Rudolph Stratz
Die ewige Burg
Rudolph Stratz

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XXIV.

Es war am Abend vorher gegen zehn Uhr geworden, als der Graf und Wegmann die Fähre am Neckar erreichten. Zuweilen, wenn die Mondsichel aus den zerrissenen Wolken trat, glänzte der Schwall der lehmgelben Flußwellen, sonst war ringsum eine rauschende Finsternis, ein unsichtbares Gurgeln und Schäumen, ein leises, zitteriges Plätschern am Ufer und weiter draußen das eintönige, mächtige Brausen des erzürnten Stroms.

Da draußen hatte das Hochwasser seine volle Gewalt. Die rieselnden Schneerinnsale des Schwarzwaldes, die Frühlingsgüsse vom Himmel, die eilfertig von allen Höhen in Württemberg, Baden und Hessen niederhüpfenden Wildbäche einten sich da zu einem ungestümen, rastlos sich erneuenden Wirbel, der immer wachsend seit dreißig Stunden das schmale Bergbett des Flusses überflutete.

Alles über den Haufen schwemmend, drängte Welle auf Welle nach Westen, dem Rheine zu. Ihnen entgegen pfiff das Tal hinauf der Märzwind. Wenn sein Hauch über die schwarze Wasserfläche hinstöhnte, schwoll das Rauschen mächtig an, die Wogen stauten sich zornig zischend gegen den Sturm und drückten sich ihm, durch die nachflutenden Massen gepreßt, in weißen Gischtkämmen entgegen – weiter – weiter – nach dem Rheine, nach dem fernen Ozean . . .

»Sie kutschiere ja direkt ins Wasser 'nein!« Der alte Fährmann hielt die vor dem Flusse scheuenden Pferde mit seinen knochigen Fäusten am Kopfgestell, während Wegmann fluchend auf dem Bock sich zurückwerfend die Zügel an den Leib riß. »Sie wolle sich wohl umbringe und den Herrn da drinne und die Peerd'!«

»Dees is doch noch net der Necker!« schrie der Jäger und blickte mißtrauisch auf den Tümpel nieder, in dem die Vorderräder, die Hufen der Schimmel und die hohen Schmierstiefel des Fergen standen.

Der lachte: »Der Necker wird Ihne lang frage! Der hot net emol den Herrn Amtmann gefragt, ob er üwwerlaafe derf! Aber freilich, wann Sie 's em sage – do macht der Necker, daß 'r hamkummt. Uff Ihne hawwe m'r grad' gewartet!«

»Da ist wirklich schon der Neckar!« Graf Pius bog sich, aus seinem Brüten erwachend, über den Kutschrand.

»Jo, Herr! Deesmol is bees! 's laaft zuviel 'runner von den Berge un vum Himmel. Und er wächst alleweil noch! Mei' Haus is unner Wasser . . . die Straß' is unner Wasser . . . m'r möcht' rein die Kränk' krieche vor Ärger. Basse Se norr uff, wann der Mond wieder 'rausschaut, was der Fluß alles mit sich hot – m'r glaabt's net!«

Also – Sie glauben, daß wir noch Mondschein, kriegen?«

»Ha – bei dem Wind bleiwe die Wolke net gern beisamme! Sehen Se net da owwe die geele Streife? Dohinner schteckt er, der Mond! Awwer 's badd' nix! Rüwwer kann doch keins!«

»Sie wollen mich nicht überfahren?«

Der vierschrötige Fährmann lachte. »Liewer Herr . . . ich hab' e Fraa daheim und fünf Kinner. Ich werr' mich hüte.«

»Aber Sie sind doch dazu verpflichtet!«

»Sunst freilich! Ich du', was ich kann. Ich fahr' Ihne durchs Treibeis durch mit 'em ganze Kahn voll Marktweiwer – ich haww' Ihne schon Rinne ins Eis gehau'n – jedde Morge neu – und bin hin und her gefahre mit 'em Kahn. Warum? Weil's mei' Brot is. Ich zahl' e deuri Pacht – sag' ich Ihne, die will verdient sein. Aber bei dem Hochwasser – do schaff' ich keines 'nüwwer!«

Der Graf hörte die letzten Worte nicht mehr. »Was war denn das, Wegmann?« fragte er. »Es gab hinten so einen Stoß gegen den Wagen, wie wenn jemand abspränge!«

