Rudolph Stratz
Die ewige Burg
Rudolph Stratz

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XVIII.

Das Lärmen, Johlen und Pfeifen, das ihm aus dem Dorfe entgegenklang, wie er von der Burghöhe niederstieg, berührte ihn nicht. Es war ja die selbstverständliche Zugabe zu einer ländlichen Feier.

Erst als er den Brunnenplatz erreicht hatte, blieb er stirnrunzelnd stehen. Die Fenster am Hause des Bürgermeisters waren sämtlich eingeworfen! Nur noch einzelne Splitter staken in den leeren Höhlungen mit ihren zerschmetterten Blumentöpfen und schief hängenden Läden. Immer noch flogen unter dumpfem Kollern die scharfkantigen, zum Schottern der Chaussee benutzten Porphyrsteine aus den Gruppen der lachenden Fabrikburschen, die ringsum, die Hüte im Genick, die Zigarre im Mund und meistens in seliger Angetrunkenheit standen.

In einer Ecke lehnte das Pilgerle und schaute verklärt zu. Seine Jugenderinnerungen von gestern abend wurden wieder wach, »'s geht uff achtunverzig!« sagte er freundlich zu dem Doktor und lüpfte mit der Linken seine Kappe von den langen Silbersträhnen, die um das faltige Gesichtchen hingen. »So hot's achtunverzig a'gefange! Do hot der Rahn, der nacher nach Amerika is, geschtanne un gekrische, m'r sollt' die Hersch' totschieße, die als in de Saate laafe däte – zu dere Zeit waren Ihne noch mehr Hersch' wie jetzt – gleich so hunnert Stück uff emol und so groß wie die Peerd' – selle Hersch' gehöre dotgeschosse, hot der Rahn als gekrische. Un der Herr Graf, der Großvatter vum jetzige, e großer, dicker Herr, is 'runnergekomme vom Schloß und hot in die Leit' 'reingeredd, was er norr gewußt hot . . . gerad' wie alleweil der Herr Direktor . . . awwer's hot nix 'badd – un der Herr Direktor schwatzt aach umsonst.«

Der Kassenarzt bemerkte erst jetzt, daß sein Freund mitten zwischen den Leuten stand und mit ihnen verhandelte. Sie hörten ihn, an den Hüten rückend, geduldig an. Aber ihre Antwort war immer dieselbe: »Jo, Herr Direktor! Awwer der Irion muß 'raus.«

»Der Irion muß nicht heraus!« schrie endlich der Fabrikant wütend, als er zum zehntenmal dieselbe störrische Erwiderung bekam. »Der Teufel hole euren Irion. Ich habe ihn nicht eingesperrt, aber wenn er da drinnen im Gemeindekotter sitzt, dürft ihr ihn nicht befreien. Das ist Aufruhr!«

Die Burschen entgegneten nichts. Aber kaum drehte er ihnen den Rücken, so setzten sie ihre Hüte fest, griffen in die Hosentaschen und begannen von neuem ihr Bombardement.

»Verflucht und zugenäht!« Der Fabrikant trat zornig zu seinem Kassenarzt, »was sagst du nun? Nett – was?«

»Wo stecken denn die Gendarmen?«

»Der Eidenmüller ist drinnen im Bürgermeisterhaus. Allein kann er doch nicht viel machen. Der andere ist vorhin erst von einem blödsinnigen Spaziergang nach dem Grenzhof zurückgekommen, wo er einen Deserteur gesucht und natürlich nicht erwischt hat, und jetzt unten im ›Ochsen‹ beschäftigt. Dort sind wieder einmal italienische und bayrische Erdarbeiter handgemein. Die einen stechen mit ihren Brotmessern, die anderen lupfen ihnen dafür eines mit dem Stuhlbein übern Schädel – jetzt fehlt nur noch, daß der Gesangverein ›Harmonie‹ und der Athletenklub ›Eintracht‹ sich in die Haare geraten – dann ist die ländliche Idylle fertig.«

»Losse Sie den Irion 'raus!« brüllte eine tiefe Stimme. Es schien, daß jetzt auch erwachsene Männer sich allmählich an dem Treiben beteiligten. »Losse Se'n 'raus!« Ein Hagel von Steinen prasselte auf den Dachschindeln.

