Rudolph Stratz
Die ewige Burg
Rudolph Stratz

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VIII.

Im Hofe der Burg stand ein dichtgeschlossener erbsengelber Reisewagen, der nach seiner seltsamen Bauart, den breiten, niedrigen Rädern, dem großen, hinten angebauten Kofferverschlag noch aus den Zeiten der seligen Postkutsche zu stammen schien. Der Rosselenker auf dem Bock ähnelte täuschend einem zu einer festlichen Gelegenheit verkleideten Bauernburschen, und auch die beiden struppigen, vom Grasfutter dickbäuchigen und vom Kot bespritzten Schimmel davor waren offenbar mehr gewohnt, den Leiterwagen zu ziehen, als die am Schlag mit einem verblichenen Wappen geschmückte Familienkarosse derer von Froningen auf schlechten Odenwaldwegen über Berg und Tal zum Besuch zu schleppen.

Neben dem Fuhrwerk stand der eben ausgestiegene Freiherr, ein finsterer, riesiger Junker mit langem, eisgrauem Schnurrbart und stechendem Blick, der für seine sechzig Jahre noch vortrefflich erhalten aussah, und half seiner Frau aus dem Wagen. Das ging nicht so leicht. Die zierliche Operettennachtigall von einst war im Lauf der Zeiten dick und behäbig geworden. Als ein Mensch, dem es im Leben ganz nach Wunsch gegangen und noch geht, sprach sie nicht viel, bewegte sich nicht gern viel, stritt mit niemandem, sondern schaute aus den kleinen, noch jugendlich munteren Augen wohlwollend auf alles in der Runde und freute sich den ganzen Tag auf ihr Lieblingsstündchen, die Kaffeejause nach dem Mittagsschlaf.

Endlich war sie dem gelben Kasten entronnen und stand, kaum mittelgroß, rundlich, mit freundlichem Lächeln neben ihrem sie um zwei Kopfeslängen überragenden Gatten. »Aber das sag' ich dir noch einmal, Erwin«, flüsterte sie in dem leichten Wiener Tonfall, den sie ebenso wie ihr Mann, der frühere österreichische Dragoneroffizier, nie abgelegt hatte. »Mich laßt's aus mit der Geschicht'! Mich laßt's in Ruh'! Ich will meine Ruh' haben. Red' du allein mit ihr! Zweck hat's eh keinen! Zwischen zwei Ehgatten Frieden stiften! Die müssen selber schauen, wie's miteinander auskommen und durchs Leben kommen. Ich hab's auch gemußt und hab's nicht so leicht gehabt. Denn damals . . .«

»Schau, daß du weiter kommst, Miezl!« sagte der päpstliche Kämmerer kurz und schob die rundliche Nachtigall von einst in die Vorhalle. Er hatte diese Rede während der mehrstündigen rumpligen Wagenfahrt nun schon dreimal mit der in einer dreißigjährigen und im ganzen recht glücklichen Ehe gewonnenen philosophischen Geduld über sich ergehen lassen.

In dem düsteren, halbdunklen Treppenhaus kamen ihnen, eben von der anderen Seite eintretend, ihre Tochter und ihr Schwiegersohn entgegen.

Die alte Baronin verlor beinahe ihr gewohntes Phlegma. »Da sind sie ja!« rief sie, streckte die kleinen fleischigen Hände aus und lief auf die beiden zu, um über das Beklemmende der ersten Begegnung, zumal im Beisein der die Mäntel und Hüte abnehmenden Dienerschaft, hinwegzukommen. »Und zu Fuß bei dem Regen! Fangt's nicht erst an und entschuldigt euch! wir sind eine Stund' früher gekommen, als wir gewollt haben! Da kommt her, ans Fenster! Laßt euch mal ansehen! Gut schaust aus, Katzl! Und du, Schwiegersohn, mach' kein so grantiges Gesicht! Ich komm' doch eh nur alle Jubeljahre mal auf Besuch. Und gleich nach der Jause fahren wir wieder ab. Auf den Abend muß ich einheimisch sein – in meinem Alter – da tu' ich's nicht mehr anders. Jetzt geht's vor allem und zieht euch um. Ihr seid ja tropfnaß. Ich geh' mit dir, Katzl! Und du, Erwin, kannst in der Zeit den alten Herren guten Tag sagen. Wenn's so kalt ist, sitzen sie sicher jetzt im großen Saal beisammen!«

