Rudolph Stratz
Die ewige Burg
Rudolph Stratz

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IV.

Benedikt Irion, der Maschinenschlosser, stand, des Arztes harrend, vor der Türe eines am äußersten Ende des Dorfes gelegenen Bauernhäuschens, dessen mit einem kleinen Gemüsevorgarten, mit Monatsrosen und Nelkenstöcken am Fenster geschmückter Umgebung der Dunghaufen, das Kennzeichen des ländlichen Besitzes, fehlte, und blickte suchend die Straße entlang. Er war ein schmächtiger, schwindsüchtig aussehender Mann in den Dreißigern, auf dem auffallend intelligenten Gesicht jenen Zug von Verbissenheit und Resignation zugleich, der dem modernen Fabrikarbeiter eigentümlich ist.

Den Weg herauf kam ein Knarren und Keuchen.

Ein junger, stämmiger Bursche mit völlig blöden Zügen und erloschenen Augen, einen Zigarrenstummel im Mund, eine alte Militärmütze schief auf dem Kopf, zog einen leeren Handwagen hinter sich her. Hinten hatten zwei zwergartige, weißhaarige Leutchen die welken Hände an das Gefährt gestemmt und taten so, als schöben sie mit. Beide, das winzige Männchen mit dem verschrumpften Antlitz unter der fast haarlosen Pelzmütze, wie das zahnlose Weiblein mit den spitzen Kinderzügen, waren bettelärmlich gekleidet, aber sie schauten ganz freundlich in die Welt, während sie den Karren vor ihrem Häuschen, dem einzigen Hab und Gut, das sie auf Erden besaßen, hinstellten. Auch der ihnen von der Gemeinde in Pflege gegebene Dorftrottel, der den Wagen zog, grinste vergnügt und trollte sich, ein Stück erbetteltes Brot aus der Tasche ziehend, in den Ziegenstall rechts am Eingang, wo er aus allerhand Lumpen und Hadern sich ein Nest zurechtgemacht hatte.

»Gu'n Tag, Pilgerle!« sagte der Monteur.

»Gu'n Tag, Herr Irion!« Der Alte lüpfte die Mütze vor seinem Mieter. »Heut macht's bös' runner! Dees regnet was z'samme! Der Neckar steigt!«

»Bischt doch mit'm Karre drüwwe in der Schtadt gewese?«

»Ei – jeden Tag, Herr Irion! Sell is mei' Brot. Ich bring' die Sache vum Dorf hin und bring' die Sache vun der Schtadt her. Sell weiß ich gar net mehr anners! O mei – das treibe mei' Fraa und ich schon vierzig Johr' und mehr . . .«

»E hart's Brot, Pilgerle! Alleweil im Sommer und Winter auf der Straß' . . .«

»Besser e hart's Brot als gar keins! Wann's Hochwasser gibt und ich net nüwwer kann, dees is bös! Und üwermorge hawwe m'r wieder Hochwasser bei dem viele Rege!«

»Meinscht, Pilgerle?«

»Jo – sie hawwe ja schon von Heilbronn delegraphiert und gewarnt . . . Jo . . . jo . . .« Der Alte schüttelte trübe sein weißes Köpfchen. »Jo . . . beim Herrn Doktor bin ich gewese, Herr Irion, und er kummt bald her, nach Ihrer Fraa schaun, läßt er Ihne sage! Jetzt gleich könnt 'r net. Die ganze Schtub hockt em noch voller Leit' . . . 's hott so arg. viel Krankheite im Dorf. Alle Kinner sin krank.«

Der andere hörte ihn nicht mehr. »Jetzt wer kummt denn do?« murmelte er. »Ich mein' doch als, m'r sollt' erscht kumme, wann m'r gerufe werd.«

Das Pilgerle blinzelte durch den Regen. »Herr Irion«, warnte er. »Seien Sie klug. Mit'm Herrn Direktor heißt's sich schtelle! Und mit'm Herrn Kaplan erscht recht!«

»Sell weiß ich selwer!« brummte der Arbeiter verbissen. »Sell brauchst du mir net erscht zu sage, wer heutzutag' die Gewalt hat! Geh norr! Von dir wolle die Herre nix! Die kumme wege meiner Fraa . . .«

Es war ein ungleiches Paar, das in Sturm und Regenschauern die kotige Landstraße hinaufstieg. Rechts der Fabrikbesitzer, straff, energisch, mit aufgedrehtem blondem Schnurrbart, festem Schritt und der Gewohnheit des Befehlens auf dem mit Schmissen übersäten jugendlichen Gesicht; links neben ihm, wie sie der Zufall auf ihrem Weg zusammengeführt, der Kaplan – ein gesunder, roter Bauernkopf, stiernackig auf starken Schultern, in dessen glatten jugendlichen Zügen sich noch deutlich der Übergang von der ererbten zähen Bedächtigkeit des Ackermanns zu der starren Würde der alleinseligmachenden Kirche vollzog.

