Rudolph Stratz
Die ewige Burg
Rudolph Stratz

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XX.

Oben im Schloß saß man bei Tisch. Stumm wie bei einem Leichenmahl. Die drei Greise, sorgenvoll und grämlich, mit zitternden Händen sich bedienend, gegenüber die blassen Züge des Schloßherrn, der nicht von seinem Teller aufsah, und seiner still und teilnahmslos dasitzenden Gattin, am Büfett die schleichenden Schritte des hageren alten Schotten und an den Wänden all die buntscheckigen Gestalten einer längst verstorbenen, einst so lebenslustigen Welt, verwegene Männer und üppig lächelnde Messalinen, die aus großen Augen auf die stille trübe Runde ihrer Nachkommen und den von Kerzen und Silber flimmernden, mit kostbaren Gewächshausblumen geschmückten Tisch hinabstaunten.

Draußen klatschte der Regen an die Scheiben, einer der Greise hüstelte zuweilen auf, im Hintergrund hantierte der hagere Schotte fast geräuschlos mit dem Geschirr, wie um einen Schwerkranken nicht zu stören, im Kamin krachten die Buchenscheite und umkräuselten sich zuweilen bläulich von niedergedrücktem Rauch, wenn wieder einmal ein Windstoß das Gemäuer umbrandete und in der Ferne das Gepolter abbröckelnder Steine der Wucht seines Anpralls folgte.

Dann war wieder alles still. Leer und tot, eine ungeheure Öde außen und innen. Und so würde man morgen wieder sitzen und übers Jahr auch und für alle Zeiten und allmählich in dem Rokokospiegel gegenüber sehen, wie das Haar sich grau färbte und die ersten Runzeln die verblühten Züge durchfurchten. Und schließlich würde man welk und müde wie die drei abgestorbenen Männer da, in Decken gehüllt, vom Diener gestützt, die mit Medizin gewürzte Mahlzeit nehmen, bis endlich wieder einmal das Kapellenglöckchen unten über der Gruft bimmelte, wo das »hic jacet Pius ab Wodenstein, miles« auf jeder zweiten wappenverschnörkelten Steintafel prangte, und eine neue Grabplatte würde sich stöhnend über eine neue Gruft wälzen, in der alles begraben lag – Jugend, Hoffnung und Glück.

Ein unermeßliches Grauen ging durch Weras Brust, während der Diener die beinahe unberührten Gerichte abräumte und neue auftrug. Sie hielt diese stumme Komödie bei Tisch nicht mehr aus, die man vor der Dienerschaft spielte, um nicht deren Argwohn nach all den Vorgängen des Tages zu erwecken. »Verzeihung«, sagte sie aufstehend mit gepreßter Stimme. »Ich will nach Wulfi sehen. Er ist allein. Ich habe Elise ins Dorf geschickt. Ich weiß nicht, wo sie bleibt.«

Die Herren nahmen stumm wieder Platz, als sie den Saal verlassen hatte. Den beiden Junggesellen, dem Roué und dem Priester, war Mutterangst und Mutterliebe ein wohl zu begreifendes, aber schwer mitzuempfindendes Ding. Der General aber sah ernst vor sich hin. Er wußte, was es hieß, ein Kind zu verlieren. Unwillkürlich dachte er sich aus, wie alt sein Sohn jetzt sein würde. Schon in den Dreißigern! Rittmeister in der Gardekavallerie. Oder Diplomat. Und jedenfalls verheiratet. Frau und Kinder um ihn, der ehrwürdige Stamm in jugendgrünem Reis, und er selbst, der Alte, ein Patriarch unter den Seinen, statt hier einsam im einsamen Schloß . . .

Er lächelte bitter. Dort unten im Schloß lag eine kleine Steinplatte. Drei Tage hatte das arme Geschöpfchen gelebt, drei armselige Tage. Noch kaum Mensch geworden, ward es schon wieder zu Staub, vor langer, langer Zeit.

Auch ihm und den beiden neben ihm war die Zeit der Staubwerdung und Auferstehung, wie sie sein gläubiger Sinn erhoffte, nahe! Vielleicht dem ganzen Geschlecht! Drüben, in den Armen jener jungen Frau, fieberte der Letzte – ein schwächliches, hinfälliges Wesen, wie jenes, das ihm einst der Tod entrissen.