Der Freiherr von Froningen nickte und stieg rasch und elastisch wie ein Jüngling die Treppen hinauf. Es war ihm lieb, vor der entscheidenden Aussprache mit seiner Tochter die drei Patriarchen des Hauses zu treffen. Aber er fand nur einen von ihnen in dem großen, dämmerigen Raum, und gerade den, den er am meisten suchte und seines vollen Vertrauens würdigte – den Priester aus Rom.

Der Greis stand sinnend am Fenster und drehte sich beim Knarren der Türe langsam um. »Ach – du bist's«, sagte er, während ein liebenswürdig-feines Lächeln sein Licht über die verwitterten Züge goß. »Also glücklich zurück vom Tiber? Wie steht es mit dem heiligen Vater?«

Der Junker zuckte die breiten Schultern. »Der Geist ist hell wie je«, sprach er andächtig und betrübt. »Aber der Leib schwindet mehr und mehr. Er verlöscht langsam, wie eine Kerze ausgeht. Der Wille allein erhält ihn am Leben.«

»Aber der heilige Vater hat dich empfangen?«

»Mich und die anderen Pilger. Beim Kardinalstaatssekretär war ich auch. Zweimal sogar . . .«

»Und der großen Messe, die der heilige Vater in St. Peter las, hast du doch hoffentlich auch beigewohnt?«

»Gewiß. Das ist . . .«

»Das ist das schönste Ausstattungsstück, das ich kenne!« sagte von hintenher der inzwischen eingetretene Pariser Roué. »Guten Tag, Baron! Bist du nicht zu heilig von deiner Pilgerfahrt zurückgekommen? Man munkelt, man hätte dich gleich nach dem Ablaß aller deiner Sünden auf dem Heimweg in Monte Carlo gesehen! Und ganz mit weltlichen Dingen beschäftigt.«

Der Odenwälder Hüne machte ein finsteres Gesicht, »wer behauptet denn das nun wieder?« fragte er und drehte zornig den martialischen grauen Schnurrbart.

»Gott . . . man hat noch seine Verbindungen!« Der Alte zwinkerte frivol mit den Augen und schaute listig nach der Türe, durch die eben der General zur Begrüßung eintrat. »Von früher her! Du, Bruder – findest du nicht, daß der Baron vorzüglich aussieht? Bewundernswert! Der reine Jüngling. Trotz der langen Reise von Rom nach Hause. Er hat sich aber auch nicht unnütz abgehetzt, sondern sich unterwegs an einem passenden Ort ein paar Ruhetage gegönnt. Was hat denn geschlagen – Rot oder Schwarz?«

Der General mußte unwillkürlich lächeln. Er kannte die seltsame Doppelnatur des Odenwälder Junkers, der fanatische Frömmigkeit mit einem düsteren Hang, trotzdem alle Jahre ein paarmal gründlich über die Stränge zu schlagen, unlösbar in sich vereinigte.

»Wer nicht fehlt, dem kann nicht vergeben werden«, setzte der Pariser trocken hinzu. »Ich wollt', ich wär' auch meine Sünden los. Aber mir hilft keiner!«

