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12. Auf der Flucht

Am folgenden Morgen wurde ich durch Geräusch vom Treppengange her geweckt. Ich richtete mich im Bette auf und horchte.

Bald hörte ich, daß jemand leis und vorsichtig die Treppe herabkam.

Aufgelegt zu Spaß und kleinen Streichen, wie ich oft war, kam ich auf den Einfall, mich schnell wieder hinzulegen und mich still wie eine Maus zu verhalten, als läge ich noch im besten Schlaf.

Kaum hatte ich mich zurechtgelegt, als auch schon die Türe aufging.

Ich lag unbeweglich und ruhig unter der Decke, atmete regelmäßig und schnarchte ab und zu.

Ich muß die Posse wohl gut gespielt haben; denn der Eintretende vermied sorgfältig jeden Lärm, ging auf den Zehen an den Tisch und stellte, wie mir vorkam, etwas darauf.

Leise trat er dann an mein Bett und kam so nahe an mich heran, daß ich seinen Atem fühlte.

Ich hatte Mühe, mich ernst zu halten, und wäre beinahe herausgeplatzt. Doch beherrschte ich mich und war gespannt, was geschehen werde.

Eine Knabenstimme flüsterte:

»Der arme Nonni! Er schläft noch so ruhig, daß es schade wäre, ihn zu wecken.«

Es war Owe.

Behutsam setzte er sich auf die Kante des Bettes und wartete.

»Jetzt«, dachte ich, »wird er dir wohl gerade ins Gesicht schauen.«

Nun konnte ich aber nicht länger stille halten. Ich öffnete die Augen und platzte in helles Lachen aus.

»O du Schelm!« rief Owe und lachte mit. »Du warst schon wach und hast mich narren wollen. Warte, ich werde es dir heimzahlen.«

Damit faßte er meine beiden Arme, hielt sie mit der einen Hand fest und gab mir – natürlich im Spaß – einen Schlag nach dem andern.

»Hör auf«, schrie ich, »jetzt ist's genug. – Au! Hör auf, oder ich werde bös.«

Er hörte auf zu schlagen, hielt mich aber mit beiden Händen fest und sagte:

»Bekenne! Warst du nicht wach? Bekenne, oder du bekommst noch mehr Schläge.«

»Ja, Owe, ich war wach und wollte dir nur einen kleinen Streich spielen.«

»Nun gut, so soll es diesmal genug sein. Aber schön war es nicht, mich so zu narren.«

»O, kannst du denn keinen Spaß verstehen, Owe? Das mußt du nicht übel aufnehmen.«

»Nun, das tue ich auch nicht, Nonni.«

Er ließ meine Hände los. Ich richtete mich auf und entdeckte auf dem Tisch eine Tasse mit dampfendem Kaffee und einen Teller voll kleiner Butterbrote.

Es war mein Frühstück.

»Am besten trinkst du den Kaffee gleich, sonst wird er kalt«, sagte Owe und reichte mir die Tasse.

Ich folgte ihm mit Freuden.

Er blieb bei mir sitzen und leistete mir zum Frühstück Gesellschaft.

»Hör mal, Owe«, redete ich ihn an, »wir müssen jetzt gewiß weit von Island sein; denn schon lang sind wir in voller Fahrt gegen Dänemark. Wir sind wohl bereits mitten im Atlantischen Meere. Wie tief mag es wohl hier unter uns sein?«

Owe hörte ruhig zu, aber schmunzelte so sonderbar.

»Aber weshalb schmunzelst du?« fragte ich ihn.

»Das will ich dir nachher sagen«, antwortete er.

»Wie tust du doch heute merkwürdig!« fuhr ich fort. »Ich glaube, du willst mich zum besten haben.«

»Nein, Nonni, das nicht.«

»Aber so sag mir doch, wie weit wir gekommen sind. Sind wir bald bei den Färöerinseln? Das wäre ungefähr der dritte Teil des Weges bis Kopenhagen.«

Owe schaute mich wieder schmunzelnd an und sagte:

»Nein, Nonni, die Färöer sind noch weit, weit von hier.«

»So? Das kann ich aber nicht verstehen.«

»Ja«, bemerkte er, »es wird noch manches geben, was du nicht verstehst. Aber jetzt will ich dir etwas anderes sagen. Wenn du mit dem Frühstück fertig bist und dich angekleidet hast und dann aus der Kajüte kommst, wirst du oben auf dem Deck eine Überraschung erleben.«

»Eine Überraschung auf dem Deck? Dann muß ich aber schnell machen!« rief ich und reichte Owe den Teller, der erst halb leer war.

»Aber mach doch erst fertig.«

»Nein, Owe, ich habe keinen Hunger mehr.«

Schnell sprang ich vom Bett und legte die Kleider an. Owe nahm Tasse und Teller und wollte fortgehen. Aber ich hielt ihn zurück und bat ihn inständig, mir zu sagen, was eigentlich los sei.