»Ich hab's aach g'hört, Herr Graf!« Der schwarze Jäger spähte mit seinen Katzenaugen ins Dunkel. »Awwer m'r sieht ja kaum die Hand vor den Aage!«

»Alleweil!« schrie der Fährmann und wies, seinen ölgetränkten Wetterhut gegen einen Sturmstoß festhaltend, mit der freien Hand nach oben. »Sie . . . Herr! Alleweil guckt der Mond 'raus!«

Die beiden anderen achteten des Geräusches am Wagen nicht mehr und sahen nicht die schwarze Gestalt, die vorsichtig geduckt hinter ihnen dem Hause des Fährmanns zuschlich. Sie starrten hinaus auf die rastlos gleitende Wasserwüste, die jetzt der bläuliche Schein des Mondes enthüllte. Zwischen ihnen und den paar Lichtpunkten des Städtchens weit am anderen Ufer wälzte es sich erdfarben, dick wie weißschäumender Erbsenbrei in einem regellosen Schwall, hier glatt dahinschießend, da in tief ausgedrehten Wassertrichtern kreisend, dort wieder aufstarrende Felsen und Dämme mit Spritzfluten überschüttend und in breiten, vornüberstürzenden Wellenkämmen gegen den Sturm sich bäumend.

Weit draußen, mitten in den Wogen, zeigten noch krampfhaft nickende, kahle Obstbaumkronen und die spitzen, gleich mächtigen Hundehütten über den Flußspiegel aufstarrenden dreieckigen Dächer kleiner Bauernhäuser die eigentlichen Grenzen des Neckarbettes an, das jetzt in weiten Lachen und Tümpeln bis an den Waldrand hin spülte.

Allerhand Gegenstände trieben in der trüben Flut. Massenhaftes welkes Laub und Gras, Stallstreu und dürre Äste, Holzscheite, Planken, die Balkentrümmer eines Scheunenfirstes, dazwischen große dunkle Ballen, von denen man in dem unsicheren Licht nicht unterscheiden konnte, ob es ertrunkenes Vieh, weggespülte Fässer oder abgerissene Nachen waren.

Dann wieder tönte ein schrilles Kläffen. Ein Karren schwamm, sich fortwährend drehend, vorbei, und auf ihm stand, angstvoll mit eingezogenem Schweif in die Nacht hinein jammernd, ein kleiner Schifferspitz. Hinter ihm her schoß eine ungefüge Masse. Ein großes, mit den roten Sandsteinquadern der Odenwälder Steinbrüche bis zum Rande vollbeladenes Neckarschiff wurde von den Wellen dahingerissen, mit blinder Wucht und Schnelligkeit alles vor sich her zermalmend, die Baumkronen knickend, die Ecke eines Stalldaches mitnehmend, wie eine Kanonenkugel auf ihrer Bahn jedes Hindernis zerschellt.

»Gnad' Gott, wem selles Fahrzeug begegnet!« murmelte der Jäger nachdenklich.

Sein Herr erwiderte nichts, sondern blickte auf den Fluß hinaus. Dies rastlose Strömen im Zwitterschein des Mondes auf den gelbschäumenden Wogen, dies gleichmäßige, feierliche Brausen einer entfesselten Naturgewalt, dies mahnende Stöhnen des Sturmes – ringsum die schwarzen niederen Wellenlinien der Berge und gegenüber wie trügerische Irrlichter blinkend die Lichtpunkte des Städtchens – das alles war von einem eigenen Grauen erfüllt, von dem unheimlichen Gegensatz zwischen der gewohnten lachenden Lieblichkeit des Neckartales und dieser plötzlich entstandenen finsteren Wasserwildnis.

»Herr Graf!« sagte Wegmann plötzlich, ohne ihn anzuschauen. »Ich mein', 's is besser, wenn wir bald fahre!«

»Ja!« Der andere wandte sich der Flutgrenze zu. »Vorwärts!«

»M'r müsse e Weilche warte, Herr Graf! Alleweil schiebt sich wieder e Wolke vor den Mond. Wann die fort is, stoße m'r ab! Unnerdees hol' ich beim Fährmann den Schallbaum un die Ruder. Das Boot hot 'r gleich hinnerm Haus in dem Hohlgässel angehängt. Komme Se mit, Herr Graf, ins Zimmer!«

Außer der Frau des Fergen und ein paar in der Ecke schlafenden Kindern saßen dort noch mehrere Männer, durch das Hochwasser abgeschnitten, verdrossen beisammen in halblautem Gespräch.

