am Steuer?«

»Nein, jetzt ist es einer von den Matrosen.«

»Ja, richtig. Wir sind ja, wie Sie sagen, auf offener See. Da kann ja freilich gut ein Matrose steuern, weil keine Gefahr vorhanden ist.«

»Wie? Du bist ja schon ein richtiger Seemann. Woher weißt du das?«

»Vom Kapitän. Er hat es mir gestern beim Abendessen erklärt.«

»Ah so! – Aber jetzt auf mit dir und trink deinen Kaffee.«

Er ging hinauf und ließ mich unten in der Kajüte allein, so daß ich in aller Ruhe mich fertig machen konnte.

Während ich meine Kleider anlegte, fiel es mir auf, daß die Stellung, der Gang und die Bewegungen des Schiffes jetzt ganz anders waren als während der Nacht.

Es legte sich nicht mehr auf die Seite, sondern glitt flott voran. Offenbar hatte es nicht mehr mit den Wellen zu kämpfen. Man merkte kaum einen Stoß. Dagegen hob und senkte es sich ganz bedeutend, viel mehr als früher, doch sanft und ruhig und in ziemlich großen Zwischenräumen.

Es machte auf mich den Eindruck, als hätten wir den Wind im Rücken und führen auf breiten, hohen Grundwellen. Die regelmäßige Bewegung auf und nieder, die ich nie im Leben so stark wahrgenommen hatte, gefiel mir anfangs sehr. Ich setzte mich auf einen Stuhl und genoß dieses mir ganz neue und eigentümliche Gefühl.

Es war ein wahres Vergnügen. Ich wurde hin und her geschwungen, als säße ich in einer großen Schaukel. Fortwährend ging es auf und ab, und immer wieder langsam auf und ab. –

Aber mit einemmal ging die behagliche Empfindung über in ein sonderbar süßliches, fast ekelerregendes Gefühl in der Brust.

Es war mir, als ob das Herz und mein ganzes Innere sich höben und senkten, so oft das Schiff diese Bewegung machte; und bald überkam mich eine ganz widerwärtige, erstickende Übelkeit.

Ich merkte jetzt, daß die Seekrankheit sich wieder meldete.

Es war Zeit, an die frische Luft zu gehen. Ja, so schnell wie möglich; denn der kalte Schweiß, der Vorläufer dieser unheimlichen Krankheit, brach schon am ganzen Leibe aus.

Schnell sprang ich auf.

Auf meinem Bett lag das Papier mit den Rosinen, die ich meinem Freunde schenken wollte. Ich steckte sie in die Tasche und eilte die Treppe hinauf.

Einen Augenblick später stand ich auf dem Verdeck.

Hier fesselte mich sofort eine ganze Reihe überraschender Eindrücke.

Es war heller Tag. Das Schiff glitt schnell voran über die mächtigen, breiten Meereswellen. So groß und gewaltig hatte ich sie noch nie gesehen.

Es mußte ein starker Wind wehen. Zu merken war freilich nicht viel davon; denn wir fuhren in derselben Richtung und fast so schnell wie der Wind selbst.

Das Wetter, gestern noch so warm, war jetzt rauh und kalt.

Ich schaute hinaus in die Ferne, soweit das Auge reichte, nach rechts, nach links und endlich rückwärts, um Land zu entdecken; aber nirgends sah ich eine Spur davon.

Rundumher nur Himmel und Wasser.

Das war für mich etwas so Neues, so Überraschendes, daß ich an keine Seekrankheit mehr dachte.

Nur Himmel und Wasser, wie wunderbar!

So oft hatte ich in meiner Heimat aus dem Munde der Seeleute diese Worte gehört. Jetzt waren sie auch für mich Wirklichkeit geworden. Ich sah nur Himmel und Wasser.

Es war also Tatsache, daß ich mich auf dem unermeßlichen Meere befand und so weit vom Lande entfernt war, daß man meinen konnte, es gäbe kein Land mehr.

Island lag hinter uns, aber so weit, so weit, daß mein sehnendster Blick es nicht mehr erreichen konnte.

In reißender Fahrt segelten wir andern Ländern entgegen.

Dieser Gedanke berauschte mich, und so stand ich eine Zeitlang still und überließ mich meinem Sinnen und Staunen.

Endlich, wie aus einem Traum erwachend, warf ich einen Blick auf die nächste Umgebung.

Der Kapitän und der Steuermann gingen zusammen auf und ab und schienen eine ernste Unterredung zu führen.

Hie und da blieben sie stehen, nahmen ihr großes Fernglas hervor, setzten es vor die Augen und spähten zum Horizont hin.