Der eisgraue Junker wandte sich ärgerlich ab. Er war sich der zwei Seelen, die in seiner Brust wohnten, wohl bewußt und hatte sich im Lauf der Jahre auf seine Weise damit abgefunden. Kein Mensch war sündenfrei, am wenigsten er, der wilde k. k. Leutnant von einst, der seinen tollen Streichen durch die Heirat mit einer Operettensängerin die Krone aufgesetzt und sich darauf, älter und ruhiger geworden, in die Beschaulichkeit seines Stammhauses, eines hochgiebligen, aus der Zeit der Deutschen Herren stammenden und halbverfallenen Kastens am Neckar, zurückgezogen hatte. Muß der Mensch aber seiner Natur nach sündigen – so ging die Logik des Odenwälders weiter –, so kann er doch nichts dafür, sondern hat nur die Verpflichtung, die begangenen Fehler zu bereuen. Das tat er denn auch, wahrhaft bußfertig und aus aufrichtigem Herzen, wenn in langen Nächten, an einsamen Regentagen mit dem Zipperlein die seelische Zerknirschung über ihn kam, und fand es allmählich ganz selbstverständlich, daß sein Leben in dem Dreieck zwischen dem Neckarschloß, dem Vatikan und dem Cercle des Etrangers in Monte Carlo oder dem Club Privé in Ostende sich abspielte.

Immerhin sprach er nicht gerne davon und vertiefte sich wieder mit dem Priester in eine angelegentliche Erörterung der Aussichten für die nächste Papstwahl, bis die Aufzählung der einzelnen »Papabili« und ihres jesuitischen oder dreibundfreundlichen Anhangs durch die Rückkehr seiner Frau und des gräflichen Ehepaars unterbrochen wurde.

Man nahm Platz. Man räusperte sich, man sah zu den Bildern an den Wänden hinauf, man wechselte einige gleichgültige Worte und schaute wieder durch die regenblinden Scheiben hinaus in die graue stürmende Frühlingswelt – es war eine unbehagliche Stimmung, ein Frösteln von außen und innen in dem ganzen Kreise. Endlich entschloß sich die Baronin, deren unverwüstliches Wiener Naturell solch ein fades, schweigsames Beisammensitzen nicht vertragen konnte, aufs Geratewohl über irgend etwas zu plauschen!

»Weißt, Katzl!« sagte sie gutmütig zu ihrer Tochter. »Ich beneid' dich nicht! Deinen Auerhahn in Ehren – wann's schon einen zähen Braten gibt, wenn du den alten Vogel beirichten willst. Was? Ausgestopft wird er? Wegen mir! Aber ich bitt' . . .« Sie wendete sich an die Herren. »Wie hat die ausgeschaut! Einen Schrecken hab' ich gekriegt . . . vorhin in ihrem Zimmer! Das ganze Gewand, die Schuh', alles patschnaß von oben bis unten. Wie aus dem Wasser gezogen läuft sie 'rum! Kann jetzt das gesund sein? Und um zwei Uhr früh aus den Federn heraus! Brrr! Mir graust's beim bloßen Gedanken!«

»Mir macht's halt Spaß, Mama! Ich mag nicht faulenzen!«

»Ach, du lieber Gott!« Die rundliche kleine Dame unterdrückte ein Gähnen. »Was soll man denn anfangen? Der Tag ist eh' lang genug!«

»Das finde ich nicht, Mama! Mir ist er jetzt beinahe zu kurz. Ich nutze ihn aus, Stunde um Stunde!«

»Ach, geh! was treibst denn jetzt, Katzl?«

»Ich lerne!«

»Lernen tust?« Ihre Mutter machte ein halb enttäuschtes, halb neugieriges Gesicht. »Warum net gar? Und was dann, bitt' schön – wenn man fragen darf?«

»Alles! Der Reihe nach. Ich habe mir eine ganze Menge Bücher aus Heidelberg kommen lassen. In denen studiere ich.«

»Und was sind denn das für Bücher?« fragte plötzlich aus der Ecke her der finstere Odenwälder Recke mit seiner tiefen Stimme.

Sie sah ihren Vater an. Es zuckte von erwachender Kampflust um ihre Lippen. »O – allerhand, Papa! Darwin zum Beispiel.«

»Was?«

»Ja. Und dann Häckel! – Und Renan! Und Strauß!«

»Da schau mal an!« sagte die gute Baronin beifällig. Sie hielt das für die Namen neuerlich beliebt gewordener Romanschriftsteller oder Lyriker. Ihr Mann aber erhob sich langsam in seiner ganzen Größe aus dem Schaukelstuhl.