». . . 's schteigt als noch!« brummte der Forellenfischer. »Ich wollt' bloß, 's tät die Fawrik owwe in Grund und Boden reiße!«

»Jo – die schteht fest!« lachte der alte Schäfer, der in seinen blauen Wettermantel gewickelt, den langen Krummstab neben sich, an dem rotglühenden Ofen saß und emsig wie eine alte Frau mit seinen braunen Hornfingern an einem Wollstrumpf strickte. »Do kannscht lang warte!«

»Awwer die Fisch'!« Der andere schlug mit der Faust auf den Tisch und schob sich die blaue Schifferkappe ins Genick. »Die Fisch' – die derfe kaput gehn! Do frägt keins danach! Jetzt rührt's Hochwasser wieder den ganzen Dreck vum Bode! Die ganze Bach is voller Dreck und der Necker aach. Wann den die Fisch' in die Kieme kriege, no könne sie net mehr schnaufe! No müsse sie verschticke! Guckt norr 'naus! 's schwimmt jetzt schon alles voll doter Fisch'! O mei'! Was sinn dees für Zeite! Un wann's net der Necker is, so is es die Fawrik mit dem neumodische Giftzeug, oder der Schleppdampfer schmeißt mit seine Welle den Laich ans Ufer, daß er austrockne muß . . . so oder so . . . hin müsse die Fisch'! Ich möcht' schon bald lieber Schteine kloppe uff der Schosseh!«

»Jo – jo!« sagte der Holzhändler neben ihm finster und versank wieder in Brüten. Die anderen sahen ihn mit bedauerndem Kopfnicken an. Das Hochwasser hatte ihm einen Posten alter, zu Schiffsmasten bestimmter Schwarzwaldtannen vom Lager weggespült. Jetzt schwammen die machtigen Stämme schon auf eigene Gefahr zerstreut nach Holland hinunter, und ihr Eigentümer hatte die größte Not, die da und dort ans Ufer getriebenen Bäume aufzusuchen und für sich mit Beschlag zu belegen. Und manchen fand er wohl überhaupt nicht mehr. Der war schon heimlich und in aller Eile irgendwo als gute Beute mit Axt und Säge zerkleinert und weggeschafft oder sonst auf unbekannte Weise verschwunden.

»Im Owwerland hot's e halbes Dorf mitgenomme . . .« sagte, wie um den Holzhändler zu trösten, ein Leimwandhausierer aus der Ecke. »Drei Mensche sin tot.«

Die übrigen erwiderten nichts, sondern rauchten still und gedrückt ihre Pfeifen. Aus der Scheune nebenan klang das klägliche Blöken der dort über Nacht eingesperrten Schafherde und von draußen, eintönig und endlos, das Rauschen der Flut.

Der Jäger packte inzwischen das Nötige zusammen – ein paar derbe Handruder, eine lange Hakenstange und ein Seil – und zündete die Laterne an. Erst jetzt, als deren Licht im Winkel aufflammte, wandten sich die Köpfe der um den Tisch Sitzenden nach der Gruppe in der Ecke, und unverhohlenes Erstaunen malte sich auf all den wettergebräunten Gesichtern.

Der alte Schäfer, der den Grafen erkannte, hatte seinen Strickstrumpf aus der Hand gelegt und war ehrerbietig aufgestanden. »Ha – wo wolle denn die Herre jetzt hin?« fragte er, und es zwinkerte ihm ungläubig-zweifelnd in den hundert Fältchen um die Augen und den Mund.