Er schaute mich schelmisch an und sagte, während er die Treppe hinaufstieg:

»Wir sind zu einem neuen Land gekommen, zu einem Lande, das du wohl noch nie gesehen hast.«

Ich traute meinen Ohren nicht. – Ein neues Land! und doch nicht die Färöer? – Das war ja gar nicht möglich. Die Färöer waren doch das Land, das zunächst an unserem Wege nach Dänemark lag.

Sollte Owe nicht Spaß machen? Vielleicht wollte er sich rächen für den Streich, den ich ihm gespielt hatte.

Als ich mich angekleidet hatte, kniete ich erst nieder, um mein Morgengebet zu verrichten. – Aber es wollte heute gar nicht gehen, so brannte ich vor Begier, auf Deck zu kommen.

Noch war ich mit dem Beten nicht ganz fertig, als ich plötzlich vor Schreck zusammenfuhr. Oben entstand ein fürchterliches Gepolter mit schweren Gegenständen und ein Rasseln mit Ketten, daß man hätte glauben mögen, das Schiff sei im Begriff unterzugehen.

Nun war es mir unmöglich, mein Gebet zu Ende zu bringen. Ich sprang auf, und fort die Kajütentreppe hinauf.

Wie aus den Wolken gefallen blieb ich stehen, als ich vor mir wirklich ein neues, mir unbekanntes Land sah.

Zur Linken hohe, mit Schnee bedeckte Berge, zur Rechten in der Ferne ebenfalls Berge, weiß von Schnee, und etwa dreißig Meter weit eine kleine, flache Insel, die gerade hier eine schützende Bucht bildete.

Die Matrosen waren eben daran, die Anker zu werfen. – Das war es, was den Höllenlärm verursachte.

Ja, Owe hatte recht; das war eine merkwürdige Überraschung.

Aber wie hieß das neue Land?

Ich lief zum Steuermann, wünschte ihm guten Morgen und bat ihn, mir zu sagen, wo wir denn wären und wie das Land da hieße.

»Wie, Nonni«, antwortete er, »das weißt du nicht?«

»Nein, ich kenne dieses Land in der Tat nicht.«

Der Steuermann lachte, gab aber weiter keine Antwort.

Ein Matrose, der meine Frage gehört hatte, sagte schmunzelnd:

»Ja, das ist ein gar sonderbares Land, kleiner Isländer; du hast wohl noch nie von ihm gehört?«

Ich wurde immer mehr gespannt und fing an zu raten.

Einen ganzen Tag und eine ganze Nacht waren wir nun in voller Fahrt von Island fortgesegelt. In welcher Richtung freilich, das wußte ich nicht. Aber nach allem konnte das neue Land nur Grönland sein.

Ja, es war gewiß Grönland. Der viele Schnee auf den Bergen deutete darauf hin.

Sollte denn nicht einer der Matrosen mir Aufschluß geben wollen?

Doch es war auffallend, wie die Leute allesamt gerade jetzt sich so schweigsam verhielten.

Auf meine Fragen lachten sie bloß oder neckten mich wohl gar.

Ich ging daher zu Owe, der in der Küche beschäftigt war, und etwas unwillig herrschte ich ihn an:

»Nun sag mir aber doch endlich, Owe, ist das Land nicht Grönland?«

»Gott bewahre, Nonni! Was hätten wir denn in Grönland zu suchen? Dort würden wir in dieser Jahreszeit nicht lebendig davonkommen. Nein, es ist nicht Grönland.«

»Sind es etwa doch die Färöer?«

»Auch nicht«, sagte er lachend.

»Dann steht mir aber doch bald der Verstand still. – Geh, mach jetzt keine Sachen mehr und sag mir endlich, was es ist.«

»Kannst du das wirklich nicht selbst erraten?«

»Nein, unmöglich.«

»Gut, dann will ich es dir erklären. Das sonderbare Land ist – Island! Und der Fjord hier ist der Eyjafjördur, derselbe, aus dem wir gestern morgen abgefahren sind. Wir befinden uns an seiner äußersten Mündung. Du bist früher wohl noch nie so weit von Akureyri fortgewesen?«

Ich stand da mit offenem Munde und wußte zuerst gar nicht, was ich sagen sollte.