Sie hielten die flache Hand wie einen Schirm über die Augen und stierten in die Ferne, als wenn sie etwas entdecken wollten. Dann sprachen sie wieder lebhaft miteinander.

Dort, wohin sie blickten, mußte wohl etwas Besonderes sein; aber es war mir unmöglich, zu erraten, was es sein könnte.

Als der Steuermann mich bemerkte, rief er:

»Nun, Nonni, bist du endlich aufgestanden? Geh zu Owe und sag ihm, er solle dir den Morgenkaffee in die Kajüte bringen.«

»Ach nein, Herr Steuermann, ich will ihn lieber hier oben trinken; unten wird es mir so übel.«

»Gut, mein Kleiner; tu, wie es dir am besten paßt.«

Ich ging in die Kambüse. Aber Owe war nicht da.

Der Steuermann, der mir mit den Augen gefolgt war, rief mir nach:

»Er ist gewiß bei den Matrosen in der vorderen Kajüte.«

Ich lief hin, schaute hinab und bemerkte Owe, wie er sich mit zwei Matrosen unterhielt.

»Guten Morgen, Owe!« rief ich.

»Guten Morgen, Nonni«, antwortete er und kam schon die Treppe herauf.

»Der Steuermann sagte mir, ich möchte dich um meinen Kaffee bitten.«

»Versteht sich«, erwiderte er, »schon längst steht er bereit.«

Ich folgte ihm in die Küche und bat ihn, mir die Sachen dort zu geben, statt sie hinunter in die Kajüte zu bringen.

Während ich das Frühstück nahm, fragte er mich:

»Wie hast du geschlafen? Erzähle mir doch, wie es dir diese Nacht gegangen ist.«

»Ach, Owe, wenn du wüßtest! Erst wurde ich in die Koje des Kapitäns geschleudert. Nachher warf es mich mit meinem ganzen Bettzeug auf den Boden, und ich hätte mich fast zuschanden geschlagen.«

»Habe ich es dir nicht gesagt?«

»Ach ja!«

Nun mußte ich ihm meine nächtlichen Abenteuer mit allen Einzelheiten erzählen. Er hörte mir eifrig zu und hatte seinen Spaß dabei.

Dann überreichte ich ihm mein Geschenk, die Hälfte der Feigen und Rosinen.

In seiner Bescheidenheit wollte er sie erst gar nicht annehmen. Ich mußte sie ihm förmlich aufdrängen und ihn an die Worte meiner Mutter erinnern, ich solle alles mit ihm teilen.

Während wir miteinander plauderten, fiel mir das sonderbare Benehmen des Kapitäns und des Steuermanns wieder ein, und ich fragte:

»Was haben doch der Kapitän und der Steuermann zu schauen? Man sollte beinahe glauben, sie seien bange vor Seeräubern. Die gibt es doch hier auf dem Meere wohl nicht?«

»Nein, Nonni, Seeräuber sind hier nicht. Es ist etwas ganz anderes, wonach sie schauen, und das ist ebenso gefährlich für uns.«

Erstaunt fragte ich:

»Was kann denn das sein?«

»Es ist vielleicht besser, ich sage es dir nicht, Nonni. Du könntest sonst ängstlich werden.«

Man kann sich denken, wie gespannt ich wurde. Ich faßte Owe an beiden Händen und bat ihn inständig:

»Aber wie kannst du glauben, daß ich so ein Hasenfuß bin? Sag mir doch, welche Gefahr ist es?«

»Nun gut. Wenn du es durchaus wissen willst, so magst du es hören. Merkst du nicht die auffallende Kälte in der Luft?«

»Diese plötzliche Kälte deutet darauf hin, daß die großen Eisberge von Grönland heranschwimmen. Es ist möglich, daß sie schon nahe sind und uns den Weg nach Dänemark versperren.

»Das könnte aber ein schlimmer Spaß werden; denn wenn die Eisberge wirklich da sind, müßten wir eiligst vor ihnen fliehen. Sonst wäre es aus mit uns. Verstehst du jetzt?«

»Ja, nun verstehe ich alles. Aber hat man etwas von ihnen gesehen?«

»Das ist es eben, worüber der Kapitän und der Steuermann sich nicht einig sind.«

»Der Kapitän, der immer sehr vorsichtig ist, meint, er habe sie gesehen, wenigstens den hellen Schein, der sie immer umgibt. Der Steuermann dagegen meint, das seien Wolken oder weißer Nebel, so daß wir ohne Furcht weitersegeln könnten.«

Jetzt wußte ich genau Bescheid.