Wenn auch der kleine Eitelwolf starb? Plötzlich, er begriff nicht wie, kam ihm der Gedanke. Er erschrak und blickte verstohlen seinen bleich und still am Tische sitzenden Neffen an, der sich gegen seine Gewohnheit ein Glas Rotwein nach dem anderen eingoß. Er wußte, nach einem solchen Schlag würde der schwache Mann sich seiner unglücklichen Ehe entziehen und nicht den Mut zu einer zweiten finden. Dann war es zu Ende. Hinter ihm zerbrach das Wappen mit den Wisentköpfen und klang der alte Spruch: »Heute noch Wodenstein und nimmermehr!« Und draußen, ja draußen ging die Welt wohl ruhig ihren Gang. Im Tal unten pfiff und summte die Fabrik, die Eisenbahnzüge rollten, und aus dem Abteilfenster bog sich wohl neugierig der Kopf eines Touristen, um das im Reisehandbuch besternte alte Schloß einen Augenblick zu besichtigen.

Draußen brauste der Wind stärker, und wieder grollte es von stürzenden Steinen.

»Du solltest die Mauern wirklich stützen lassen!« murmelte der Pariser.

»Wozu?« Der junge Graf sah stumpf in die Kerzenflamme. »Wozu?« wiederholte er nach einer Weile mechanisch, in seine Gedanken versunken.

»Dann lasse wenigstens besser einheizen!« Der Priester stand fröstelnd auf. »Durch das ganze Schloß spürt man seit heute morgen einen eiskalten Luftzug.«

Der General zündete sich eine Zigarre an. »Das ist immer im Frühjahr!« sagte er zwischen den Zähnen. »Die Kälte steckt tief in den dicken dumpfen Mauern und kriecht, wenn es draußen warm wird, ans Tageslicht.«

Auch der Pariser drehte sich eine Zigarette. »Ein schöner Trost!« sprach er melancholisch. »Also weil es in der ganzen Welt Frühling wird, müssen wir frieren! Aber du hast recht! Was alt ist, ist kalt und muß frieren. Das Schloß ist alt, wir selbst sind alt, drum klappern wir mit den Zähnen! So geht's! ›Tout passe, tout casse, tout lasse!‹«

»Alter Unglücksrabe!« Der General stocherte mit finsterem Gesicht in dem Kamin. »Auch noch dies Gekrächze zu dem Sturm und Regen draußen und dem bleiernen Schweigen bei Tisch! Du wirst einen traurigen Eindruck mit nach Rom nehmen«, wandte er sich an seinen anderen Bruder, »wenn du zurückfährst!«

»Vorderhand reise ich nicht. Solange Eitelwolf krank ist und . . .«

Er brach ab. In der Türe stand Wera, fahl im Gesicht. Ihre Lippen, ihre Hände, ihr ganzer Körper zitterte.

Sie sah ihren Mann an. »Komm mit!« stieß sie tonlos hervor.

»Um Gottes willen – was ist denn?«

»Komm mit! Zu Wulfi!«

Jetzt erfaßte auch ihn ein Beben. Er sprang auf und verließ verstört mit seiner Frau den Saal.

»Was gibt es denn?« wiederholte er beklommen, während sie zusammen in das dämmerige Krankenzimmer traten.

»Als der Doktor zuletzt da war . . .« sie sprach langsam, schwerfällig, wie ein Mensch, der an seine eigenen Worte nicht glaubt, ». . . gestern mittag fragte er mich, ob ich keine grauweißen Flecken im Hals gesehen hätte. Ich sagte nein. Ich hatte nichts gesehen. Bis jetzt. Jetzt eben aber . . .«

»Jetzt sind sie da?« Er schrie fast auf.

Sie nickte, vor Schrecken ganz ruhig, beinahe gleichgültig.

»Die weißen Flecken?«

»Ja, die Diphtheritis. Sie ist im Dorf. Dort hat er sie sich geholt. Er ist sterbenskrank.«

Ihr Mann machte ein paar unsichere Schritte gegen das Bettchen. Sie hielt ihn zurück. »Störe ihn nicht! Du kannst doch nichts sehen! Dazu gehört eine geschickte Hand und ein Licht und ein Löffel. Vorhin hatt' ich alles. Da hab' ich den weißen Belag gesehen. Ganz deutlich.«

Er sank auf einen Stuhl und trocknete sich wie geistesabwesend die kalten Schweißperlen von der Stirne. Zu sprechen vermochte er nicht.