»Da sieht man erst, was dieser Kerl für einen Einfluß hat!« Der Fabrikbesitzer drehte sich nervös eine Zigarette. »Wenn ich, ihr Brotherr, von dem sie alle leben, eingesperrt würde – da krähte kein Hahn danach. Oder es gäbe ein reines Volksfest, allgemeines Gaudium. Aber dieser Proletarier – unter uns gesagt: es war eine Eselei, ihn festzunehmen. Na, zu machen ist nichts. Ich gehe jetzt nach Hause. Komm mit und rauche eine Zigarre bei mir.«

»Lieber nicht!« Der Arzt wandte sich seiner Wohnung zu. »Ich wäre heute ein schlechter Gesellschafter.«

»Dann also nicht! Dann werde ich mit meiner Frau vierhändig Klavier spielen, um diesen wüsten Lärm zu übertönen. Ach, lieber Doktor, es gibt viele Phrasen in der Welt. Und eine der dümmsten – das merke ich jetzt – ist die von dem Segen der Kultur. Siehst du: meine Fabrik, dieser viereckige Kasten da hinten auf der Wiese, ist entschieden ein Stück Kultur. Und was bringt sie einem? Ich empfinde den Besitz wie eine drückende Last, wie eine Kugel am Bein, die mich am Davonlaufen hindert; meine Arbeiter kommen sich in den vier Wänden als Sklaven, als Märtyrer vor; die Frau Irion ist dabei verunglückt, die Polizei verhaftet im Schweiße ihres Angesichts ihren Mann, die Menge randaliert, du flickst mit Todesverachtung die Löcher in den Schädeln – ja, ist denn dieser allgemeine Haß, diese allgemeine Verbitterung Fortschritt? Ist das Zivilisation?«

Ein heftiges Poltern und vielstimmiges Geschrei unterbrach ihn. Der Mut der Burschen war gewachsen. Sie hatten die Deichsel eines Leiterwagens ausgehoben und rannten damit unter großem Hallo wider die Türe des Bürgermeisteramts. Ein stämmiger Mensch mit einer alten Artilleriemütze auf dem Kopfe leitete sachgemäß unter dem schallend, wie ein Kommando immer wiederholten Ruf: »Zu – gleich! Zu – gleich!« den Ansturm, bis das Holz splitterte und dröhnend aus den Angeln nach vorn über die Treppe fiel.

Der Weg war frei, aber es trat niemand hinein. Im Eingang stand der Gendarm Eidenmüller und nestelte, an seinem Schnurrbart kauend, den Revolver aus dem Lederfutteral.

»Horcht emol, ihr Lausbuwwe da unne!« sprach er dabei. »Daß 'er's wißt: Ich schieß'! Ganz heilig schieß' ich. Wann ihr Uffruhr treibt, muß ich mei' Pflicht tun. Also, daß mir keines do 'reingeloffe kummt – sonst gibt's e Unglück, ihr Leitcher.«

Die Gruppen unten traten unwillkürlich zurück und blieben stumm stehen. Ihnen gegenüber der Gendarm in der Türe. Es wurde ganz still. Aber dann flog plötzlich von irgendwoher ein Stein gegen den Mann der Ordnung. Zwei, drei andere Schotterstücke folgten, und brüllendes Gelächter begleitete die zornige Bewegung, mit der jener sich nach dem Übeltäter umsah. Und wieder ein Stein und wieder einer. Es war klar: wenn der Gendarm sich nicht entschloß, blindlings in die Menge hineinzuschießen, konnte er seinen Posten nicht behaupten.

Da plötzlich kam ihm Hilfe. Ein Haufen Männer tauchte aus der Seitengasse auf, wo der Dorfbäcker wohnte. Aus dessen Holzvorräten hatte sich ein jeder mit einem wuchtigen, weißgeschälten Eichenprügel bewaffnet. So marschierten sie heran, nicht in geschlossener Kolonne, aber doch in ziemlichem Gleichschritt und militärischer Haltung, ein robuster junger Bauer weit voraus.

»Sie däte käme!« schrie eine Stimme. »Seller is der Kaltschmidt!«

»Der Kaltschmidt vom Grenzhof?«

»Jo. Und die vum Kriegerverein.«

Eine starke Bewegung entstand unter den Gruppen, auf die der Hofbauer kampflustig zuschritt. »Jetzt geht 'er awwer nach Haus!« schrie er, seinen Knüttel schwingend, »oder wir zeige euch den Weg. Dees gibt's net, hier mit Schteiner nach'm Bürgermeischter und Schandarme schmeiße! Dees leide m'r net.«

»Ha – was geht denn das Ihne an?« gellte eine Stimme aus der Menge.

