Rudolph Stratz
Die ewige Burg
Rudolph Stratz

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X.

Der Doktor war mit langen Schritten vom Schlosse wieder in das Tal hinabgestiegen. Die Pflicht rief. Es gab viel Arbeit, jetzt in diesen kalten, nassen Frühlingstagen und ihrem Gefolge von Krankheiten aller Art in der schlechtgenährten, in dumpfigen Räumen gegen Luft und Licht sich verschanzenden Bevölkerung, die gewohnt war, erst in zwölfter Stunde, in äußerster Not nach dem Arzt zu schicken. Häufig kam er dann zu spät. Es war kein leichter Gang, diese Wanderung durch Elend und Leiden und mehr noch durch unausrottbaren Schmutz und unbelehrbaren Stumpfsinn, die er, wie immer, auch heute unternahm. Und als er spät nachmittags zur Sprechstunde in sein Quartier, die zwei Stuben im Wirtshaus »Zum Baum im Odenwald«, zurückkehrte, fand er auch da alles voll von Patienten, mit dem üblichen Kindergegreine, dem halblauten Klappern der Frauen, dem Armenleutgeruch und dem kalten, den Röcken der Männer anhaftenden Tabaksqualm, der mit dem eigentlichen Dunstkreis des Wartezimmers, der durchdringenden Jodoformatmosphäre, rang.

Endlich war für heute der letzte Hilfesuchende abgefertigt.

Die alte Bürkin, seine Aufwartefrau, schlurfte mit Eimer und Besen herein, um den von kotigen Stiefeln beschmutzten, übel aussehenden Raum zu säubern. Er zog sich inzwischen in dem Nebengemach um. Dann stieß er alle Fenster auf, hinterließ, daß er beim Fabrikanten zu finden sei, und eilte die krachende Holztreppe des »Baums im Odenwald« hinunter.

Unten vor dem vertrockneten Kranz, der als Wirtschaftszeichen über den steinernen Stufen des Eingangs schaukelte, spannte er den Schirm auf und schaute um sich. Der Frühlingsregen strömte unablässig über die grauen Dachziegel, die moosbewachsenen Scheunen- und Stallfirste, und mit ihm senkte sich immer stärker die Dämmerung über das Dorf, dessen weitzerstreute Lichtpunkte bis in die Ferne der dunklen Waldränder aufblitzten.

Auf der gepflasterten Hauptstraße war reges Leben. In Ermangelung von Laubgewinden wurden zur morgigen Feier kleine Tannenbäume zu beiden Seiten in den Boden gerammt, die in der feuchten Öde eine Art von Weihnachtsstimmung erzeugten, Guirlanden von Moos und buntem Papier zogen sich quer über die Straßen, und an deren Ende, gegenüber dem koketten kleinen Stationsgebäude, hämmerte man sogar aus gehobelten Planken eine Tribüne für die Festgäste zurecht.

Auch das neu eingerichtete Postamt war schon im Betrieb. Der junge Beamte verhandelte verstört hinter dem Schalter hervor mit einer Schar gelbhäutiger italienischer Erdarbeiter, die, nüchtern und sparsam wie sie waren, die Gelegenheit nicht erwarten konnten, ihr zurückgelegtes Scherflein nach allen möglichen, unwahrscheinlich klingenden lombardischen Dörfern und toskanischen Weilern zu schicken. Sie schrieen und gestikulierten mit allerhand Naturlauten und wildem Gebärdespiel auf den Postvorsteher ein, der, ab und zu vor sich hinfluchend, sich die Schweißtropfen von der Stirne trocknete und seinem Schöpfer dankte, als ein unerwartetes Ereignis ihm wenigstens für einige Minuten Ruhe verschaffte.

»Der Schlicksupp!« schrie ein Haufen Kinder, die Straße herabrennend. »Der Schandarm hot den Schlicksupp! Alleweil kumme se!« Das Gejohle der Fabrikburschen klang dazwischen. Alles scharte sich um den Mann des Gesetzes, der, die Flinte umgehängt, seinen einen Gefangenen am Handgelenk mit sich führte, während dessen ebenso zerzauster und besudelter Genosse, die Fäuste in den Hosentaschen, trotzig vor ihm her trollte.