Kapital und Kirche! Der Maschinenschlosser war durch das Lesen seiner Parteischriften an diese abstrakten Begriffe gewöhnt. Was hatten Kapital und Kirche im Hause eines »Genossen« zu suchen? Aber mit einer gewissen Genugtuung erfüllte ihn der Besuch doch. So zog er denn die Mütze ab und trat den beiden auf die Landstraße entgegen.

»'Morgen, Irion!« sagte der Fabrikant rasch. »Bedecken Sie sich doch. Wie geht's denn Ihrer Frau?«

»Dank' Ihne, Herr Direktor! Besser!«

»Das freut mich.« Der Fabrikant trat mit den anderen in die Irionsche Wohnung. In dem vorderen Raum, der ärmlich, aber sauber gehalten war, mit blank gescheuerten tannenen Möbeln und sandbestreuten Dielen, hantierte geräuschlos eine Krankenschwester. Benedikt Irion pflegte sonst jeden Morgen spöttisch zu lächeln, wenn er auf seinem Weg zur Fabrik an den in halber Lebensgröße geschnitzten, schreiend bunt bemalten Figuren der Jungfrau und des heiligen Joseph am Eingang des katholischen Schulhauses vorbeikam und innen den Gesang der Ordensfrauen und den hellen Chor der Kinder vernahm. Aber nun, in seinen Sorgen um die kranke Frau, war ihm die kleine rotbäckige Bäuerin in dem weiten graublauen Gewand und der weißen Flügelhaube eine willkommene und feierliche Erscheinung.

Beim Eintreten der Männer verschwand die Schwester in dem Nebenzimmer, in dem die Kranke ruhte. Die beiden Herren setzten sich auf die von Irion herbeigeschobenen und abgewischten Stühle und schauten einen Augenblick schweigend an den kahlen Wänden herum, deren einzigen Schmuck ein großes Porträt Lassalles und eine Photographie des Mannheimer Diskutierklubs »Rote Rotte« bildeten. Es war eine kurze, etwas peinliche Pause zwischen dem norddeutschen Fabrikbesitzer, dem Pfälzer Priester und dem sozialdemokratischen Arbeitsmann, allein der Direktor fand rasch und lebhaft, wie sein ganzes Wesen war, bald einen Übergang.

»Also besser geht's?« sagte er. »Das freut mich, Irion! Schon weil Sie's sind – mein bester Arbeiter, trotz all Ihrer Marotten. Aber auch sonst ist mir die Geschichte höchst unangenehm. Kaum ist die Fabrik in Betrieb, so passiert alles mögliche! Ich hab' wahrhaftig keine Schuld!«

»Sell sagt ja auch keines, Herr Direktor!«

Der Fabrikant machte ein zweifelndes Gesicht. Er verstand trotz aller Mühe immer noch kaum die Hälfte von dem Odenwälder Deutsch seiner Untergebenen, »Wie gesagt – keine Schuld!« wiederholte er. »Nun – wir müssen uns eben alle erst in die Fabrikordnung einleben, und hoffentlich nehmen sich die anderen daran ein Beispiel.«

»Hoffen wir zu Gott!« ergänzte der Kaplan, zu Boden schauend, mit seiner tiefen, immer noch bäuerisch gefärbten Stimme. »Hoffen wir auch auf eine Wendung zum Besseren. Auch für Sie, Herr Irion!«

In dem fanatischen Gesicht des schmächtigen Arbeitsmannes, der vor ihm stand, veränderte sich kein Zug. »Was meinen Sie denn damit, Herr Kaplan?« fragte er.

