Rudolph Stratz
Die ewige Burg
Rudolph Stratz

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XI.

Die Schritte der Bauern verhallten, das Haus ward still und dunkel. Nur aus dem oberen Stockwerk glänzten noch zwei hell erleuchtete Scheiben in die Nacht hinaus.

Da brannte die Studierlampe wie sonst. Mikroskopische Präparate, wissenschaftliche Werke lagen zum gewohnten Gebrauch bereit. Von außen klang einschläfernd wie immer das in diesen Frühlingstagen vertraut gewordene Rauschen des Regens, sein Glucksen und Tröpfeln in den Dachkandeln – zuweilen das Aufkläffen eines Dorfköters – dann wieder ringsum Schweigen und Schlaf.

Einsamkeit. Tiefste Einsamkeit. Und doch fand er nicht die Ruhe zur Arbeit. Vielleicht war es der Sturm draußen, dies ungebärdige, sich stoßweise erneuernde Gebrülle und Gewieher, dieser Frühlingsdonner, der rastlos auf triefenden Regenschwingen über die Berge heranrollte, unsichtbar und doch alles mit seinem warmen, feuchten Atem durchdringend – vielleicht weckte das in ihm ein gleiches Gefühl unruhig suchender Kraft, als ob man die Schultern ausrecken und die Fäuste ballen und seinem Feind zu Leibe gehen müsse.

Es lag etwas Geheimnisvolles in diesen stürmenden Stimmen der Nacht. Sie ließen das Herz hämmern und das Blut rascher kreisen. Sie kündeten da draußen in ihren langhallenden Fanfaren das große Wunder an, dem sie vorausflogen – den Frühling, das Licht, das Leben.

Das wirkliche Leben! Das neue, große, das, was man bisher nur ahnt, kaum hofft. So unglaublich, so undenkbar erscheint es einem selbst.

Wieder schob er ungeduldig das Mikroskop von sich, trat zum Fenster und schaute in das rauschende Dunkel hinaus.

Unten auf der Dorfstraße tappten leise Schritte. »Er is drinne bei'er!« flüsterte die wuterstickte Stimme eines Bauernburschen, und ein dicker Knüttel bewegte sich unheildrohend in der Luft. »Er is drin bei der Kättche. Jetzt norr gleich uff'en, wenn er 'rauswitscht! Norr gleich zugeschlage!« Die beiden Kerle bogen, sich rachgierig auf den Fußspitzen wiegend, um die Ecke. Aber es war zu spät. Eine dunkle Gestalt löste sich katzengewandt von der Mauer jenes Hauses, in dem das Kättche zu wohnen schien, schaute einen Augenblick scheu um sich und verschwand dann in lautlosen langen Sprüngen in der Nacht.

Der Arzt oben lachte in seinen Bart. Es war doch immer und überall das gleiche Spiel. Der eine will ein Weib, der andere will es auch, und die beiden streiten, und der bessere Mann gewinnt. Das war ewig so und blieb so. Der Kampf ums Dasein, der Lauf der Welt im großen und im kleinen.

Was war überhaupt groß und klein? An sich sind alle Dinge gleich. Das wußte er, der Forscher, dem sich unter dem Mikroskop in kaum faßbar winziger Gestalt das Geheimnis des Lebens und Sterbens auf der ganzen Erde enthüllte. Die Erde war an sich nicht größer als dieses Dorf hier, dieses winzige, nach außen scheinbar so einfache, in Wirklichkeit hundertfach gegliederte und verästelte, von hunderterlei Empfindungen zerklüftete Reich. Und wenn hier einer des anderen Weib begehrte, so lag das eben auch im ewigen gleichbleibenden Werdegang der Welt, in der seit Anbeginn dieselben Leidenschaften, dieselben Kämpfe und Schmerzen sich rastlos erneuern.

Draußen in dem düsteren Geriesel, das die Erde verbarg, die Sterne unter Wolkenflor verhüllte, stand ein einziger rötlicher Punkt still in dem Dunkel. Es war ein matt erhelltes Fenster des Schlosses.