»O, mei! Wie die ausschaue! Der Kaltschmidt owwe uff'm Grenzhof hot se verprügelt und als gekrische, m'r sollt' alle ›Soze‹ norr gleich dot mache! Sell wär' 's bescht!«

»Oh, halt's Maul!« sagte der Gendarm Eidenmüller, ein hochgewachsener früherer Unteroffizier der Karlsruher Grenadiere, zu dem jungen Fabrikmädchen, das diese Neuigkeit verbreitete, »Wann ihr norr alle so wärt wie der Kaltschmidt. Als voran, ihr Bürschle, und heult mir net! Ihr habt's ja gefragt in eurem Dreckblättle, warum daß der Schandarm durchs Dorf läuft? Do is er, ihr Schote.« Er blieb stehen und warf einen strengen Blick auf die sich um ihn drängenden, Zigarren rauchenden Fabrikburschen. »Ich sag's euch, ich schaff' Ordnung! Mir macht keiner was vor. Euer Irion aach net. Der unnütz' Mann schteckt ja doch hinner euch allen.«

Er verschwand mit seinen heulenden Häftlingen im Hause des Bürgermeisters, wo sich der Gemeindekotter befand. Die Menge blieb verdutzt stehen.

»Der Irion will teile!« meinte endlich das Fabrikmädchen von vorhin. »Nächst' Johr wird geteilt, sagt der Irion, un wann der Oberamtmann noch so schännt.«

»O, du Vieh!« Eine etwas klügere Gefährtin zog sie lachend mit sich fort. »So dumm is der Irion net!« Und der kleine grauhaarige Bürgermeister, dessen an sich schon kupferbraunes Gesicht der Zorn noch gerötet hatte, schrie ihnen nach: »Morge früh könnt'r zu mir kumme! Do teil' ich redlich! Fünfundzwanzig for jedes, wo stillhält.«

Der Kassenarzt hatte sich kopfschüttelnd den Auftritt angesehen. Nun ging er weiter und trat in die Villa des Fabrikanten ein.

Man saß bereits beim dritten Gang um den hell erleuchteten, mit Blumen geschmückten und von Silber strahlenden Tisch. Der Hausherr in tadellosem, schwarzem Anzug mit weißer Weste, seine blonde Gattin in ihrer raffiniert eleganten Abendtoilette noch hübscher als heute morgen aussehend, dann der junge Kaplan und der Direktor des gräflichen Rentamts, der »Kellerei«, wie es noch altertümlich genannt wurde, mit seiner Frau – er ein behaglicher, vollbärtiger und spitzbäuchiger Vierziger, eines jener Wesen, die das Schicksal von vornherein zum Vorsitzenden eines Kegelklubs ausersehen hat, sie – eine schwäbische Pfarrerstochter – mollig, rotwangig und hausbacken wie ein fleischgewordenes bürgerliches Kochbuch.

»'Abend!« sagte der Doktor, an der Türe stehen bleibend, in seinem tiefen Baß. »Hat eines von euch Kinder zu Haus? Nein! Ihr, Direktors, seid noch nicht so weit – du, Hochwürden, kommst nicht in Betracht, und Sie, Herr Rentamtmann, haben Ihre beiden Jungen schon in Heidelberg auf dem Gymnasium? Um so besser! Dann kann ich mich ja setzen.«

»Es hat natürlich keine Gefahr . . . ich bin umgezogen und alles«, fuhr er, Platz nehmend, fort. »Aber wie die Eltern nun 'mal sind . . . ängstlich für ihre Kinder, und mit Recht . . . da wär' ich doch lieber wieder gegangen, wir haben richtig die Diphtheritis im Dorf! Heute nachmittag wieder zwei Fälle. Bisher, gottlob, nur leichte. Deswegen komm' ich auch zu spät, Direktor.«

»Entschuldige dich nicht!« sagte der Fabrikant. »Sondern löffele deine Suppe und nimm vorlieb mit dem, was ich mitten in Sibirien mit Hilfe einer freien Amerikanerin zu bieten habe, die an dem Problem, ein Ei zu sieden, hoffnungslos scheitert. Hast du eben die Schwefelbande gesehen – den Schlicksupp und Genossen? Eine nette Horde! Früher war es der Ehrgeiz eines jungen Burschen, eine Taschenuhr zu haben. Jetzt sparen sie auf ein Zweirad und dann auf einen Revolver. Morgen fliegt der Bengel! Ich liebe nun 'mal bewaffnete Proletarier nicht.«