Jetzt sah ihm Paulus Eberle von unten her ernst ins Auge. »Die Gottlosigkeit mein ich! Diese Bilder an den Wänden! Lieber Irion – Sie sind ein katholischer Christ . . .«

»Ah bah!« Der Monteur hustete. »Ich bin in Berlin aus der Landeskirch' ausgetrete!«

Der Kaplan wiegte bekümmert das Haupt. »Auch das!« Er suchte wieder mit den Augen den Sand auf den Dielen. »Sie tun mir wahrlich leid, Herr Irion!«

Der Arbeitsmann erwiderte nichts, sondern zuckte nur stumm die Schultern. Der Fabrikant aber stieß ärgerlich seinen Regenschirm auf den Boden. »Ich begreife euch Leute nicht!« sagte er. »Da macht ihr euch und uns das Leben schwer, und was habt ihr schließlich davon? Sie, Irion, könnten es hier haben wie unser Herrgott in Frankreich! – Nein – da spintisieren Sie über den blödsinnigen Zukunftsstaat, schicken Ihre paar sauer ersparten Groschen womöglich an die Berliner Parteikasse und haben nichts wie Ärger und Verdruß. Jetzt wieder mit dem Kriegerverein! Ja, Irion . . . ich kann es nicht ändern! Mann . . . müssen Sie denn aber auch durchaus auf Ihrer Mütze jeden Tag ein rotes Federchen tragen? Muß es denn durchaus gerade ein rotes Halstuch sein?«

»Ja«

»Na – dann mußten Sie eben 'raus aus dem Kriegerverein!« Der Fabrikant stand ärgerlich auf. »Es ist wirklich zu dumm! Ein Kind muß es einsehen, daß wir ein starkes Heer brauchen, damit der Feind nicht über die Grenzen bricht und gerade euch Unbemittelten das letzte wegnimmt! Nein! Wenn es nach euch ginge, wäre das Reich in vier Wochen wehrlos, damit gleich die lieben Franzosen wiederkommen und hausen, wie vor zwei Jahrhunderten, wo von fünfzig Menschen in der Pfalz nur noch einer übrig war und kein ganzes Haus mehr auf Tage weit im Umkreis stand. Ihr ruft ja jetzt noch eure Hunde ›Mélac‹ nach dem Heidelberger Mordbrenner. Wenn's erst so weit ist, dann möcht' ich eure gescheiten Gesichter sehen. Aber dann ist's zu spät. Na . . . nichts für ungut heute! Ich will Sie heute nicht aufregen. Gott sei Dank, daß Ihre Frau außer Gefahr ist! Grüßen Sie sie von mir und gute Besserung! Ja – ehe ich's vergesse – ich habe dem Kassierer Ordre gegeben. Wenn Sie Geld brauchen, wenden Sie sich nur an ihn. Kein Vorschuß – ein kleines Schmerzensgeld. Danken Sie mir nicht, Kind Gottes, sondern werden Sie vernünftig! Das ist mir viel lieber!«

Der Fabrikant wollte sich eben zum Gehen wenden, als die Türe von außen mit einem kräftigen Ruck aufflog. Der Doktor stand auf der Schwelle, den Schlapphut vom Regen triefend, den rotblonden Vollbart vom Wind zerzaust, einen Lodenmantel über den breiten Schultern, mit kotbespritzten hohen Stiefeln und einem Knotenstock in der Faust. »Was ist denn das für ein Lärm hier?« fragte er statt jedes Willkommens. »Ein ganzes Zimmer voll Menschen, wo nebenan die Kranke liegt? Ich muß mir doch die Volksversammlung 'mal aus der Nähe ansehen!«

Er nahm den naß perlenden Zwicker ab. »Ah – ihr seid's!« sagte er etwas milderen Tones, »was wollt ihr denn hier bei dem Sozialdemokraten? Kinder . . . streitet euch doch nicht ewig. Jeder Mensch auf der Welt hat recht! Es kommt nur auf den Standpunkt an. 'Morgen, Irion!« Er schüttelte dem Maschinenschlosser ohne Umstände die Hand und bot sie dann dem Kaplan. »Gib dir keine Mühe, Hochwürden! Hier hilft's nichts, den Irion kenn' ich – bei dem ist Hopfen und Malz verloren!«

Der junge Priester zuckte die Schultern. Er und der Doktor stammten aus demselben Dorf drüben im hessischen Odenwald. Dort hatten sie als barfüßige Bauernbuben zusammen die Gänse gehütet und Äpfel gestohlen und sich hinter den Zäunen herumgebalgt, um sich jetzt als zwei bebrillte, auf Seminar und Hochschule klassisch gebildete Männer, als Kassenarzt der Fabrik und Kaplan des Dorfes, wiederzufinden.