Einige Minuten rollten bang zwischen den beiden dahin, die sich haßten und doch einander näher fühlten als irgend wer sonst in der Welt, in ihrer Not um den gemeinsamen Liebling, – die feindselig voneinander wollten und doch vor Angst aufschrieen, daß das schwache Band, das sie zusammengefesselt hielt, zerreißen könnte.

»Es muß gleich etwas geschehen!« stieß er endlich hervor. »Wenn es wirklich das ist, dann tut höchste Eile not!«

Sie zuckte die Achseln. »Es kann gar nichts geschehen, ehe nicht der Arzt kommt! Der allein kann helfen!«

Er trat zum Fenster, blickte auf die Uhr und starrte in die Dämmerung hinaus. Nichts war zu sehen, als die eintönig niederströmenden Regenschleier und unten die Lichtpunkte des Dorfes. Das, wonach er spähte, die Laterne des um die Waldecke zurückkehrenden Wagens, das wollte nicht kommen.

Wieder war das bange Schweigen im Krankenzimmer. Draußen auf dem Flur huschten leise Tritte und flüsterten Stimmen. Unter der Dienerschaft hatte sich das Gerücht von der Verschlimmerung verbreitet.

Und immer noch rollte nicht der ersehnte gelbe Doppelstern der Laterne drüben um den undeutlich sich abzeichnenden Bergvorsprung.

»Dieser Kutscher!« murmelte er zwischen den Zähnen. »Wo bleibt der Kerl? Er könnte, weiß Gott, schon wieder da sein!«

Er drehte sich um und sah, daß auch die drei alten Herren inzwischen ins Zimmer getreten waren. Stumm und ernst standen sie da, wie Totenwächter, mit ihren schwarzen Kleidern, den grämlichen Greisengesichtern. Ein leises Seufzen ging durch den Raum – ein kindlicher Angstlaut. Wera huschte auf den Fußspitzen zu den drei Alten hin. »Ich bitte Sie . . . gehen Sie . . .« flüsterte sie. »Wulfi erschrickt, wenn er im Fieber solch dunkle Gestalten da im Schatten sieht . . .«

»Also es ist wirklich die . . . die Krankheit?« Der General, der schon die Türklinke in der Hand hielt, wagte den Namen nicht über die Lippen zu bringen.

Sie nickte stumm.

»Ja – und der Arzt?«

»Der Arzt!« Es fuhr wie ein unterdrückter Schrei aus ihrer Brust. »Sie sehen ja – es ist keiner da! Der da unten wird nicht ins Haus gelassen und der Physikus aus der Stadt kommt nicht.«

Von ferne klang ein leichtes Rollen, – ein Peitschenknall. Graf Pius warf einen Blick durchs Fenster und eilte dann, ohne ein Wort zu sagen, zur Türe hinaus.

»Gott sei Dank, der Kreisphysikus!« murmelte der General. »Nun können wir uns trösten! Nun muß ja alles noch gut ausgehen!«

Sie starrte schweratmend nach der halboffenen Türe, durch die die drei alten Herren, so schnell es ihre zitterigen Glieder erlaubten, dem Arzt entgegengegangen waren. Sie vermochte ihnen nicht zu folgen. Es hielt sie fest bei ihrem Kind. Nur eine Minute noch . . . dann mußten ja die schweren Schritte den Flur entlangkommen, das gedämpfte Gemurmel der Männer klang näher, es klopfte an der Türe, der Helfer . . . der Retter in der Not trat ein . . .

Aber alles blieb still. Sie hörte nichts als das Hämmern ihres Herzens und draußen den Nachtwind.

Und jetzt, ferne, von unten aus dem Hof, eine zornige Stimme, die Stimme ihres Mannes. Ihr antwortete niemand. Die Stimme tönte immer wieder . . . abgerissen . . . leidenschaftlich . . . mit einem ganz fremdartigen Klang . . .

Eine schreckliche Ahnung durchzuckte sie. Sie eilte über den Flur, die Treppe hinab, in den Vorhof.

Da keuchten die Pferde, in eine weiße Dampfwolke gehüllt, aus der als gelbe trübe Kugeln die Laternen des Wagens flammten. Und der Wagen selbst war leer!