»Die Verwilderung nimmt bös überhand!« murmelte der bisher schweigsame und in sich gekehrte Kaplan und schlug nach seiner Gewohnheit die Augen zu Boden. »Durch die Industrie! Es ist, als ob die Leute einen ganz neuen Menschen anzögen, sowie sie den Pflug beiseite stellen und in die Fabrik gehen. Wie ich klein war, da war es selbstverständlich, daß wir Bauern vor jedem Bessergekleideten auf der Straße hübsch an den Hut gegriffen haben – und jetzt? Wie die Feinde laufen die Arbeiter an einem vorbei, finster und verbissen! Und wenn sonst ein junger Bursch mit Hallo und bunten Bändern von der Rekrutenaushebung zurückgekommen ist, so trägt er jetzt am Sonntag eine blutrote Krawatte und fühlt sich als ›klassenbewußter Genosse‹ und erzählt jedem, der's hören will, daß er auch den ›Lassalle‹ in der Stube hängen hat. Es ist wirklich trostlos.«

»Das finde ich gar nicht«, meinte der Fabrikant kaltblütig und goß seinen Gästen Rheinwein in die Römer. »Trostlos ist, wenn der Mensch kein Geld hat! Früher habt ihr hier auf dem Odenwald keinen Groschen gehabt, Hungerpfoten gesogen, Sonntag abend im Wirtshaus mit Messern und Stuhlbeinen euch die Zeit vertrieben und zu guter Letzt einen Platz nach Amerika belegt, warum? Das Land war eben blutarm. Was ist aber das Blut im Leben einer Nation? Das Geld, ihr Herren, das Geld, das Geld! Das muß im Volke umlaufen wie das Blut im Leibe. Dann schlagen alle Pulse, der Körper kriegt Spannkraft und reckt sich und sieht, wo's was zu schaffen gibt. Bei uns, ihr Herren, den Fabrikgründern, den Kapitalisten! Wir bringen einen frischen Hauch in eure verdumpfte Waldwelt – wir fassen die Leute beim Besten: bei der Arbeit! Da steht mein blitzblanker neuer Palast und wartet nur auf kräftige Fäuste. ›Greif zu, mein Sohn – dein Schweiß wird Geld – ich zahl' ihn dir mit blanken Talern. Ich bin dein wahrer Freund, dein Beschützer – wenn man will, dein Herr, und nicht das rückständige Volk da oben auf dem Schlosse, das die Jahrhunderte wiederkäut und die Augen zukneift, wie die Eulen am Mittag.‹ Entschuldigen Sie, lieber Rentamtmann, aber Sie geben sich ja auch keinen Illusionen über Ihre Herrschaft hin.«

»Nee«, sagte der kleine dicke Mann. »Mit Ausnahme der Gräfin . . . die hat den Teufel im Leibe. Heut früh hat sie wieder einen Auerhahn geschossen . . . alle Achtung . . . das ist nicht leicht.«

Die Gräfin! Unwillkürlich belebten sich alle Gesichter vor Neugierde.

»Schade, daß diese Fossilien alle so unzugänglich sind,« meinte der Fabrikant. »Ich würde die Gräfin gerne kennenlernen. Schon meiner Frau wegen, daß die einen Verkehr findet. Sie fängt mir ja schon die Fliegen an der Wand und pfeift dazu den Yankeedoodle aus reiner Verzweiflung.«

Die hübsche Amerikanerin seufzte nur leicht und warf einen verstohlenen Blick auf den Doktor. Zu allgemeinem Erstaunen ergriff die Frau Rentamtmann, die sonst nur bei Kinder- und Küchenfragen aufwachte, das Wort.

»Das ist doch leicht zu machen«, meinte sie und lächelte sanftmütig und beschränkt. »Da braucht der Herr Doktor bloß ein gutes Wort einzulegen . . .«

Ihr Mann gab ihr einen ziemlich erkennbaren Wink, zu schweigen, und das ärgerte den Kassenarzt noch mehr.