»Dees geht uns an, weil dees unsere Gemeind' is. Und ihr Fawrikler seid e hergeloffene Bagasch'. Laaft doch retour, von wo ihr kumme seid. Wir hawwe euch net gerufe – wir Landwirt' – wir brauche kei' Fawrik. Wir hawwe unser Hof un Äcker un Vieh und Gescherr. Dees is unsere Gemeind'! Verschtanne?«

»Hainer – mach' dein Messer uff!« riet die helle Stimme eines kleinen Fabrikburschen. Auf diese Herausforderung hatten die anderen nur gewartet. Ohne weiteres Kommando kreisten plötzlich die weißen Knüttel über den Köpfen der Kolonne und senkten sich mit dem weitausholenden, beim Dreschen üblichen Schwunge hernieder in die aufschreienden und eilig auseinanderstiebenden Gruppen. In wenigen Augenblicken war der Platz leer. Nur aus der Ferne tönten laute Schimpfworte und gelle Pfiffe, die Hunde heulten, und aus den Fenstern schauten neugierige Gesichter auf die Straße.

Der junge Hofbauer sah stolz um sich und trocknete sich mit einem großen roten Taschentuch den Schweiß von dem Gesicht. »So mächt m'r's, ihr Männer!« sagte er. »Norr net lang bitte. Dees sin ungebildeti Leit'; mit dene muß m'r deutsch redde. No verschtehe sie's!«

»Do hott eins geblutt!« Sein Nebenmann wies auf die roten Flecken im Schlamm des Bodens, in dem festgetrampelt ein alter Filzhut und eine abgerissene Krawatte staken, und machte ein unsicheres Gesicht. »Geblutt wie e Schwein!«

»Do auch . . . do auch!« schrieen mehrere Stimmen.

»Loss't sie!« lachte der Kaltschmidt. »Dees is gesund im Frühjahr. Und wann's e paar Täg Haft koscht, die mach' ich gern ab. Dafor wisse die Fawrikler jetzt, wie sie dran sind, und daß wir uns net uze losse. Alleh, ihr Männer! Jetzt gehe wir do ins Wirtshaus und schtifte Ruh, im Fall daß die Bürschle es nochemol browiere.«

Das Gepolter, Türenschlagen, Gelächter und Geschrei der unten eintretenden Bauern drang empor zu dem Zimmer des Arztes, dann ein Soldatenlied aus heiseren Kehlen, mit einem sonderbar verstümmelten Kehrreim »von Hohenzollerns hochgetürmtem Gipfel – wo unberührt die Eintracht steht«.

Und nicht lange dauerte es, als sich bei ihm einige Opfer der Schlägerei mit blutverklebten Schädeln zum Verbinden einfanden. Erst ein alter freundlicher Bauer, der die Sache von der heiteren Seite nahm, und, während ihm der Doktor Heftpflasterstreifen über die unbedeutende Schramme klebte, vom Jahr Siebzig erzählte. Damals habe er mitgefochten bei Nuits – er sprach es nach Landesbrauch Nuitz aus – an jenem Tage, wo die vielen, arg vielen Badenser gefallen seien. Da sei es bös hergegangen über die Franzosen. Aber freilich – damals seien die »Sozen« noch nicht erfunden gewesen. Die Esel würden ja nicht auf die Franzosen schießen, sondern warten, bis der Mélac wiederkäme und das Heidelberger Schloß noch einmal in die Luft sprengte. Mit den Sozen, das sei ein Unglück – die gehörten weggeschafft – ins Afrika. Dort könnten sie teilen!

Die beiden Fabrikburschen, die sich über den Hof heraufgeschlichen hatten, widersprachen nicht, sondern standen stumm und ängstlich da. Sie fürchteten sich vor dem Arzt und bissen krampfhaft, um nicht in Ohnmacht zu fallen, die Zähne zusammen, während er ihnen einen zerbrochenen Finger schiente und eine Hautwunde im Hinterkopf mit Nadeln zusammenheftete.