Davor stand ihr Mann. Er hielt seinen Kutscher vorne an den Brustknöpfen gepackt, als ob er ihn erwürgen wollte, und warf dem bleich gewordenen Mann die wütenden Worte ins Gesicht.

»Ein untreuer, gewissenloser Diener sind Sie!« keuchte er. »Ein Mörder sind Sie, jawohl! Sie tragen die Schuld, wenn hier ein Unglück passiert! Sie allein! Weil Sie meine Befehle nicht ausführen. Weil Sie schlapp sind und feige. Jawohl – ein Feigling sind Sie!«

»Herr Graf!« sagte der Kutscher rauh. »M'r soll die Leut' nicht ins Unrecht setze! Der Herr Graf tun mir unrecht! Der Herr Graf hawwe mir gesagt: ›Schpanne Sie an und fahre Sie 'nüwwer ins Schtädtche zum Physikus. Der junge Herr wäre net recht wohl, der junge Herr wär' verkältet un der Herr Physikus möchte doch 'mol nachschaue!‹ No verkältet – Herr Graf – do kammer sich nix Schlimmes denke . . .«

»Aber inzwischen ist es schlimm geworden!«

»Herr Graf! Sell haww' ich net wisse könne! Und wie ich zum Neckar kumme bin – Herr Graf – Sie sollte den Neckar sehe! So arg war's Hochwasser schon durch Jahre net! Der Fährmann hot gekrische vor Lache, wie ich 'em gesagt haww', ich wollt' 'nüwwer. ›O mei'!‹ hot'r gekrische. ›Ich haww' Fraa un Kinner! Bei sellnem Wasser fahr' ich keines! Bei sellnem Wasser kann keines 'nüwwer! Rüwwer schon von der anderen Seit', wo sie die große Boot' hawwe un mehr Leut'!‹ No haww' ich m'r denkt, Herr Graf: dees bressiert ja net so, weil der junge Herr doch bloß verkältet is, und da wär's Beschte, m'r telegraphiert 'nüwwer zum Physikus.«

»Wie denn? Das Postamt ist geschlossen. Es ist sieben Uhr vorbei. Und sogar wenn ich den Vorsteher herauspoche, nehmen sie es ihm drüben nicht ab! Er kriegt die Depesche nicht vor morgen früh, und dann ist es zu spät. Durch Ihre Schuld! Sie machen mich unglücklich durch Ihre Feigheit! Auf niemanden von euch kann man sich verlassen. Spannen Sie nicht aus! Ich fahre selbst und hole den Physikus.«

Er trat zu den Pferden und riß ihnen ungestüm die Decken herab, während die Diener und die alten Herren ihn erstaunt und ungläubig ansahen. Da fühlte er sich an der Schulter berührt. Er drehte sich um. »Was willst du?« fragte er rauh gegen Wera hin. »Jetzt hab' ich keine Zeit!«

»Ich muß dir etwas sagen, ehe du fährst! Verstehst du – ich muß!«

»Also – nur rasch!«

»Nein – hier nicht! Komm in das kleine Empfangszimmer nebenan! Nur zwei Minuten!«

»Schnell – was gibt es?« fragte er, kaum daß sie eingetreten waren.

»Bleibe ruhig bei dem, was ich dir jetzt sage! Siehst du: So fern wir einander sind, bei Wulfi empfinden wir doch dasselbe und bitten und beten, daß er uns erhalten bleibt. Das kann er nur durch den Arzt und das Serum.«

»Ich hole ja den Arzt! Halte mich doch nicht auf!«

»Und bist du sicher, ihn hierherzubringen? Zu rechter Zeit? Es kann so viel unterwegs geschehen!«

Er zuckte zusammen. »Ich bringe ihn!« murmelte er. »Und es bleibt ja auch keine andere Wahl!«

»Doch! Den Doktor aus dem Dorf rufen lassen.«

Er trat zurück. »Das sagst du mir ins Gesicht?«

»Warum nicht! Jetzt ist alles andere einerlei. Jetzt handelt es sich nur um Wulfi. Dort unten ist die Hilfe. Wir brauchen nur die Hand danach auszustrecken!«