»Was sagst du da?« fragte er und zog die buschigen Brauen zusammen. »Was liest du?«

»Was ich dir gesagt habe! Alle die Standard Works unserer modernen Zeit! Nietzsche auch! Von dem hab' ich alles!«

Nietzsche! Der plebejische Name mißfiel der alten Dame. Sie blickte zweifelnd an dem bigotten Odenwälder Ritter empor, der mit ein paar langen Schritten, ohne sie zu beachten, vor seine Tochter trat.

»Was ist das?« wiederholte er ungläubig. »Das wäre ja das Neuste! . . . derlei . . . derlei . . . Schund will ich nicht sagen. Es ist ja immerhin Wissenschaft . . . in ihrer Art. Gewiß. Aber verderbliche! Für dich wenigstens! Für Frauen. Für die Allgemeinheit überhaupt ist das doch nichts!«

»Warum denn nicht, Papa?«

»Weil du's nicht verstehst, oder vielmehr es falsch verstehst, was noch viel schlimmer ist!«

Sie schüttelte gleichmütig den Kopf. »Ich versteh's ganz gut, Papa! Das meiste wenigstens!«

»So? – woher weißt du denn das?«

»Das merke ich an der Wirkung, die es auf mich ausübt!«

»Auf die Wirkung wäre ich gespannt!« sagte der Freiherr düster. »Das erzähle mir doch einmal! Das interessiert mich!«

»Später, Papa – wenn wir allein sind! Du bist ja doch nur gekommen, um mir unter vier Augen in Gewissen zu reden. Das weiß ich und werde dir gerne Red' und Antwort stehen. Aber jetzt nicht. Jetzt regt sich Mama nur unnütz darüber auf!«

»Ja – was habt ihr denn?« Die alte Dame war ziemlich fassungslos und schaute ängstlich aus ihren kleinen guten Augen von einem zum anderen.

»Was ich gefürchtet hab'! . . .« sagte ihr Mann. »Wera ist außer Rand und Band. Jetzt wird es Licht. Weißt du, Mizzi, was das für Bücher sind . . .? Nein? Natürlich nicht! Gott sei Dank, nicht! Ich will's dir lieber auch gar nicht erst erzählen!«

Die Baronin faltete erschrocken die runden fleischigen Hände. »Jesus, Maria und Joseph! Ja aber, Katzl! Was fällt denn dir ein? So ein grausliches Zeug läßt du dir kommen und verdirbst dir den Magen mit . . . mit . . . ja . . . ich weiß ja gar nicht, wie ich so was nennen soll . . .«

»Nenn' es einfach eine Lektüre . . .« – ihr Gatte betonte scharf die folgenden Worte – »von der jeder einzelne Band auf dem Index steht.«

Jetzt schwieg die Baronin ganz verstört und mit halb offenen Lippen. Ihre Tochter aber legte leicht den Kopf zurück. »Was geht denn mich der Index an?« fragte sie kampflustig.

Darauf entstand eine Weile tiefes Schweigen. Der Freiherr wendete sich ab. »Also darüber sprechen wir später!« sagte er, trat zum Fenster und trommelte an den Scheiben. Seine Frau sah sich hilfesuchend im Kreise um. »Ja – ist denn jetzt niemand da, der zu so was den Mund aufmacht?« forschte sie. »Oder, wann ihr nicht wollt, und auch der Onkel aus Rom nicht will, ist dann kein anderer geistlicher Herr mehr da – unten im Dorf? So laß doch den holen, daß er mit ihr einmal ein ernstes Wort spricht! . . . Das ist ja 'ne Sünd' und Schand', wenn's so in 'ner Familie zugeht.«