Doch Furcht bekam ich deshalb nicht. Dafür hatte ich ein viel zu großes Vertrauen zu Kapitän und Steuermann. Aber ich sah ein, daß wir auf dem unermeßlichen Meere großen Gefahren entgegengingen.

Ja, die gewaltigen, unzähligen Eisberge, die das Meer in eine großartige Berglandschaft von lauter Eis verwandeln, ich kannte sie gut. Sie kamen jeden Winter auf ihrem Zuge von Grönland her zu uns, und ich habe oft gesehen, wie sie nebeneinander lagen, so weit das Auge reichte, und wie sie, sobald das Wasser in starke Bewegung geriet, rasenden Titanen gleich gegeneinander kämpften. –

»Aber Nonni«, fragte Owe, »was machst du für ein bedenkliches Gesicht? Bist du bange geworden vor den Eisbergen?«

»Das gerade nicht, Owe. Aber ich denke eben daran, wie gefährlich es ist, wenn ein Schiff zwischen sie gerät. Denn ich versichere dir, kommt dann ein Sturm, so ist es rettungslos verloren; es wird zusammengequetscht wie eine Nußschale.«

»Gewiß schrecklich, Nonni. Aber der Kapitän wird sich schon von ihnen fernzuhalten verstehen. Übrigens ist es noch gar nicht sicher, daß Eisberge im Anzuge sind.«

»Ich meine nun doch, Owe, daß der Kapitän recht hat; ich habe guten Grund dazu.«

»So? Dann laß mal hören.«

»Glaube mir, Owe. Sooft die Eisberge an die Küste von Akureyri kamen, meldeten sie sich im voraus.«

»Ei! wie machten sie das?«

»Zuerst, schon lange bevor sie sichtbar wurden, trat eine große Kälte ein. Ferner wurde die Luft eigentümlich verändert. Es war einem zumute, als wenn man eine ganz neue Luft einatmete. Und weißt du was, Owe? Ich habe den Eindruck, als wenn ich jetzt diese durchdringende Kälte fühlte und die eigentümliche Luft witterte.«

Owe schien mir nicht recht glauben zu wollen, sagte aber:

»Wer weiß, Nonni, vielleicht hast du recht. Du solltest zum Kapitän gehen und es ihm mitteilen.«

»Glaubst du wirklich?«

»Ja, nur zu, dir nimmt er nichts übel.«

»Nun gut, dann will ich es wagen.«

In Eile trank ich meinen Kaffee und lief dann zum Kapitän, der noch immer mit dem Steuermann auf und ab ging.

Ich stellte mich vor sie hin, verbeugte mich höflich und gab jedem die Hand. Dann sagte ich:

»Herr Kapitän, darf ich Ihnen ein Wort sagen?«

»So?« lächelte er, »hast du mir etwas Wichtiges zu melden? Nun, mein Junge, nur frei heraus.«

»Herr Kapitän«, hub ich an, »es scheint mir, daß ich die Eisberge schon – ja, wie soll ich es ausdrücken? – daß ich sie wittere, als wenn ich sie riechen könnte.«

Beide schauten sich an und lachten laut auf.

Da ich in meiner Einfalt glaubte, es sei nicht zum Lachen, wiederholte ich meine Behauptung noch etwas bestimmter als vorher.

»Wie?« sagte der Kapitän, »du kannst die Eisberge wittern und sogar riechen? Da mußt du aber eine außerordentlich feine Nase haben, mein kleiner Nonni.«

»Wie machst du denn das?« fragte der Steuermann scherzend.

»Ich kann es nicht so recht erklären, aber ich merke es sehr gut. Es ist, als wäre die Luft verändert. Spüren Sie denn nicht, daß die Luft hier ganz anders ist als gestern in Akureyri?«

»Da hast du recht«, antwortete der Steuermann; »aber deshalb brauchen doch keine Eisberge in der Nähe zu sein.«

»Doch, Herr Steuermann, ich bin sicher, daß sie im Anzuge sind. So melden sie sich immer.«

»Wer weiß«, sagte der Kapitän, »ob der Knabe nicht recht hat. Er kennt ja von Island her die Eisberge, und es ist leicht denkbar, daß sie die Luft verändern.«

»Nun ja«, fügte der Steuermann bei, »ich will auch nicht behaupten, daß es gerade undenkbar ist.«

»Sie werden schon sehen, Herr Kapitän, ich habe recht«, sagte ich und lief zu Owe und erzählte ihm etwas wichtigtuend meine Unterredung mit den beiden Schiffsführern.


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