»O mei', halt's Maul!« sagte Wegmann unwirsch und klappte die Laterne zu. »Wammer jedem Red' schtehe wollt', do könnt ich lang bawwele!«

Auch der Forellenfischer schüttelte nachdenklich den Kopf, daß die Ohrringe blitzten. »In so 'ere Nacht?« murmelte er zweifelnd. »In so 'ere Nacht!«

»Dees is e Nacht wie e anneri! Wer von euch will mitfahre? Der Herr Graf zahlt's 'em gut!«

Auf dies höhnische Angebot des Jägers trat tiefes Schweigen ein, und der dunkeläugige Geselle lachte geringschätzig. »Schteigt mir den Buckel 'nuff!« sagte er. »Wann ihr net mitfahre wollt, so redt't auch nix! Herr Graf!« Er wandte sich zu dem totenbleich und fröstelnd in der Ecke lehnenden Schloßherrn. »Jetzt hawwe m'r bald wieder den Mond! Dann norr gleich druff, solang 's hell is.«

Einer der Männer schaute prüfend durch die Scheiben hinaus in die Nacht. »Ich möcht' norr wisse«, sagte er nach einer Weile, »was das für'n schwarzer Kerl is.«

»Wo dann?«

»Ha – da drauße tappt so 'n schwarzer Kerl 'erum – schon e ganze Weil'. M'r kann en net recht sehe!«

»Den habt ihr mitgebracht!« meinte der Fährmann mit seiner tiefen Stimme. »Mir gedenkt's ganz deutlich, wie's uff eenmol gescheppert hot – hinne uff'm Wage, wie wann da eins abschpringe tät'! Der hot hinnerm Herrn Grafe gehockt und net emol ›dank schön!‹ gesagt!«

»Wer wär' denn dees awwer?«

»E Stromer!« Der Ferge blinzelte ebenfalls durch das Fenster. »E Handwerksborsch oder e Zigeuner. Im Frühjahr hot's 'ere viel! Do hot m'r sei' Plag' mit dem Volk. Ohne 'n Hund im Hof kammer net beschtehe!«

»Do geht's wieder drauße ums Haus!« sagte der Fischer. »Alleweil so was Schwarzes! M'r meint, der hot Angst, daß er net gesehe wird!«

»Der wird schon wissen, warum er net bei geht!« lachte der Fährmann. »Vielleicht is schon a Schandarm hinter'm her. Der möcht' auch übern Neckar und kann net!«

Der Jäger machte, von einem plötzlichen Gedanken ergriffen, auf den Fußspitzen ein paar Schritte nach der Türe. »A Schandarm!« flüsterte er, als gelte es, ein Wild zu beschleichen. »Ich muß dees Bürschle da drauße doch emol anschaue!«

»Wie willst dann dees anschtelle!« Der Fährmann hielt ihn zurück. »Der schpringt doch, wann er bloß die Tür aufgehe sieht. Jo, ihr Männer . . . 's is e Kreuz! Letztes Johr hat mir aaner nachts den Nache abgehenkt un is damit bis Mannem gefahre. Der hot's eilig gehott, der Schote!«

»Hawwe se'n kriegt?«

»Ah bah! Krieg du mol eins, wo erscht uff'm Rhein is! Der läßt beschtens grüße un meint, Holland war' aach e schön's Land!«

Die brausende Finsternis draußen erhellte sich mit bläulichem Schein. Der Mond trat hervor und alle standen schweigend auf.

»Adjee, ihr Leit'!« sagte der schwarze Jäger. »Wann es jetzt ent . . .«

Er brach ab. Das wütende Gekläff eines Hundes drang hinter dem Hause hervor, dazwischen ein undeutliches Klirren und Rumpeln.

»Was hot denn mei' Scholli!« rief der Fährmann «und stülpte sich den Wetterhut auf. »'s is hinne im Hohlgässel, wo's Boot liegt! Na wart'! Dir komm' ich!«

Er lief hinaus. Die anderen hinterher. Der mit feinem Sprühregen erfüllte Wind umbrauste sie, daß sie blinzelnd die Augen zukniffen und sich im Halbdunkel längs des Hauses hintasteten.

Der Ferge, der Schritt und Tritt kannte, war weit vor ihnen. Bis zu den Knien in dem leise plätschernden Uferwasser stehend, hielt er mit beiden Händen den Rand des Neckarbootes, das frei, einige Schritte von dem Lande entfernt, auf den Wellen trieb, und zerrte es zurück.