Dann aber entstand ein wüster Lärm. Einige stämmige Kerle brachten den langen schwäbischen Flößerknecht herbei, der von einem Italiener einen Messerstich in die Schläfe bekommen hatte. Der eine drückte ihm mit der Hand die Temporalisader zu. Sobald seine Finger sich lockerten, spritzte das Blut zwei, drei Schritte weit und stieß der völlig betrunkene Patient einen greulichen Fluch aus, daß er heute abend noch sämtliche Italiener totschlagen werde.

Es kostete geraume Zeit, bis der ungebärdige, im ganzen Zimmer umhertorkelnde und alles ihm Begegnende beiseite stoßende Schwabe auf einen Stuhl niedergezwängt, an Kopf, Händen und Beinen festgehalten und wie ein Opfertier dem Arzt überliefert worden war. Nun, da der Doktor, ungeachtet der von jenem versuchten Fußtritte, die Arterie glücklich mit der Pinzette gefaßt hatte und unterband, begann der Schwarzwälder plötzlich, unter der Einwirkung des Blutverlustes und des Rausches, bitterlich zu weinen und jammerte wie ein kleines Kind bei jeder neuen Naht: man solle ihm nicht weh tun.

Endlich war der lange Flößer geflickt. Der gespenstig wie ein weißer Turban um seinen Haarschopf gewickelte Mullverband gab ihm ein feierliches Ansehen, und er selbst geriet in Rührung. Unsicher dastehend, mit einem besinnungslosen Lächeln auf dem gelbgewordenen Gesicht, versuchte er eine häufig durch Schlucksen unterbrochene Dankrede an den Herrn Doktor, bis ihn der endlich an den Schultern umdrehte und samt seinen Begleitern hinausschob.

Andere Patienten waren nicht mehr vorhanden. Die in den Dorfwirren leichter Blessierten bemerkten gewöhnlich erst am nächsten Morgen, wenn sie ihren Rausch ausgeschlafen hatten, die Glassplitter im Schädel, und suchten dann im Laufe des Tages oder der Woche, wenn es nicht von selber gut werden wollte, den Doktor auf.

Auch unten in den Wirtschaftszimmern wurde es ziemlich still. Der Kriegerverein zog singend in einem gemeinsamen Trupp weiter. Die rauhen Stimmen und schweren Schritte verhallten draußen, und allmählich breitete sich etwas Ruhe über die erregte Sonntagnachmittagsstimmung des Dorfes.

»Zu dumm!« sagte der Doktor wieder vor sich hin und entlockte, an seinem Schreibtisch sitzend, der Pfälzer Zigarre mächtige Rauchwirbel. Was eigentlich vorhin im Schlosse vorgegangen, wußte er nicht. Es ließ sich kaum erraten. Aber jedenfalls etwas Unvernünftiges. Und in dieser Unvernunft trieb man dem kleinen Patienten da oben töricht den Helfer in der Not von der Schwelle.

Vielleicht brauchte das Kind dringend einen Retter. Wenn das im Anzug war, was er hier im Dorfe an den Betten der Kleinen bekämpfte! Der böse Feind, dessen schlimmste Tücke erst seit wenigen Jahren durch das heilkräftige hellgelbe Elixier im holzverschlossenen Glasfläschchen, das stets bereit in seinem Wandschrank stand, – durch das Serum gebrochen war.

Es klopfte leise an seiner Türe.

»Herein!« rief er barsch und sah, sich im Stuhle umwendend, ein feines, blasses Mädchengesicht, von einem dunklen Umschlagtuch umrahmt, in das Zimmer schauen.

»Sie sind's, Fräulein Elis'!« Er stand rasch auf. Sein erster Gedanke war, daß seine Befürchtung sich erfüllt hatte und man ihn nun doch in letzter Not um Beistand anging. »Also geht's schlimmer oben?«

»Nicht viel, Herr Doktor. 's is eigentlich alleweil gleichgeblieben.«

»Habt ihr wenigstens nach dem Physikus geschickt?«

»Ja. Aber er is noch nicht dagewese.«

Sie schwieg verängstigt. Einen Augenblick empfand er Lust, sie nach ihrer Herrin zu fragen, aber er wollte keinen Dienstboten zum Vertrauten machen. »Also – was ist's, Fräulein Elise?« forschte er. »Haben Sie Zahnweh, oder soll ich Ihne 's Herz kurieren?«