»Dich, Direktor, setze ich ohne Umschweife vor die Türe!« sagte inzwischen der Doktor unbekümmert zu dem Dritten. »Dafür bin ich dein Universitätsfreund! Da brauch' ich nicht erst höflich zu sein! Höflichkeit ist überhaupt nicht gesund! 's legt sich einem auf die Brust! Also geh! Deine Frau und deine Fabrik schreien nach dir! Die muß man beide nicht allein lassen!«

»Altes Rauhbein!« Der Fabrikant setzte halb lachend seinen Hut auf. »Ich war schon auf dem Wege, willst du nachher bei mir frühstücken? – ich möchte dich etwas fragen.«

»Ja – aber gehörig! Euer Milchkaffee ist für die Saugkinder gut. Deine Frau soll für ein ordentliches Stück Fleisch und Brot sorgen. Ist die Schwester drinnen bei der Patientin, Irion? Gut! Bleiben Sie nur hier! Da drinnen kann ich Sie nicht brauchen!«

Er ging mit vorsichtigen Schritten durch das Zimmer, öffnete leise, ohne anzuklopfen, die Türe und schloß sie behutsam. Man hörte von innen das gedämpfte, weich und freundlich klingende Gemurmel, mit dem er sich über die Kranke beugte, ihre schwache Stimme und dann wieder seinen tröstenden Baß.

»Kommen Sie mit, Herr Kaplan?« fragte der Fabrikant.

Paulus Eberle zögerte und schüttelte den Kopf. »Es sind zwei alte Leute hier im Hause«, sagte er. »Im oberen Stock – da ich schon da bin, möchte ich sie gern besuchen!«

»Also auf Wiedersehen! Adieu, Irion!« Der Direktor trat auf die Straße hinaus und der junge Geistliche tastete sich die schmale, ausgetretene Hühnertreppe empor zu der Wohnung des Pilgerle. Er fühlte sich geärgert, beinahe gedemütigt durch den Zusammenstoß mit Benedikt Irion. Er empfand, wie schon so oft seit Gründung der Fabrik: Hier war die Grenze seiner Macht! Hier standen Weltanschauung gegen Weltanschauung, Fanatismus gegen Fanatismus, und eine leise Entmutigung kam über ihn, während er oben an der niederen Kammertüre klopfte.

Es war mehr als Freude – es war angstvolle, zitternde Aufgeregtheit, die sich bei seinem Eintritt des Pilgerle und seines Weibleins bemächtigte. Die beiden alten Leute oben waren eben dabei, ihren Zichorienkaffee zu schlürfen, der mit etwas Brot fast ihre einzige Nahrung ausmachte, als das Unerwartete geschah, als der geistliche Herr in höchst eigener Person in das Giebelstübchen trat. Das war ein Dienern und Hin- und Hertrippeln und Stuhlabwischen und Zurechtstellen, bis der junge Gast in der Priesterkutte endlich dasaß und sich wohlwollend in dem kleinen, unsauberen Zimmer umsah. Hier schaute es anders aus als unten. Die Wände voll von grellgemalten, mit Nägeln befestigten Heiligenbildchen, ein Kruzifix über der Türe, ein geweihter Rosenkranz über dem Bett, das Gebetbuch auf dem Tisch – hier fühlte sich der Kaplan zu Hause. Hier war er unter seinen Leuten. Hier öffneten sich ihm die Herzen und empfingen von ihm Trost und Glauben. Eine Rührung kam über ihn, als er sich nach einer Viertelstunde teilnehmenden Geplauders verabschiedete, den zitterigen, dankbaren Druck der arbeitsharten Greisenhände empfand und die feuchten Augen in den runzeligen, von weißen Haaren umrahmten Kindergesichtern sah. Dies hier waren die Ärmsten unter den Armen. Ihr ganzes Leben war ein langer Frontag, ihr Ende Siechtum in der widerwilligen Armenpflege der Gemeinde. Und doch waren sie zufrieden, waren sie heiter und bescheiden, denn sie konnten noch glauben, sie, die Mühsamen und Beladenen, hofften nicht auf das zwanzigste Jahrhundert wie der schwindsüchtige Fanatiker unter ihnen, sondern auf den Himmel.

Das war die Macht der Kirche! Ein stolzes, Lächeln lief über die harten Bauernzüge des jungen Mannes, während er, sich nach Frauenart den langen schwarzen Rock schürzend, die krachende Hühnersteige hinabstieg, und in seinem Herzen wurde alles weit von der Inbrunst für Rom.



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