»Himmeldunnerwetter noch emol!« fluchte er durch das wütende Kläffen des Spitzes. »Hot der Kerl da drauße mir richtig schon den Nache losgemacht. Mit 'nem Feldstein hot er 's Vorhängschloß zerschlage! Wann der Scholli net uffgebaßt hätt'!«

Der »Joli«, ein rüder, kleiner Bauernköter, winselte noch einmal auf und kroch dann seufzend, wie im Bewußtsein erfüllter Pflicht, in seine Hütte zurück. Die Männer standen dicht beisammen an der mit lehmiger Flut erfüllten Gasse, die sonst zu dem jetzt tief unter dem Wasser befindlichen Landungsplatz der Fähre hinabführte, und sahen sich drohend nach allen Seiten um.

»Wo is er dann hin, der Kerl?« rief der Forellenfischer. Der alte Schäfer neben ihm deutete nachdenklich mit dem Krummstab irgendwohin in die Ferne, während die weißen Haarsträhnen im Wind um das faltige Antlitz flogen. »Der hot sich lang weggemacht!« meinte er. »Sobald daß e Hund laut wird, so sieht so aaner, daß 'r letz is, und laaft, was 'r kann!«

»Vorwärts!« Der schwarze Jäger stieß ihn ziemlich unsanft beiseite und sprang mit einem Satz in das Boot, daß das auf dessen Boden hin- und herspülende Regenwasser hoch aufspritzte. »Ihr schwatzt mir lang gut! Wir müsse die Zeit nutze, Herr Graf! Der Mond bleibt net ewig drauße!«

Er half seinem Herrn hinein. »Den Schallbaum bei!« schrie er. »Die Latern'! So! Die schtecke wir da vorne hin – Sie setze sich unterdes dahin, Herr Graf! Ich schtoß' den Nache, solang' ich Grund krieg'! Nachher heißt's ruddere! Alleh! Alleh!«

Die eiserne Spitze der langen, in seinen starken Armen sich biegenden Stange knirschte auf dem überschwemmten Steinpflaster. Der Hochwasserkahn, ein plumper, wohl zwanzig Fuß langer Kasten, in dessen hinterem Teil die abgehobenen Sitzbänke und Bodenbretter als eine dunkle, wirr aufgetürmte Masse durcheinanderlagen und emporstarrten, setzte sich langsam in Bewegung und schwamm durch das flache, unruhig im Schein der Laterne zitternde Wasser dem offenen Fluß zu.

»Sie sollte das Fahrzeug e End' uffwärts schtoße!« murmelte der Fischer, ihnen mit sachkundigem Blicke nachschauend. Aber der Fährmann widersprach. »Sell leid't die Schtrömung net!« meinte er. »Die hot dir e Gewalt – do muß alles mit! Alleweil sind sie drauße! Do guck norr, wie's die Latern' gleich 'nunnerzu's reißt!«

»Dees geht wie uff der Eisebahn!« Der Schäfer schüttelte den Kopf. »Awwer sie halte fescht dawedder! Wann norr der Mond bleibt!«

Er hatte es kaum gesprochen, da wurde es wieder stockfinster um sie. Eine massige Wolkenwand deckte, vom Westwind gebläht, rasch den ganzen Himmel, und stärker und stärker rauschte in schiefgewehten Güssen der Regen hernieder. Man sah nichts mehr in der tiefen Dunkelheit, als ferne, wie in endloser Weite, eine Reihe zerstreuter Feuerpünktchen am anderen Ufer und dazwischen den unruhigen Glanz der Bootslaterne, der bald rasch nach abwärts glitt, bald wieder schaukelnd auf der Stelle sich blitzgeschwind zwei-, dreimal im Kreise drehte.

Die Männer am Flusse verfolgten den Schein stumm, mit unverwandtem Blick. Er mußte jetzt schon ziemlich in der Mitte des Stromes sein. Seine Schwingungen wurden immer ungestümer und wilder im Wirbel der Wellen.

Zuweilen verschwand der Lichtstrahl für längere oder kürzere Zeit, wenn die mit Blech verkleidete Rückseite der Laterne sich der Abfahrtrichtung zudrehte. Dann blinkte es wieder auf, ängstlich, zitterig, und verlosch abermals in der Nacht.

Jetzt war es wieder da, mitten in der unsichtbar rauschenden Wasserwüste. Und ein halblauter Ruf fuhr aus dem Mund der Zuschauer. Das Licht schwankte nicht mehr wie bisher! Es kämpfte nicht mehr mit dem Strom! Es glitt rasch mit den Wellen abwärts, als hätten die im Boote zu rudern aufgehört und überließen das Fahrzeug seinem Schicksal.