». . . nach dem Menschen, dem du heute das Kind ausliefern wolltest!«

»Das hab' ich nicht gewollt. Ich wär' nach der Fabrik gegangen – zu der Frau des Direktors! Zu niemand anders! Wenn das meine Absicht gewesen wäre, mit Schimpf und Schande, mein Kind auf dem Arm, zu einem Manne zu laufen, den dann alle Welt für meinen Liebhaber hätte halten müssen – wenn ich schon so weit gewesen wäre, dann, glaube mir, hätte ich es wenigstens geschickter angefangen. Aber ich hab' ja gar nicht nachgedacht. Nur fort wollt' ich – nur fort, gleichviel wohin!«

»Zum Doktor! Und dieser Mensch, dem ich vor den Dienern mein Haus verboten und ihn weggejagt hab' – der, meinst du, würde jetzt kommen?«

»Wenn ich ihn bitte, ja!«

Er lachte auf. »Und mir den größten Freundschaftsdienst fürs Leben erweisen, mein Kind retten? Gerade dies Kind, das allein zwischen ihm und dir steht, das dich zurückhält, von hier fortzugehen, zu ihm. Das weiß er doch! Er weiß, daß dies Kind sein größtes Unglück ist, daß es ihm allein im Weg ist! Sonst nichts! Ist es weg, so erreicht er sein Ziel! Er hat Wulfi vielleicht schon in diesen Tagen umzubringen versucht . . .«

»Lästere nicht!« schrie sie auf.

». . . und ihn soll ich ans Krankenbett rufen? Nein, meine Liebe, nein. Ihm liefere ich Wulfi nicht aus, damit er hier ohne Kontrolle und Sachverständige mit ihm macht, was er will! Nein – retten will ich Wulfi!« Er griff nach Hut und Stock. »Über den Neckar fahre ich! Ich weiß, ihr traut mir für gewöhnlich so etwas nicht zu! Aber es gibt Fälle, da kommt plötzlich eine Kraft über einen. Da kann man, was man will!«

Er eilte hinaus. »Wo ist Wegmann?« schrie er. »Sie, Kutscher, kann ich nicht brauchen. Sie sind feige! Sie kehren ja doch wieder um! Wegmann fürchtet sich nicht. Er ist mein Freund in der Not! Er soll kutschieren! Wo ist Wegmann?«

Da stand der schwarze Jäger, aus dem Parkschatten getreten, plötzlich neben ihm. Niemand beachtete in der Aufregung seine leichengelbe Blässe und das unheimliche Glühen seiner Augen.

»Herr Graf befehlen?« fragte er heiser.

»Wegmann – kommen Sie mit über den Neckar?«

Der Waldläufer lachte, fast zum Schrecken der Umstehenden, laut auf. »Mit dem Herrn Grafen?« fragte er rasch. »Jetzt gleich?«

»Freilich! Sie verstehen sich ja auf alles! Sie werden auch ein Boot über den Neckar bringen!«

»Und ob!« Der Büchsenspanner drängte sich, als könne er es nicht erwarten, an den Wagen. »Ich schaff's allein. Ich brauch' den Fährmann net! Es braucht kein drittes mitzufahren!«

»Natürlich nicht!«

»Ich bin als Bub' oft mit den Fischersleut' gefahre! Ich kann mit Ruder und Schallbaum umgehe, daß es e Art hot! Ich bring' Sie hin, Herr Graf! Jetzt freilich – e Spazierfahrt wird's net!«

Er kletterte auf den Bock und ordnete mit zitternden Fingern, mühsam seinen keuchenden Atem bemeisternd, die Zügel. Graf Pius stieg ein.

»Noch einmal!« hörte er an seinem Ohr das heiße Flüstern seiner Frau und fühlte, wie ihre Hand sich um seine Schulter krampfte. »Dort unten ist die Hilfe! Du fährst an ihr vorbei! Blindlings in die Nacht hinein! Bedenke, was du tust! Versündige dich nicht an unserem Kind!«

Er schüttelte den Kopf. »Um Mitternacht bin ich mit dem Physikus da! Vorwärts, Wegmann!«

Der schwarze Jäger hieb, mit der Zunge schnalzend, auf die Pferde. Der Wagen flog hinaus in das helle Dämmern der ersten Nacht.