»Was glauben Sie denn?« fragte er barsch. »Etwa, daß ich da oben Gäste einführe? Ich bin froh, wenn man mich selber hineinläßt.«

Darüber lachten die anderen, aber etwas befangen und ohne den Sprecher anzusehen. Man wußte ja, daß der Schloßherr den Gruß des Arztes kaum mehr zu erwidern pflegte und auch der infolgedessen bei Begegnungen nur noch lässig an den Schlapphut griff. Kein Zweifel – da war nicht alles, wie es sein sollte.

»Sie stehen doch so gut mit der Frau Gräfin!« hub die Frau Rentamtmann nach einer Pause mit ihrer weinerlichen Stimme wieder an. »Heute noch, wie Sie mit ihr von dem Irionschen Hause heruntergekommen sind – Sie haben uns nicht bemerkt, weil Sie so eifrig miteinander gesprochen und gelacht haben – da hab' ich zu meinem Mann gesagt: »Merkwürdig, wie gut die zueinander passen!«

»So – haben Sie das gesagt?« fragte der Dorfarzt, ohne eine Miene zu verziehen.

»Ja. Wenn es nur mein Mann auch irgendwie zu so einem Verkehr brächte – das hab' ich ihm eigentlich gesagt! Es gibt oft so wichtige geschäftliche Sachen, und der Graf spricht nicht ›ja‹ und spricht nicht ›nein‹, und die Zeit drängt, und klopft mein Mann dann bei der Frau Gräfin an, so ist sie nicht zu sprechen und will nichts von Geldfragen hören. Sie können von Glück sagen, Herr Doktor. Wenn man so das Ohr der Herrschaft hat . . .«

»Herrschaft? Unsinn!« sagte der Arzt. »Ich habe keine Herrschaft.«

»Gewiß! Das wissen wir ja alle, daß es Freundschaft ist. Eine große Ehre!« Die Stimme der Frau Rentamtmann klang immer wehleidiger. »So was war vielleicht noch gar nicht da. Gewiß – Doktor ist ein schöner Titel. Aber immerhin – eine Gräfin Wodenstein . . . Sie glauben gar nicht, wie man überall davon spricht! Nicht nur hier und in all den Dörfern – nein, auch wenn ich in die Stadt hinüberkomme, ist das erste, was mich da die Leute jetzt fragen . . .«

»Ob ich wirklich mit der Gräfin Wodenstein ein Verhältnis habe?« Der Doktor sprach ganz laut und brüsk über den Tisch hinüber. »Liebe Frau – sagen Sie: Nein! das sei eine blödsinnige, unverschämte Lüge. Und sagen Sie weiter, ich hätte das Gerede jetzt dick bis zum Hals, was die Weiber schnatterten, ging' mich nichts an, aber wenn ein Mann noch einmal mit der Verleumdung anfinge, dann machte er mit meiner Faust Bekanntschaft! Hier – schauen Sie sich diesen haarigen Fünfpfünder nur an! Wo der hintrifft, wächst kein Gras mehr, und ich kurier' den Betreffenden nicht und kauf' ihm kein neues Gebiß. Das sagen Sie! Und nun genug davon. – Entschuldige, Direktor, daß ich ein bißchen hitzig geworden bin. Aber ich hab' dir's ja heute morgen schon gesagt: wenn mir wieder wer die Geschichte aufs Tapet bringt, werd' ich grob.«

»Bitte!« erwiderte der Fabrikant lakonisch, und dann wurde es still, und es dachten alle an dasselbe, auch der Kaplan, der die ganze Zeit hindurch mit festgeschlossenen Lippen auf seinen Teller geblickt hatte.

Allmählich kam das Gespräch wieder in Fluß, aber stockend und befangen. Gleich nach dem Nachtisch erhob sich der Kassenarzt. »Ich muß fort, Frau Direktor,« sagte er. »Ich hab' noch ein paar dringende Krankenbesuche zu machen. Schönen Dank und auf Wiedersehen morgen!«

Er ging mit schweren Schritten hinaus, und drinnen blieb alles stumm, bis die Haustüre hinter ihm ins Schloß fiel.