Ihre Tochter lachte. »Der ›geistliche Herr‹ unten, liebe Mama, ist ein junger, unerfahrener Mensch aus kleinen Verhältnissen, der von der Welt keine Ahnung hat. Ich komme mir sehr alt und weise ihm gegenüber vor – voller Wohlwollen – beinahe mütterlich! Ich müßte lachen, wenn der ganz ernst und salbungsvoll in mein Inneres leuchten wollte!«

»Und wenn man fragen darf . . .« der düstere lange Junker am Fenster drehte sich nicht um, und sein Baß grollte dumpf. ». . . wer leuchtet denn in deine schöne Seele hinein und begeistert sie zu all diesen Extravaganzen?«

»Das weißt du ja doch, Papa! Deswegen bist du ja hier!«

»Ich will es aber von dir hören!«

»Nun gut, 's ist der Doktor unten! Er hat mir all die Bücher aufgeschrieben und leitet meinen Studiengang, und ich bin ihm sehr dankbar dafür. Er ist der bedeutendste Mann, den ich in meinem Leben getroffen habe, und ich bin stolz darauf, daß er mein Freund ist!«

Das entscheidende Wort war gefallen, die Aufforderung zum Streit. Aber niemand hatte Lust, ihn jetzt schon zu beginnen. Man saß und schwieg und horchte auf das Rauschen des Regens, das Zischeln des Efeus, das Raunen des Windes vor den Fenstern der ewigen Burg.

»Ja – ja, Kinder – so geht's auf der Welt!« sagte die Baronin plötzlich ganz laut und unvermittelt, als habe man die ganze Zeit gemütlich geplaudert, »Weißt, was ich jetzt möcht', Katzl? Den Kleinen anschauen! Ja – ja – ich weiß schon, er ist nicht recht wohl! Ich will auch bloß hinüber und dem armen Hascherl einen Kuß geben und ihm ein Spielzeug aufs Bettchen legen. Da – den Hampelmann hab' ich ihm mitgebracht!«

Wera hatte geklingelt. »Fragen Sie Elise,« befahl sie dem eintretenden Diener, »ob mein Sohn schläft. Denn weißt du,« sie wendete sich zu ihrer Mutter, »aufwecken möchte ich ihn doch nicht lassen.«

Die alte Dame nickte. In kurzem kam der Diener wieder. »Der junge Herr ist wach!« meldete er. »Der Herr Doktor ist bei ihm!«

»Der Doktor?«

»Sehr wohl, Frau Gräfin! Schon seit einer Viertelstunde. Er hat mir aufgetragen, zu sagen, daß er gleich selbst herüberkäme, um Bericht zu erstatten, und den jungen Herrn möchte man jetzt gefälligst in Ruhe lassen!«

Eine Bewegung ging durch den Raum. Aber niemand sprach ein Wort. In der tiefen Stille hörte man von ferne schwere, rasch näher kommende und wuchtig in der Wölbung des Flures widerhallende Schritte. Der Diener öffnete die Türe, und der Kassenarzt trat ein. Hut, Mantel und Stock hatte er draußen gelassen. Aber mit seinem vom Regen beperlten, vom Wind zerzausten Bart, mit seinen hohen, von der Wanderung über die Landstraße hart mitgenommenen Stiefeln, mit dem leisen Karbol- und Jodoformgeruch, der ihn umwehte, bildete er doch einen höchst auffallenden Gegensatz zu diesem Saal der stillen Bilder und der stillen Menschen.