Jeden Abend blinkte es bis spät in die Nacht zu Tal. Lange hatte er sich eingeredet, daß dahinter ein qualmendes Lämpchen die malerische Unordnung einer Kutscherstube beleuchtete oder ein Diener da gähnend saß und die Stiefel putzte, ehe er sich schnarchend zur Ruhe legte. Aber dann hatte er einmal im Dämmergrauen, als die Umrisse des Schlosses noch sichtbar waren, die Fensterreihe bis zu dem rötlichen Schimmer gezählt, und seitdem wußte er, daß das Licht aus den Zimmern Weras kam.

Dort saß sie jetzt am Bett ihres kranken Kindes. Oder sie las, den Kopf auf die Hand gestützt, in den Büchern, die er ihr erschlossen. Oder sie träumte und dachte an ihn . . .

»Esel!« sagte er halblaut zu sich und trat ärgerlich vom Fenster zurück. Er kam sich sehr dumm vor als nächtlicher Toggenburg. Ein Kerl wie er! Er mußte zornig lachen. Das Mondscheingeseufze mochten nervöse Menschen treiben. Ein Mann wartet ruhig und handelt, wenn es an der Zeit ist, und bleibt bis dahin im Besitz seiner fünf Sinne.

Er setzte sich an den Tisch, strich sich durch den Bart und griff nach dem Zwicker. Bald furchte sich seine Stirne. Die Gedankenarbeit da innen begann. Er versank in seine Studien.

Nebenan tönten rastlos leise Schritte. Paulus Eberle, den Kaplan, floh der Schlaf.

Immer wieder ging er auf und ab. Zuweilen blieb er stehen und starrte zu Boden. Dann setzte er seine Wanderung fort – hin und her durch die stille Nacht.

Und es war ihm, als wehte um ihn her ein feiner unbestimmter Duft – der Atem von Veilchen, wie er heute morgen über der Türschwelle des Pilgerle geschwebt, als er dort mit der Gräfin zusammengetroffen war.

Den ganzen Abend hatte man beim Fabrikanten, nachdem der Doktor sich so brüsk empfohlen, von ihr gesprochen. Der Widerhall all dieser Reden, die er schweigend und verstört, mit gesenkten Wimpern angehört, klang stürmisch in ihm nach.

Wie oft hatte er im Beichtstuhl zahnlose Weibchen und verwitterte Bäuerlein vor der Sünde gewarnt, noch strenger manche dralle Dirne, die auf den Knien liegend tief errötete, wenn von nebenan die Baßstimme des jungen geistlichen Herrn zürnend in ihr Ohr grollte, und weinend gelobte, es nie wieder tun zu wollen. Wie greulich hatte er ihr die Sünde ausgemalt, die giftige Schlange im Paradies, den Fallstrick des Teufels auf dem Wege zur Hölle, bis der Schuldigen die Tränen stromweise über die roten Backen liefen. Und nun?

Nun war die Versuchung über ihm! Nun kannte er sie erst, wie sie verlangend und lockend durch den jugendstarken Leib, das junge Herz des Bauernpriesters wütete. Die Fäuste geballt, schlich er ruhelos, mit irren Blicken auf und ab und sann und sann.

Rings um ihn im Dorfe wohnte alles in Familien. Die Familie war das Selbstverständliche. So gut wie der Bauer heiratete der Kaiser und hatte Kinder. Und von Missionsbrüdern hatte er gehört, daß auch die schwarzen, braunen und gelben Menschen mit Weib und Kind in Gemeinschaft lebten. Die Tiere selbst schlugen sich in Rudeln zusammen. Es war ein Gesetz der Natur, daß kein Wesen einsam sei auf der Welt.

Und wer es noch war, der konnte bald, wenn er nur wollte, seine Lebensgefährtin finden. Es gab nur einen Einsamen hier im Dorfe, nur einen in jedem anderen Dorfe. Das war er – das war der römische Priester seit jenem Tage, da Gregor die Diener seines Gottes vom Weibe geschieden.

Bisher wußte er das nicht anders. Er hatte wenig darüber nachgedacht. Jetzt plötzlich stieg in ihm ein ahnendes Grauen vor der Größe des Opfers auf, das er, noch ein halbes Kind, mit leichtem Herzen dargebracht. Dieses Opfer ließ sich nur an der Versuchung messen. Und die Versuchung war da.

Das Weib ist die Sünde. So steht's geschrieben. Aber wenn er an die eigene Familie dachte, die er vor vielen, vielen Jahren verlassen, wenn er hier eine glückliche Familie sah – Vater, Mutter, strahlende Kinderaugen, helles Kinderlachen – diese ganze, einfältig-reine Welt, sie stammte doch vom Weibe . . .