* * *

Der Doktor war gegen seine Art diesen Abend an den notdürftig von blakenden Lampen erhellten Krankenbetten teilnahmlos und zerstreut. Und als er nach Beendigung seines Rundganges in dunkler Nacht dem »Baum im Odenwald« zuschritt, fühlte er den ganz ungewohnten Drang, statt der Einsamkeit des Studiertisches menschliche Gesellschaft aufzusuchen – gleichviel welche – um irgendwie seine Gedanken abzulenken und in einen Winkel zu verbannen . . .

Am Eingang des Wirtshauses überlegte er einen kurzen Augenblick und trat dann, seinen Regenschirm schließend, in das Gastzimmer ein.

Heute, am Vorabend der Feier, gab es hier frisches Bier vom Faß. Alles war dicht besetzt. Schwere Tabakwolken brüteten über dem heißen, hermetisch verschlossenen Raum bis zur Herrenstube nebenan, wo die Größen des Dorfes saßen.

Vor allem der kleine grauköpfige Bürgermeister mit dem roten, etwas brutalen Gesicht und der junge Kaltschmidt vom Grenzhof mit einigen anderen wohlhabenden Bauern. Sie tranken Rotwein – eine böse italienische, mit Zucker und Sprit versetzte Gerbsäure, die sich als Affenthaler von der Bergstraße ausgab –, qualmten ihren Pfälzer Tabak und waren in gehobener Stimmung.

Der alte Stabhalter vom Grenzhof tat nicht mit. Er hatte sich abseits gesetzt, in seinen blauen Mantel gewickelt, die Pfeife in dem gefurchten, strengen Antlitz, und nach ehrwürdigem Väterbrauch ein Quetschwasser und einen Handkäse vor sich. Neben ihm saß, etwas unbehaglich ob der Ehre, das Pilgerle in sauberem Sonntagsrock, sonst aber wie immer ungewaschen. Der kleine Bettelmann war von dem Hofbauer, der ihm ob seiner strengen Kirchlichkeit wohlwollte, in einer seltenen Anwandlung von Großmut ebenfalls zu Schnaps und Käse eingeladen worden und ließ sich das nicht zweimal sagen.

In dem offenen Nebenraum, in dem die Wirtin, eine zarte kleine Frau in halb städtischer Kleidung, mit ihren beiden halbwüchsigen Töchtern hantierte, war bunte Reihe. Ein alter Schäfer, ein paar Holzfuhrleute aus der Rheinebene, die schon die etwas verschiedene bayrisch-pfälzische Mundart sprachen, der mißmutige, fabrikfeindliche Forellenfischer mit seinen hohen Transtiefeln und messingenen Ohrringen, den ein riesiger, ungeschlacht aussehender Schwarzwälder aus der mit Recht gefürchteten Gilde der Neckarflößer begleitete, ein paar Dorfhandwerker, zwischen ihnen Wegmann, der gräfliche Jagdaufseher, der es sonst mit den Honoratioren hielt, heute aber aus Haß gegen die Männer vom Grenzhof nicht in das Herrenstüble ging, sondern sich mit dem stattlichen Gendarmen Eidenmüller verbrüdert hatte, zwei buntbetreßte Gestalten, die sich lebhaft von dem dumpfen Braun und Schwarz der anderen Kleider aus dem Grau der Tabakswolken abhoben. Dann noch der Ölmüller oben aus dem nächsten Dorf, ein finsterer jähzorniger Mensch, der schon einmal wegen Totschlags im Bruchsaler Zellengefängnis gesessen, und eine Menge Bauern und Knechte ringsherum.

Die Stimmen schwirrten laut und lärmend um das Ohr des Kassenarztes, der sich, fast unbemerkt eingetreten, hart an dem triefenden Schenktisch hingesetzt hatte.

Aber dann trat plötzlich Stille ein. Zwei neue Gäste erschienen. Arbeiter aus der Fabrik. Sie nahmen abseits an einem Tisch Platz und bestellten Bier.

»Alleweil kumme die ›Soze‹!« sagte eine rauhe Stimme halblaut, aber gutmütig, und alles lachte.