Und in der Tat stand der schwarze Jäger am hinteren Ende des Bootes aufrecht in Ruhe da und überlegte. Dann stieg er, mit katzenartigen Schritten das Gleichgewicht wahrend, durch das am Boden schaukelnde Wasser auf die Bank zu, wo sein Herr saß und mit seinen schwachen Kräften ein Ruder in die Fluten tauchte.

Graf Pius sah beklommen die dunkel und unheimlich heranplätschernde Gestalt. »Was ist denn los, Wegmann?« fragte er unsicher, »Warum hören sie denn mitten im Fluß zu rudern auf?«

»Mitten im Fluß!« wiederholte der Waldläufer, vor ihm stehenbleibend, mit einer ganz ungewohnt tiefen, rauhen Stimme. »Jo, Herr Graf – dees is der rechte Ort für das, was wir zwei mitenanner jetzt vorhawwe!«

»Was denn?« Sein Herr klammerte sich erschrocken an die Bank. »Was haben Sie denn vor? Was soll denn das?«

»Was dees soll?« klang es wieder wie ein Echo. »Dees soll heiße, daß die Zeit kumme is, wo wir abrechne – hier stört uns keiner! Hier sieht uns keiner!«

»Ja – was wollen Sie denn?« Die Stimme des Schloßherrn erstarb im Schrecken.

»Was ich will? Ich will net nach Mann'em vors Schwurgericht kumme und nach Bruchsal ins Zellegefängnis! Dohin kummt m'r norr, wann Zeuge do sin. Hier sin ka Zeuge. Mitten uff'm Necker. Do kann keiner vor'm Gericht uff mich weise und schwöre: Der hot's getan!«

»Was denn? . . . Mensch . . . was . . . was . . . ist denn?«

»Hab' ich Ihne net treu gedient, Herr Graf? Wie sich's gehört? All die Jahr!?«

»Nun ja – und . . .?«

»Un wie hawwe Sie mir's gelohnt? Wie e Schuft! Betroge hawwe Sie mich un beloge un um mei' Beschtes gebracht. Un gemacht, daß die Leut' hinner mir her gelacht hawwe, un ich hab' nix gemerkt – weil ich mir alles andere in der Welt gedenkt hab' – bloß nix Böses von Ihne. Awwer jetzt weiß ich's . . .«

»Nein. Das ist ein Irrtum . . . Es ist . . .«

»Halte Sie's Maul! Die Elis' selwer hot's mir gesagt! Sell is jetzt sicher wie's Amen in der Kerch'! Sie sin mir in den Weg 'kumme! Wer mir in 'en Weg kummt, den mach' ich kalt! Sie sin der Erschte net!«

»Zurück, Mensch!« Die Todesangst gab dem Grafen einen plötzlichen Mut. »Unterstehen Sie sich . . .«

Der Waldläufer lachte wild auf. Wie zwei Stahlklammern krallten sich plötzlich seine sehnigen Fäuste in die schwächlichen Arme des anderen und hielten sie fest, während er ihn gleichzeitig mit dem Fuße hart an den Bootsrand, schon über ihn hinaus gegen den Wasserspiegel drängte. Der Mond war geschwunden. In der tiefen Dunkelheit, die die beiden ringenden und keuchenden Gestalten verhüllte, legte sich der Kahn schwer zur Seite, seinen Rand netzte schon die Flut, und über ihn bog sich der schwarze Jäger, mit stählerner Kraft sein Opfer der Tiefe zuzwängend und selbst mit dem zurückgestemmten rechten Bein sich sein Gleichgewicht in dem Verzweiflungskampfe wahrend.

Da plötzlich krachte es am Boden auf. Der Kahn war an eine Klippe gestreift und schwang sich, schwer zur Seite rollend, über sie hin. Der unvermutete Stoß warf den Büchsenspanner nach vorn, gegen das Wasser. Noch suchte er, während er den Halt verlor, mit dem Arm nach einem Stützpunkt. Aber schon packte ihn die freigewordene Rechte des anderen, der unter dem Anprall in die Wellen niederglitt, an der Brust und riß ihn mit sich in die Tiefe. Einen Augenblick strudelte und plätscherte es neben dem Kahn. Dann ertönte nur noch rings das einförmige Brausen der Wogen, und als der Mond wieder sein Silberzittern über den Wasserspiegel warf, da floß der Flutschwall glatt und leblos dahin. Nichts regte sich in dem rastlos zum Rheine rollenden Wellenzug als der Kahn, der steuerlos des Weges trieb.