Und von da oben grüßte ihn wieder das Weib aus dem Bilde über seinem Schreibtisch. Jungfräulich lächelnd, in mütterlicher Schönheit sah da die Madonna auf ihn nieder. Er blieb vor ihr stehen. Seine Augen wurden feucht. Eine tiefe, trostlose Traurigkeit erfaßte ihn. Plötzlich sah er sein wirkliches Leben vor sich – die furchtbare Einsamkeit bis zum Tode. Ein Leben ohne Liebe, ohne ein Herz, das mit uns weint, ohne eine Hand, die treu und dankbar die des Sterbenden bis zur letzten Stunde hält. Und jetzt ward es ihm klar, was er eigentlich getan, als er damals, als Kind auf dem Knie des Vaters reitend, auf dessen Frage, was er werden wolle, gerufen hatte: »E geischtlicher Herr!«

Er fiel vor dem Madonnenbilde nieder und faltete krampfhaft die Hände. So blieb er liegen, den Kopf gegen das Rohrgeflecht eines Stuhles gepreßt. Ein ersticktes Schluchzen erschütterte unter dem Priestergewand seinen Leib.

Nebenan rückte ein Stuhl. »Was hast du denn nur heute nacht, Kaplan?« fragte die barsche Stimme des Arztes herüber.

Es kam keine Antwort.

»Zum Kuckuck, Hochwürden! So red' doch. Bist du krank?«

Der Geistliche stand auf und schlich langsam zur Türe. »Krank bin ich nicht, Doktor.«

»Also was fehlt dir denn, daß du heute gar keine Ruh' gibst?«

»Das . . . das kann ich dir nicht sagen . . .!«

Eine Weile schwiegen alle zwei. Die beiden bebrillten Bauernsöhne kannten sich zu genau. Von ihrer Hirtenbubenzeit bis zu dieser Nacht, wo sie allein, zwei Mönche der Wissenschaft und des Glaubens, im Dorfe wachten und beide bei Mikroskop und Brevier dieselbe Anfechtung durchstritten: das Weib war in ihrem Leben!

Draußen brauste der Sturm, daß die Scheiben leise klirrten und das Licht auf dem Tische flackerte.

»Geh' schlafen, Hochwürden!« rief der Doktor endlich gegen die geschlossene Türe.

»Ich kann nicht.«

»Warum denn nicht?«

»Ich muß an etwas denken . . . das läßt mir keine Ruhe.«

Der nebenan lachte. »Das Denken ist meine Sache – drum sitz' ich da und studiere! Du, Hochwürden, bist zum Glauben auf der Welt. Das ist viel bequemer, das kann man auch im Schlafe.«

»Ach, schwätz' nicht, Doktor. Weil du Leichen zerschneidest, weißt du noch lange nicht, wie's in einem lebendigen Menschen aussieht . . . in der Seele, mein' ich. Wer kann denn gegen die Gedanken, die über einen kommen?«

»Selber kann man! Das sollt' so ein frommer Hochwürden doch wissen. Man kann, was man will! Ich wenigstens. Schau – ich hab' auch was im Kopfe – vielleicht mehr wie du. Aber ich druck's vorderhand nieder und beschäftige mich väterlich mit meinen Bazillen. Rumlaufen und denken ist überhaupt Unsinn! Handeln muß der Mensch – oder leiden, je nachdem.«

»Da hast du freilich recht!« sagte der Priester, nebenan leise.

»Und ich bin mehr fürs Handeln!« fuhr der Arzt hinter der Türe fort. »Herzhaft zupacken im rechten Moment, ohne viel Kopfzerbrechen vorher. Du – im Vertrauen – ich wär' heillos froh, wenn's wirklich 'mal dazu käme . . . du kannst dir schon ungefähr denken, zu was! Ich spür', seit's Frühjahr wird, so eine unbändige Lust in mir, mit euch und der ganzen Welt zu raufen! Und nun schlaf' endlich, ich hab' zu tun.«

Er warf noch einen Blick durch die Fenster nach dem kleinen rötlichen Lichtschein hoch am Himmel. Dann runzelte er die Stirne und schob mit tiefem Ernst ein neues Glasplättchen unter das Mikroskop.



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