Die beiden lachten mit. »Soze oder net!« sprach der eine der Arbeitsmänner und wischte sich mit dem Handrücken den Schaum vom Bart. »Wann norr das Bier frisch is, ihr Männer!«

Die anderen nickten. Es war eine friedfertige Stimmung. Nur der schwarze Jäger glaubte es seiner Stellung und der Nachbarschaft des Gendarmen schuldig zu sein, das anzügliche Gespräch fortzusetzen. »Frau Wirtin,« sagte er und paffte aus der feinen Zigarre, die er mittags seinem Herrn entfremdet hatte, »die sollte Sie net bei sich 'reinlasse! Die hawwe hier nix verlore!«

»O mei'!« Die blasse junge Frau ließ das Bier sprudeln. »Ich schau' mir mei' Gäscht' net erst an. Ich bin froh, wann se kumme! Ich bin e armi Fraa! Ich hab' zwei Kinner! Ich will aach leewe!« Und zornig stieß sie das frischgefüllte Glas vor ihm auf den Tisch.

Der Fabrikarbeiter drüben lachte. »Schänne Se norr!« sagte er. »Sell dhut em gut! Der meint, er könnt' hier kummandiere!«

»O du Vieh!« sprach der Ölmüller gleichmütig in seinem rauhen Baß.

»Selbschst e Vieh!« erwiderte der andere ebenso gelassen, und es trat Frieden ein.

»Ich mein' als!« brach der Jäger bald wieder das Schweigen und zündete sich eine neue Zigarre an. »Ihr Soze hocket sonst unne in der Kron'! Der Kronenwirt hält's ja mit euch!«

»Jo. Do hocke mer sonscht!«

»Jetzt, warum sitzt ihr heut hier?!«

»M'r werre doch noch sitze derfe!« Sein Widersacher aus der Fabrik wurde etwas erregt. »Horcht 'mol, ihr Männer! Der will mir sage, was ich tun und lassen soll, wo ich sitze derfe soll! Steig mir den Buckel 'nuff . . . du . . . du . . . Knecht du! Jo . . . e Knecht bischt du! Wenn dir der Graf oowe pfeift, no mußt du schpringe, wie wann ich mei'm Hund, dem Mélac, pfeife tu'!«

Der schwarze Jäger fuhr mit einem wilden Aufblitzen der Augen empor. Aber der Gendarm hielt ihn am Rockärmel zurück. »Loß ihn bawwele«, sprach er tröstend und halblaut. »So e Mannemer Schlossergesell hat kei' Bildung.«

Der Jäger trank mißmutig einen großen Schluck und lehnte sich, anscheinend gelangweilt die Rauchringel seiner Zigarre verfolgend, zurück. Aber unerwartet nahm der Forellenfischer den Streit wieder auf, da er seinen Zorn wegen der schädlichen Abwässer der Fabrik auf alles, was mit ihr zusammenhing, auch auf die Arbeiter übertrug.

»Wenn ihr uns uze wollt, ihr Soze,« sagte er drohend, »do seid ihr letz! Laßt euch heimgeige . . . Mit eurem Irion!«

»Der Irion gehört durchgeprügelt!« schrie plötzlich der schwäbische Flößerknecht und starrte halbtrunken um sich.

Es war still. Man fürchtete sich vor dem Riesenkerl. Nur der junge Arbeitsmann, der auch zu viel im Kopf hatte, summte leise einen langgedehnten, zitterigen Kehrlaut – das altbekannte »Jockele-spea-ea-ea-earr!« womit man seit uralten Zeiten die Neckarflößer von Tübingen bis Mannheim in sinnlose Wut versetzt.

In der Tat fuhr der lange Schwabe sofort schweigend in die Höhe, klappte mit der in die Hosentasche versenkten Rechten stumm das Messer auf und suchte sich durch die Bank hindurch zu seinem Feind zu drängen. Die anderen hielten die Beine vor. Sechs, acht kräftige Armpaare griffen nach ihm. »Hebet en!« scholl es von allen Seiten. »Er hot 's Messer uff! Hebet en!«

Der Arbeiter war doch blaß geworden und unschlüssig nach der Tür schielend aufgestanden. Aber der Flößer hatte sich schon wieder beruhigt. »Du kannst mir sonst was, du Lausbub!« brummte er und setzte sich schwerfällig wieder neben dem Fischer nieder. Und die kleine erschrockene Wirtin am Bierfaß klagte: »Daß euch die Krott' petz'! Wann ihr schteche wollt, so geht 'naus! Drauße wege meiner! Aber hier is der Herr Schandarm, wenn ihr net Friede gebt!«