»Ach – mir fehlt nix, Herr Doktor«, sagte das hübsche Kinderfräulein gezwungen lächelnd. »Und nun gar am Herz! Ich bin doch mit'm Wegmann verlobt. – Da hab' ich einen Brief von der Frau Gräfin an Sie. Ich soll auf Antwort warten.«

»So – dann geben Sie her.« Er bezwang seine Erregung. »Und setzen Sie sich einstweilen, Fräulein Elis'.«

Sie nahm auf einem Stuhl hart an der Türe Platz und sah, mit ihrem nassen Schirm spielend, ihm schweigend zu, wie er langsam, die Stirne furchend, auf und nieder ging und las:

»Lieber Freund! Ich kann nicht fort, sie lassen mich nicht. Sie lassen mir mein Kind nicht. Ich hab' es versucht und wollte mit ihm fort – umsonst. Und seitdem passen sie zu gut auf, und es ist ja auch krank. Es muß bleiben, wo es ist, und ich bei ihm – jetzt wenigstens. Sie sagen freilich, man hätte nur eine Pflicht – die gegen sich selbst. Aber es ist nicht so! Jetzt, in diesen schweren Stunden, empfinde ich eine ganz andere Pflicht: ich bin Mutter, vor allem Mutter. Das war nicht einmal ein Kampf, das war mir gleich ganz selbstverständlich, so schwer es ist – eben die Prüfung, von der Sie heute sagten, daß jeder sie einmal im Leben bestehen muß. Ich hab' die Prüfung hinter mir, so unglücklich ich mich fühle, und weiß jetzt ganz genau: Mein Platz ist nicht da draußen, wo ich sein möchte, sondern da, wo ich sein muß – bei meinem Kinde. Zu erklären gibt es da nichts – es ist eben so! Vielleicht wird alles noch besser, wir müssen hoffen und harren. Freilich, ich glaube nicht mehr recht ans Glück! Gute Nacht für heute, lieber Freund.« –

Er legte finster das Blatt mit den feinen, flüchtig hingeworfenen Schriftzügen auf den Tisch. »Ein rechter Weiberbrief! ›Hoffen und harren – vielleicht wird alles noch besser!‹ Nur Geduld und ewig Geduld. Als ob davon schon jemals etwas auf der Welt sich geändert hätte! Bei Männern sicher nicht. Die Frauen freilich, die fügen sich und verstehen das Warten, und lehren es am Ende auch noch den Männern, wenn die danach sind und für solch unbestimmtes Hoffen und Fürchten sich und ihr Leben hingeben . . .«

Er war ja nahe daran. Seine Arbeit, das Heiligtum seiner Tage, verblaßte ihm immer mehr und wurde ihm gleichgültig und inhaltsleer gegenüber dem Unsichtbaren, Überstarken, das zwischen seiner Studierlampe und jenem matt leuchtenden roten Fenster hoch oben in der Dunkelheit lebte und webte. Gut! Solch einen Sturm mußte durchmachen und sich zum Siege führen, wer nicht arm leben und nicht arm sterben wollte. Aber rasch, mit starkem Wollen und rücksichtsloser Tat! Im Anfang war die Tat und nicht das Warten, das vielleicht Jahre hindurch seine Spannkraft lähmte, bis endlich gar doch alles im Sand verlief und nichts brachte als die Reue, vom eigentlichen Lebenswege um eines Weibes willen abgewichen zu sein.

Er fühlte sich betäubt, unfrei, von einem dumpfen Grimm befangen, daß seine Macht über sie gegenüber ihrer Mutterliebe versagt hatte. Es war ihm, als habe er eine demütigende Niederlage erlitten. So ging er zornig und stumm auf und nieder, ohne sich um Elise, die still in ihrer Ecke saß, zu kümmern.

Da klopfte es an der Türe. Der Gendarm Eidenmüller erschien, den Helm auf dem Kopfe, mit umgehängtem Gewehr.