»Aber es ist doch unbegreiflich«, fand ich schließlich das Wort wieder, »nun sind wir doch wenigstens vierundzwanzig Stunden vom Lande fortgesegelt, und jetzt sind wir auf einmal wieder da, von wo wir ausgefahren sind. Das ist doch mehr als sonderbar.«

»Aber Nonni, wir sind durchaus nicht immer vom Lande weggefahren, sondern haben große Umwege bald nach rechts, bald nach links gemacht.«

»Wozu denn das?«

»Das will ich dir gleich sagen. – Erinnerst du dich noch, daß du gestern meintest, Eisberge zu wittern? Nun ja, die Eisberge sind wirklich dagewesen. Der Kapitän wußte es sehr gut, auch ohne deine feine Nase. Das ganze Meer vor uns war damit bedeckt. Herr Foß hat wiederholt den Versuch gemacht, vorbeizuschlüpfen, aber es gelang nicht. Zuletzt wurde uns der Wind ungünstig, und da blieb nichts anderes übrig, als die Flucht zu ergreifen und dorthin zurückzusegeln, woher wir gekommen waren. Und jetzt haben wir an der Mündung des Eyjafjördur Anker geworfen.«

»Das ist aber doch verdrießlich, Owe. Was fangen wir nun hier an?«

»O, wir müssen bloß auf günstigen Wind warten und dann von neuem versuchen, an unserem gefährlichen Feind, dem Eise, vorbeizukommen.«

»Wie lange wird das wohl dauern?«

»Das kann man nicht sagen. Vielleicht müssen wir mehrere Tage hier bleiben.«

Jetzt war mir unsere ganze Lage klar.

Angenehm war sie nicht. Aber da half kein Klagen. Wir mußten uns fügen und uns nach den Launen von Eis und Wind richten.

Die waren stärker als wir.

Ich dankte Owe für die Aufklärung und ging auf Deck.

Die ganze Besatzung stand im Vorderteil des Schiffes beisammen. Alle schauten gegen Norden, und zwei Ferngläser waren beständig in Tätigkeit.

Neugierig lief ich hinzu und hörte, daß die Rede war von einem Schiffe, das in Sicht sei.

Nun strengte auch ich meine Augen an und entdeckte fern am Horizont einen kleinen weißen Punkt.

Auf meine Frage, was für ein Schiff das sei, antwortete ein Matrose, es müsse ein dänisches Handelsschiff von Kopenhagen sein, das kurz vor uns Akureyri verlassen habe, um nach Dänemark zu segeln.

»Aber wohin fährt es jetzt?«

»Es kommt hierher, weil es gerade wie wir die Flucht vor den Eisbergen ergreift.«

Man war sich aber nicht einig darüber, welches Schiff es sei.

Der Kapitän sagte:

»Ich glaube, es ist der Kaufmann ›Ludwig Popp‹.«

»Sollte es nicht eher ›Rachel‹ sein?« bemerkte ein Matrose.

Schnell wie der Wind rannte ich in die Kambüse zu Owe und sagte ihm mit wichtiger Miene:

»So, Owe, jetzt ist aber die Reihe an mir; jetzt habe ich dir eine Neuigkeit. Da wirst du aber auch horchen! Rat einmal, was es ist.«

»Das kann ich doch nicht, Nonni. Ich weiß ja gar nicht, um was es sich handelt.«

»Gut, so höre. Es kommt ein Schiff von Norden auf uns zugesegelt. Die einen sagen, es sei ›Ludwig Popp‹, die andern, es sei ›Rachel‹. Beide sind von Kopenhagen.

»Ich sage nun, es ist ›Rachel‹, was sagst du?«

»Das machst du aber schlau, Nonni! Wenn du ›Rachel‹ sagst, werde ich wohl ›Popp‹ sagen müssen.«

»Gut, Owe. Also du sagst ›Ludwig Popp‹, und ich sage ›Rachel‹. – Worum sollen wir wetten?«

»Ja worum anders als um Rosinen oder Feigen?« sagte der kleine Schelm.

»Soll das gelten?«

»Ja, es gilt Rosinen.«

Darauf eilte ich wieder hinaus.

Das Schiff kam näher und näher. Endlich war es so nahe, daß man mit dem Fernglas »Ludwig Popp« lesen konnte.

Ich hatte also die Wette verloren und mußte nun sehen, daß ich Rosinen bekam.

Ich ging zum Steuermann und bat ihn:

»Herr Steuermann, sind Sie so freundlich und geben Sie mir ein paar Rosinen. Ich habe mit Owe eine Wette verloren und bin sie ihm dafür schuldig.«

Der gute Mann lachte und sagte:

»Geh nur hinunter in die Kajüte, du weißt ja selbst, wo sie sind.«

Ich dankte ihm herzlich, ging in die Kajüte hinab und holte Owe seinen Siegespreis.

Jubelnd über meine Botschaft, nahm er die Rosinen in Empfang. Er teilte sie aber gleich in zwei Hälften, und brüderlich verspeisten wir die süßen Früchte.

Bald kam »Ludwig Popp«, ein hübscher kleiner Zweimaster, nur wenig größer als unser »Valdemar«.

Wir begrüßten einander mit kräftigem Hurra, und kurz darauf warf »Ludwig Popp« nahe bei uns Anker.


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