»Ja . . . wer macht denn die Unruh'!« Der junge Kaltschmidt war aus dem Nebenzimmer getreten und stand, den Pfälzer Stummel im Munde, in straffer Soldatenhaltung da. »Norr ihr, ihr Fawrikler, ihr nichtsnutzige! Aber lost emol: M'r hawwe noch e Kriegerverein hier im Dorf! Und wann ihr's morge so treibt . . . beim Fescht . . . no setzt's am Aawend blutigi Köpp'! Dafür bin ich euch gut!«

»Oh, du Mischtbauer!« knurrte der andere zwischen den Zähnen und warf das Geld hin. »Ich geh' schun! Wann der Schandarm dohockt und zuhört, wie a jedes das Maul aufmacht und uff einen schlecht schwätzt . . . do geh' ich schun!«

Der Gendarm lachte nur. Er kannte schon den derben Verkehr der Odenwälder untereinander und wußte, daß sein Eingreifen die trunkenen Köpfe nur noch mehr erhitzen würde.

Die beiden Arbeiter verließen das Zimmer. Kaltschmidt sah ihnen grimmig nach. »Dees Volk!« brummte er. »Die wolle uns umbringe! Die zünne uns noch das Dach überm Kopp an! Die schlage noch alles kurz und klei' im Dorf . . . die wolle das Unsrige hawwe . . . die wolle teile, die Schinnäser! Ihr Leit', ihr Leit', 's wird bees!«

Die anderen lachten schallend über die Befürchtungen des stämmigen jungen Bauern, der noch immer kampfbereit wie ein Stier in der Mitte der Wirtsstube stand und schließlich selbst in die allgemeine Heiterkeit mit einstimmte.

Aus dem Herrenstüble aber drang plötzlich ein feines Stimmchen.

»Gedenkt'r noch uff achtundvierzig, ihr Männer?« sagte das Pilgerle lächelnd und schwenkte den Kopf, daß die weißen Strähnen um das runzelige Gesichtchen flogen. »Mir gedenkt's noch! Do war der Himmel rot vum Feierschein! ›Ha – was is dann los!‹ kreisch' ich do! Und die annere: ›Schpring, Hainer, schpring! Mach hurtig. Die Freischärling sinn do! Do oowe uff'm Schloß verbrenne sie das Rentamt und alle Schuldbabiere! Jetzt wird der Wald unser. Die Hersch' schieße mer tot und das Holz verkaufe mer!‹«

»Pilgerle – halt's Maul!« sprach der Gendarm und tat einen tiefen Schluck.

Aber der kleine Bettler wußte, wie sehr er das Herz seines Gastgebers, des Stabhalters vom Grenzhof, mit der Erinnerung an die Zeit erfreute, wo es den Feinden im Schloß so übel gegangen war. »Kumm 'mal her, du butzigi Krott!« winkte er der halbwüchsigen Wirtstochter und flüsterte mit einem fragendscheuen Blick auf den Bauern zu: »Noch an Quetsch möcht' ich!«

Der alte Kaltschmidt blieb stumm und ernst. Er gab den Freitrunk also zu, und das Mädchen brachte in einem kleinen Weinglas den wasserhellen Schnaps.

»Jo . . . achtundverzig, Leutcher!« fuhr das Pilgerle gesprächig fort. »Piff! paff! is es do gegange in den Wäldern. Da war kei' Schonzeit! Do hawwe se gekrische: ›Es le-be die Re-pu-blik!‹ den ganzen Tag und die halwi Nacht. Da hawwe awwer die oowe im Schloß Ängst gekricht und sinn in ihrer Chais' die Schosseh 'lang gefahre . . . uff Heidelberg. Ich haww' den alte Grafe – den Großvatter vum jetzige – selbst gesehn! ›Gell, Alterle, do guckschte?‹ haww' ich ihm nachgekrische.«

Seine Zuhörer lachten. Das Pilgerle, dem der ungewohnte Alkohol zu Kopf gestiegen war, fühlte sich sehr geschmeichelt durch die allgemeine Aufmerksamkeit.