»Gu'n Aawend!« sagte er. »Bin ich hier recht beim Herrn Doktor?«

»Ja. Haben Sie auch was abgekriegt? Steinwurf oder was?«

»Ahba, Herr Doktor! 's is norr: wir wolle jetzt den Irion fortschaffe uffs Amtsgericht.«

»Und was hab' ich damit zu tun?«

»Herr Doktor! Der Irion möchte Ihne, bevor daß er fortgeht, noch emol spreche. Ich möcht's dem Mann net abschlage. Ich mein', 's is wege seiner Fraa. Hawwe Sie vielleicht e Vertelstündche Zeit?«

»Gewiß!« Der Arzt nahm Hut und Stock und folgte dem Gendarm hinüber in das Haus des Bürgermeisters. Es war kein angenehmer Gang. Überall trat der Fuß auf Schottersteine und Glasscherben. Und auch im Innern des Hauses sah es unwirtlich aus. Die Holzsplitter der aus den Angeln gerammten Türe bedeckten den Flur und von allen Seiten strich der Wind durch die eingeworfenen Fenster.

In der Schreibstube, einem kahlen Raum mit Aktenregalen, Münz- und Gewichtstabellen und hektographierten Erlassen an den Wänden und einem großen Tisch in der Mitte, saß Benedikt Irion. Sein intelligentes, kränkliches Gesicht hatte den gewohnten verbissenen Ausdruck. Als der Arzt eintrat, erhob er sich und blieb neben dem Tische stehen.

»Sein Sie net bös, Herr Doktor!« sagte er stockend und überzeugte sich mit einem Blick nach der Türe, daß der Gendarm draußen geblieben war. »Ich hab' Ihne doher bitte müsse, weil ich net zu Ihne kann. Un jetzt soll ich 'nunner uffs Gericht. Und do liegt's mir halt so hart an, daß mei Fraa krank is . . .«

»Es ist ja keine Gefahr, Herr Irion! Ich werde jeden Tag nach ihr schauen, Sie können unbesorgt sein. Wann Sie wiederkommen, ist Ihre Frau wieder ganz gesund.«

»Jo – wann kumm' ich wieder?« Irion zuckte gleichgültig die Achseln. »Wammer 'mol in Unnersuchungshaft is, do derf einem die Zeit net lang werre. Do hockt m'r und verdient nix, un die Fraa is krank und kann aach nix verdiene. O mei, o mei, 's is a beese Welt!«

Der Arzt schüttelte den Kopf. »Sagen Sie mal, Herr Irion,« fragte er, »Sie haben, scheint's, Ihre Frau recht lieb?«

»Jo, Herr Doktor – dees haww' ich!«

»Und könnten doch eigentlich ganz zufrieden sein.«

»Jo, Herr Doktor! Was ich brauch', dees haww' ich.«

»Nun – und es tut Ihnen doch auch niemand etwas zuleid. Ihr Arbeitgeber will Ihnen wohl, bei Ihren Arbeitskollegen sind Sie 'ne Respektsperson, oben auf dem Schlosse sorgt man sich für Sie – ich tue, was ich kann . . .«

»Jo, Herr Doktor!«

»Nun also, Mann! Fühlen Sie denn keine Reue, daß Sie sich jetzt so mutwillig hinter Schloß und Riegel bringen, womöglich um Lohn und Brot, und sich von Ihrer kranken Frau trennen müssen? Weswegen denn nur?«

»Weswege?« wiederholte der Maschinenschlosser und hustete. Ein fanatisches Lächeln überflog sein schwindsüchtiges Gesicht. »Ha – weil sie die Babiere gefunne hawwe! Unne im Bett vun dem Trottel, den der Pilgerle in Pfleg' hot.«

»Das weiß ich schon allein! Aus welchem Grunde aber müssen Sie denn so unnütze Papiere besitzen und verbreiten?«

»Jo, Herr Doktor!« Der Monteur sah ihn an. »Wann Sie frage: ›Is der Irion do zufrieden?‹ so sag' ich: ›Jo, und's geht 'em gut!‹ Wann Sie awwer frage: ›Is der Arweiter do zufriede?‹ so sag' ich: ›Awoll, er is net zufriede un's geht 'm net gut.‹«

»Warum wollen Sie denn aber alle Arbeiter vertreten?«

»Herr Doktor . . . dees hot der Mensch in sich, oder er hot's net in sich. Ich haww's in mir. Sell is mei' Werk im Leewe. Doderfor bin ich do uff der Welt. Sell muß sein!«

»Aber wenn nun Ihre Frau . . .«

»Do hot's ka Fraa und ka Kinner! Do hot's nix anneres, als daß eins sei' Werk im Leewe hot. Do kann ich net rechts gucke und net links gucke – ich muß druff zu. Un dabei bleiw' ich, un wann sie mich zehnmal einschperre! Ich haww' schon mehr im Gefängnis gesesse – deretwege!«

Er hatte mit halblauter Stimme, ohne jede Erregung gesprochen. Nur das fanatische Lächeln wich nicht von seinen hageren Zügen.