Steuerlos, aber nicht leer. Hinten, wo die Bohlenbretter und Sitzbänke in wirrem Haufen aufgestapelt lagen, kauerte eine hagere, unheimliche Gestalt. Bei dem Stampfen und Keuchen des Kampfes war Bazaine aus seinem Versteck hervorgekrochen und hatte mit dem lauernden Ausdruck eines gejagten Raubtiers das Ringen seiner Todfeinde beobachtet. Jetzt lief ein verstörtes, schadenfrohes Lachen über sein Gesicht. Er kletterte nach vorn, wo die Ruder lagen, und tauchte sie in die Flut. Der Kahn gehorchte dem Druck. Er wendete sich zur Seite und strebte langsam dem Ufer zu.

»Jetzt schaffe sie wieder!« sagte auf der anderen Seite des Flusses der greise Fährmann zu der ihn umdrängenden Gruppe von Männern. »E Zeitlang hawwe sie's Boot rein treibe losse. Warum, dees mag unser Herrgott wisse!«

»Der Wegmann wird halt müd' gewese sein!« meinte der Forellenfischer. Aber der Schäfer lachte. »Jo – der und müd'! Dees gibt's bei deem net! Der hot irgend e Anstand mit dem Grafe gehabt . . . daß der net recht wohl geworre is vor Angst oder so was. Für den Mann is so e beese Fahrt nix!«

»Hab' du 'mol e krankes Kind!« Der Ferge sprach das in verweisendem Ton und blinzelte in die Ferne. »Und er zwingt's ja, der Graf! Do guckt norr 'nüwwer!«

Die Männer blickten auf. Jawohl – jetzt war der Lichtpunkt auf den Wellen schon nahe am Ziel. Man sah deutlich, wie er in ruhigeres Wasser kam und endlich stehen blieb.

»Die Latern' is drüwwe!« Der Schäfer hatte unwillkürlich seinen Hut abgenommen.

»Awwer gewackelt hot's!« Der Fischer schüttelte anerkennend den Kopf. »Jo – der Wegmann! . . .«

Am jenseitigen Ufer suchte inzwischen Bazaine mit der Laterne die flußabwärts führende Straße. Das dunkel gewordene Boot hatte er gleich mit einem Fußstoß wieder in die Strömung hinausgeschnellt. Jetzt ließ er ihm, sowie er den festen Grund der Chaussee unter den Schuhen spürte, die ausgelöschte Laterne in weitem Bogen folgen, um alle Spuren seiner Überfahrt zu verwischen. Wenn er die Nacht durch rastlos lief, konnte er bei Morgengrauen in Mannheim sein. Dort kannte er sich aus und fand wohl einen holländischen Rheinschiffer, der ihn für Geld und gute Worte mit sich stromab und über die Grenze nach Rotterdam nahm.

Der finstere Geselle rannte, was er konnte. Er hatte Angst, vielleicht zum erstenmal in seinem Leben. Und nicht vor Menschen, sondern vor solchen, die es gewesen waren. Immer wieder glaubte er in der stillen Nacht leise Schritte zu hören, er glaubte, den Kopf umwendend, zu sehen, wie der Graf und sein schwarzer Jäger mit bleich gewordenen Gesichtern und von Wasser triefend, hinter ihm her liefen und ihm winkten. Er wußte genau: es war unmöglich, daß ein Mensch lebend in der Nacht diesen eiskalten Fluten entrann, er hatte selbst gesehen, wie die beiden, sich umschlungen haltend, für immer untergingen und nicht wieder in die Höhe kamen. Aber trotzdem warf er von Zeit zu Zeit scheue Blicke auf die pfeilschnell zu seiner Rechten im Mondglanz hinschießende Spiegelflut und verdoppelte dann, ein halb vergessenes französisches Gebet vor sich hinmurmelnd, seine Schritte.



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