». . . Bis dann die Preuße kumme sinn!« sprach er nachdenklich. »Do hot's geschellt! Wann die Preuße kumme, hot's alleweil geschellt! Die Preuße hawwe hier nix verlore . . . aber wann's so weit is, kumme se doch! Do badd' nix, ihr Männer. Sie kumme halt und sinn do. Und oowe im Wald hawwe die Freischärling gehockt und hawwe geschosse . . . und unne hawwe die Preuße geschtande und hawwe geschosse . . . Und einer hot dagelege – e feiner Herr – e Offizier, den hot's gepackt, gerad' vum Peerd hot's ihn gerisse! Jetzt do sein die Preuße wild geworde und den Berg 'ruff und ›Hurra! Hurra!‹ hawwe se in einem fort gekrische. Und der feine Herr is uffgeschtande und mitgeloffe und war doch voll Blut! Jetzt – do sinn die Freischärling weg! Dees is lang her! . . . Ich mein' als!« schloß er und leerte wehmütig sein Glas. »Die Freischärling kumme net wieder! Das Rentamt hawwe sie aach bald wieder uffgebaut, und die Grafe sinn wiedergekumme! Dees war gerad', als wenn nix gewese wär'!«

Er brach ab. Es war einen Augenblick still. Dann wandte der junge Kaltschmidt ärgerlich den Kopf nach dem Bettler. Ihn, den Soldaten und Vorstand des Kriegervereins, ärgerte das Geschwätz zu Gunsten der Rebellen.

»Leg dich schlaafe, Pilgerle!« sagte er scharf und furchte die Stirne. »Du hoscht genug für heut!«

»Jo – die Freischärling!« fing das Pilgerle wieder an und lächelte traumverloren in sein leeres Glas. Aber jetzt wurde der andere zornig.

»Geh ham! sag' ich, du bist ja schon doddelig im Kopf! Do geht der Herr Kaplan die Trepp' nuff! wann der dich hört . . . mit deine Freischärling . . .«

Der Bettelmann stand zaghaft auf. In der Tat – da ging Paulus Eberle, von einem Krankenbesuch bei der Frau Irion kommend, rasch durch den Hausflur und zum oberen Stockwerk empor, wo er seit dem Brande des katholischen Pfarrhauses wohnte.

»Gute Nacht, ihr Leut'«, sagte das Pilgerle, demütig und steckte ein Stück Handkäs in den Rock, um ihn seinem Weiblein mitzubringen, »Vergelt's Ihne Gott, Herr Kaltschmidt.«

Der alte Stabhalter erhob sich ebenfalls, ohne ein Wort zu sagen. Mit ihm auch der Gendarm. Die Wirtin verstand den Wink. »Feieraawend, ihr Leut'!« sagte die zarte kleine Person mit großer Bestimmtheit. »Es is zwölf Uhr vorbei!«

Während die Männer, umständlich zahlend, in Gruppen dastanden, ergriff der junge Kaltschmidt noch einmal das Wort. »Weil der Simpel do, das Pilgerle, so dumm daher geschwätzt hot,« sprach er laut, wie er es in seinem Kriegerverein gewohnt war, ». . . so will ich eins sage: Nach achteverzig kummt e Johr, und dees heißt siebzig. Und dees is unser Johr! An siebzig und einundsiebzig müsse mir uns halte, ihr Männer! Sell is 's beschte Johr, wo's für uns gegewwe hot! Und wenn dann 's Pilgerle in seiner Doddlichkeit dees recht heißt, wammer 's Rentamt anbrennt und uff die Soldate schießt, so hawwe auch die Soze recht, die's gerad' so mache täte, wann sie norr könnte – wann mir net wäre, die treue, deutsche Leut'! Schloß oder Fawrik . . . dees is do g'hupft wie geschprunge! Es kummt uff eens 'raus: Wedder die Oowrigkeit! Und die Oowrigkeit gehört sich! Die is von Gott und Rechts wegen!«

»Alleweil hoscht du recht!« sagte der alte Stabhalter nachdenklich zu seinem Sohn, warf einen Blick auf den Gasttisch, als ärgerten ihn die beiden dem Pilgerle bezahlten Freischnäpse, und trat mit den anderen Männern in die Nacht hinaus.



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