Der Arzt wandte sich zur Türe. »Na – denn gute Nacht, Herr Irion!« sagte er und ging heimwärts. –

»Ach was Fraa und Kinner! Man muß sei' Werk im Leewe hawwe!« Die Worte des Monteurs klangen in ihm nach. Diese ganze Welt weißglühenden Hasses gegen alles Bestehende und gläubiger Hoffnung auf das Glück einer dereinstigen allgemeinen Gleichheit war ihm, dem Vertrauensmann der kranken Proletarier, wohl bekannt. Er verstand das, ohne es zu billigen oder zu verdammen, wie in seinen Augen überhaupt nichts böse und nichts gut war, sondern die natürliche Folge einer natürlichen Ursache, und in diesem Falle eines der Symptome der sozialen Entwicklung gleich dem ratlosen schläferigen Grimm der Schloßgesessenen da oben, dem Galgenhumor des nach Sibirien verbannten Fabrikanten, dem trotzigen Hohn der reichen Hofbauern über die Fabrikler, dem ganzen Widerstreit alter und neuer Menschen und Dinge, den der erste Pfiff der Lokomotive in diesem einsamen Waldtal entfesselt hatte.

Aber der Irion selbst – der interessierte ihn heute! Der Kerl war wahrlich stärker als er! Der ging ruhig seinem Lebensziel nach, und mochte es auch ganz verkehrt und unerreichbar sein, und schaute sich nicht erst nach Weib und Kindern um. Der ließ sich nicht beirren wie ein anderer, viel gelehrterer Mann, der über dem Mikroskop und den wissenschaftlichen Büchern nur an das eine rote Fenster da oben in der Nacht denken mußte und alle Ruhe und Sammlung verlor . . .

Nein, was der arme Fanatiker da unten vermochte, das vermochte er auch: das unbeirrte Festhalten am selbstgewählten Lebenswerk. Mochte ihm dabei folgen, wer wollte! Und wer es nicht konnte, der blieb eben hinter ihm zurück. Er hatte keine Zeit, still zu stehen und lange zu warten, ob Gut, Ehr', Kind, Weib, wie es Martin Luther, der größte aus seinem deutschen Bauernblut, genannt, ob die auch alle hinter ihm herkeuchten. Waren sie da, so freute er sich ihrer. Blieben sie aus, so ging er eben allein seinem Ziel entgegen.

Mit schweren, festen Schritten trat er in sein Zimmer. Eine weibliche Gestalt stand da zögernd vom Stuhl auf. Er erschrak. »Herrgott, Fräulein Elis' – ich hab' Sie wahrhaftig ganz vergessen. Seien Sie nicht bös!«

»O nein, Herr Doktor! Ich möcht' nur gern zum Schloß zurück. Es ist schon spät und . . .«

»Ja – fürchten Sie sich heute nicht, allein zu gehen, wo alles voll von betrunkenen Burschen ist?«

Sie wies mit dem Kopfe nach dem Fenster. »Der Wegmann begleitet mich. Drunten steht er und wartet. Wenn der bei mir is, nimmt sich keiner was 'raus. Vor dem haben sie alle Angst.«

»Na – dann ist's gut. Also adieu, Fräulein Elis'!«

Sie zögerte. »Ich soll doch der Frau Gräfin Antwort auf den Brief bringen!«

»Antwort?« Er nahm an dem Schreibtisch Platz und schob sich seine Präparate herbei. »Da ist eigentlich nicht viel Antwort. Einen schönen Gruß und gute Besserung für den jungen Herrn!«

»Und sonst nichts, Herr Doktor?«

»Sonst erzählen Sie der Frau Gräfin, was Sie hier sehen: Ich hätt' mich ruhig an den Tisch gesetzt und wieder zu studieren angefangen.«

»Jawohl. Adje, Herr Doktor!«

»Adieu, Fräulein Elis'!«



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