Von oben, aus dem Kinderzimmer, an dessen Fenster Wera lehnte, konnte sie ihn noch eine Strecke weit undeutlich im Scheine des zwischen den zerrissenen Regenwolken hervortretenden Mondes hinpoltern sehen. In dem halboffenen Gefährt saß, in sich zusammengesunken und fest in den Mantel gewickelt, die reglose Gestalt ihres Gatten.

Und plötzlich schoß es ihr durch den Kopf, daß zum erstenmal, seit sie ihn kannte, ihr Mann sich in eine Gefahr begab!

In eine Lebensgefahr! Mit dem Neckar war nicht zu spaßen. Das hatte sie in den fünf Jahren ihrer Waldeinsamkeit jeden Frühling aufs neue aus den Erzählungen der Landleute, den Zeitungsberichten erfahren, wenn der Eisstoß kam oder warmer Regen den Schnee des Schwarzwaldes schmolz. Ohne zwingende Not vertraute sich in solchen Zeiten keiner zur Nacht dem Neckar an. Ihr Gatte tat es wohl auch nicht. Er überließ dem tollkühnen Wegmann das Wagstück und wartete indessen. So wäre es wenigstens sonst seine Art gewesen. Aber heute schien er so verändert, so völlig selbstvergessen nur von dem Gedanken beseelt, sich seinen Sohn aus allen Bedrohungen zu retten – heute traute sie ihm doch zu, daß er hinter seinem Jäger in den schwankenden Nachen stieg und ihn hinausstieß in die Dunkelheit und das Wellenbrausen.

Und dann? Was konnte dann geschehen? Sie fuhr zusammen und erschrak vor sich selbst. Sie wagte nicht weiterzudenken . . .

Durch die Monddämmerung schaute sie wieder dem Wagen nach. Mit unverminderter Eile rollte er dem fernen Fluß zu. Und in ihm zeichnete sich undeutlich die in sich gefallene, schlafend oder träumend in eine Ecke gedrückte Gestalt ihres Mannes ab. Wieder klang verräterisch in ihrem Ohr das böse Rauschen des Neckars, und ein finsterer, kaum ausgedachter Gedanke kreiste wie ein schwarzer Vogel vom Schloßfenster hinter dem Wagen her.

Und dort – ihre Augen öffneten sich weit – dort auf der Landstraße lebte, wie durch ihren Willen ins Dasein gerufen, eine schwarze Gestalt. Die hatte sie bisher weit und breit nicht gesehen. Sie mußte mit einem Sprunge aus dem Walde her hinter dem Wagen aufgetaucht sein.

Ein langer hagerer Geselle war es, der sich einen Augenblick scheu nach beiden Seiten umsah. Dann rannte er dem Gefährt nach und schwang sich behende hinten auf.

Unbemerkt. Der Jäger hatte genug zu tun, um die warm gewordenen Pferde zu halten, und sein Herr lehnte brütend in der Ecke. Durch die rasch zunehmende Wolkendämmerung konnte Wera nur noch undeutlich seine Umrisse erkennen und in seinem Rücken, wie ein schwarzer Klumpen zwischen den Rädern kauernd, den blinden Passagier.

Wenn nun ein Unglück geschah? Sie stöhnte auf. Dann kam der Arzt nicht und alles war verloren.

Sie klingelte und ließ den Kammerdiener zu sich bescheiden.

»Schicken Sie sofort einen zuverlässigen Menschen die Landstraße hinunter zum Neckar!« befahl sie dem eintretenden hageren Schotten. »Er soll beim Fährmann nachschauen, ob mein Mann wohlbehalten an das andere Ufer gekommen ist. Man muß es ja an der Bootslaterne sehen können, wenn die auf der anderen Seite still steht.«

Der Schotte verbeugte sich. Ihm schien es das beste, wenn er selbst auf dem sonst von dem Herrn Grafen benutzten Pferde den dunklen Weg hin und her machte. So ginge es am schnellsten und sichersten!

»Ja, tun Sie das!« Sie nickte ihm zu und entließ ihn. Dann atmete sie tief auf. Sie hatte die seltsame Empfindung, daß nun keine Gefahr mehr drohe! Aber immer wieder folgten ihre Gedanken dem fernen Wagen, wie er weiter und immer weiter dem pfeilschnellen Wellenschuß des Neckars zurollte, von der Nacht umgeben, vom Sturm umpfiffen und hinten zwischen den Rädern der unbekannte schwarze Gast.



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