»Der reine Hinterwäldler!« dachte der alte Junker und nickte nur hochmütig mit steifem Nacken, während ihm seine Tochter den Doktor vorstellte, und die Baronin hätte beinahe sogar diesen Akt der Höflichkeit vergessen – so neugierig, beinahe erschrocken starrte sie in das Gesicht des Fremdlings. In ihrer Auffassung war ein gräflicher Arzt ein würdiger bebrillter Herr, der nachdenklich den Goldknauf seines Stockes an das Kinn hielt, oder – wo es sich mehr um das Volk handelte – ein wohlerzogener, bescheidener junger Mensch mit einem goldenen Kneifer und verlegenem Lächeln. Aber dieses derbe, von riesigen Haar- und Bartmassen umrahmte braune Bauerngesicht mit den blitzenden Augen und der unheimlich hohen, doppelt gewölbten Stirne, diese breite Brust, aus der die Stimme tief und dröhnend in der Tonfärbung des Volkes statt in wissenschaftlichem Hochdeutsch erklang – dieser ganze, in allem, wie er da stand und sprach, so selbstverständlich und selbstbewußt erscheinende Mann war ihr etwas Neues. Etwas höchst Unbehagliches.

Der Kassenarzt selbst kümmerte sich durchaus nicht um den Eindruck, den er etwa auf die Anwesenden machte. Er begrüßte sie flüchtig und wendete sich dann sofort der Gräfin zu. »Wir wollen den Kleinen heute jedenfalls im Bett lassen,« sagte er schnell. »Ich kann vorerst gar keine bedrohlichen Symptome erkennen. Aber immerhin, Appetitmangel und eine gewisse Mattigkeit lassen sich nicht leugnen, und Vorsicht ist die Mutter der Weisheit für den Fall, daß sich doch noch etwas entwickeln sollte, was ich, wie gesagt, vorerst nicht glaube. Apropos – war der Kleine in letzter Zeit viel aus?«

»Nein, nur einmal im Dorf – sonst war das Wetter zu schlecht.«

»So – so – unten im Dorf?« Über das Gesicht des Arztes glitt eine flüchtige Wolke. »Ich komme morgen wieder, Frau Gräfin. Sollte es inzwischen nötig sein, so schicken Sie herunter oder besser – lassen Sie mich jedenfalls morgen früh wissen, wie es steht!«

Sie reichte ihm die Hand. »Ich werde es Ihnen sogar selbst sagen, Herr Doktor!«

Er erwiderte nichts, sondern sah sie etwas erstaunt an. »Sie haben mir doch versprochen, mir Ihr neues Laboratorium zu zeigen!« fuhr sie auffallend laut und bestimmt fort. »Das ginge morgen vormittag gerade sehr gut, wo die Eisenbahn eingeweiht wird und Sie also jedenfalls freie Zeit haben. Oder machen Sie das Fest mit?«

»Nein, Frau Gräfin!« Der Doktor schüttelte ihr die Hand. »Dazu ist mir meine Zeit zu lieb. Also auf Wiedersehen! Ich werde meine Bazillen benachrichtigen, daß sie sich von zehn Uhr ab zur Parade bereit halten! Frau Gräfin . . . Herr Graf . . . meine Herrschaften . . . ich hab' die Ehre!«

Er ging. Im Flur verhallten seine raschen Schritte, während der Diener die Tür zum Nebenraum öffnete, wo die Frühstückstafel bereitstand.

Die Baronin nahm ohne weiteres den Arm ihres Schwiegersohnes. »Das ist ja ein ganz gefährlicher Mensch, der Doktor –« sagte sie. »Dem möcht' ich nicht nachts im Wald begegnen! Da könnt' mir einer was schenken, eh' ich so einen zum Arzt nehmen tät! Aber Hunger hab' ich. Erwin – wo bleibst denn?«

Der lange Freiherr hatte seinen Platz am Fenster nicht verlassen. »Mir ist der Appetit vergangen!« sprach er mürrisch.

»Ich hab' jetzt auch keine Lust, zu essen!« Wera trat plötzlich neben ihn. »Weißt du was, Papa? Lassen wir die anderen frühstücken und reden wir jetzt gleich miteinander. Dann haben wir's überstanden. statt uns noch eine Stunde lang etwas vorzuspielen. Das ist mir zu langweilig!«

Der Alte nickte. »Meinetwegen!« brummte er, ging mit schweren Schritten zur Türe, schloß sie und wandte sich dann wieder seiner Tochter zu.



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