Rudolph Stratz
Die ewige Burg
Rudolph Stratz

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XVII.

Bazaine, der Knecht auf dem Grenzhof, hatte richtig gerechnet, als er am Tage der Einweihungsfeier keinen Menschen in den Wäldern vermutete. Das Krachen der Axthiebe und der schwere, rauschende Fall der Fichten, von dem den ganzen Winter hindurch die Bergtäler widergehallt, waren ebenso verstummt wie das Johlen der holzsuchenden Kinder, das schwere Knarren der die gefällten Stämme tragenden Radachsen, der Peitschenknall und das heisere Gebrüll der Fuhrknechte. Kein Reisigfeuer kräuselte seinen bläulichen Rauch zur Mittagsstunde über dem kahlen Geäst, kein Waldhüterhund schlug an, wenn er auf steilem Holzpfad ein heimlich von unberufener Hand gesammeltes Reisigbündel zu Tale schleifen hörte – heute standen die Forsten weithin im Belieben des unheimlichen Gesellen, der mit langen, schlenkernden Schritten an der Schneise zwischen Fichtenhochwald und Eichengebüsch hinstrich.

Seine Augen wanderten unruhig nach rechts und links und hefteten sich dann wieder suchend auf den Boden. Einmal bückte er sich, hantierte rasch in Gras und Strauchwerk, und ein kleiner bräunlicher Pelz glitt unter seinen Fingern in die weiten Taschen des nach Soldatenart geschnittenen Mantels, den er trug. Da blieb der Hase, im günstigen Fall auch die dumme Auerhenne und der Fasan, bis er sie spät abends in einem Nachbardorf, mit vor das Gesicht gehaltenem Hut und geflüstertem Wortwechsel, irgendeiner Honoratiorenköchin für ein paar Groschen verkaufte. Oder ein zur Stadt fahrender Bauer nahm den Raub auf eigene Gefahr mit und schlug ihn drinnen los; nicht an die Wildbrethändler, bei denen solche Ware zur Schonzeit sofort aufgefallen wäre, sondern unter der Hand an gute Bekannte, die nicht erst unnütz nach der Herkunft des Bratens fragten.

Bazaine hatte eben den Hasen unter seinem Mantel geborgen und stand nun nach seiner Gewohnheit eine Weile völlig still, nur mit den Augen den Halbkreis vor sich musternd und mit den Ohren nach einem fremdartigen Geräusch suchend, das etwa zwischen dem Brausen des Windes und des Waldes unheimlich als das Knattern eines trockenen Astes, als die leisen Katzensprünge eines sich heranpirschenden Jagdhüters aufklingen mochte.

Aber alles blieb ruhig. Er prüfte noch einmal die Richtung des Windes, um sicher zu sein, daß der ihm ins Gesicht wehte und weither schon den Pfeifenqualm, das Räuspern und Raunen von Männern entgegentragen mußte – dann stieg er gemächlich wie bisher, die Fäuste in den Taschen vergrabend, einen steilen Steg abwärts, der in wenigen Minuten zu dem Grenzhof führte.

Zwei hohe, mit Tannendickicht bewachsene Hänge säumten den glitscherigen Pfad ein. Und in dem Hang zur Rechten regte sich plötzlich hart neben seinem Kopfe ein glänzendes Etwas wie eine gestreckte stählerne Schlange und zielte mit einer gähnend-schwarzen Mündung genau auf seine Stirne. Und jetzt sah er auch dahinter zwei braungebeizte Hände und ein finsteres Burschengesicht mit dunklem Schnurrbart und dunklem Kraushaar.

»Alterle!« sagte der schwarze Jäger Wegmann leise und böse und rutschte, auf dem Bauche liegend, bis an den Rand des Hanges. »Alterle! Rühr dich net, oder 's is aus! Da schau: ich hab' den Finger am Kugelhahn. Wann du schpringst, so schieß' ich.«

»O . . . non monsieur! . . . Nix schießen! . . . Mord!« Bazaine war angesichts der Gefahr kaltblütig stehengeblieben, nur die Hände zog er sachte aus den Taschen.

Der Jäger lachte und schob sich, immer das Gewehr auf den Wilderer richtend, zollweise an dem lehmigen Abhang herab in den Hohlweg, bis er da aufrecht stand. »Wer sieht uns denn?« lachte er. »Der Herr Graf is noch da unne. Und du machst kei' Zeuge mehr wedder mich, wann ich emol geschosse hab'! Dees schwör' ich dir! Da schprech' ich: ›Ihr Herre‹, schprech' ich in Mann'em vorm Gericht – ›der Schote vom Grenzhof hat mei' Gewehr packe wolle und mich umbringe. Und wie m'r so gerunge hawwe, is es losgange und die Kugel in sei' Kopf!‹ Ha – jetzt, wer weiß es denn anners? Do werre die Herre die Achsel zucke und sag: ›Geh haam. M'r kann dir nix beweise!‹ No geh' ich haam und du hoscht dei' Teil für dei' Schlingelege.«

Der Wilderer stand finster und unschlüssig da. Er hatte auf dem Grenzhof nur wenig Deutsch gelernt, aber doch genug, um die Drohungen des Jägers zu verstehen, und wußte: spaßen ließ der nicht mit sich und war der beste Schütze weit und breit. Die Kugel, die der dem Entfliehenden auf wenige Schritte Entfernung nachsandte, die mußte treffen.

»Alleh!« sagte der schwarze Wegmann gebieterisch. »Als zwei Schritt vor mir – den Weg da 'nunner und dann links zum Dorf. Die werre Aage mache!«

Der andere erwiderte nichts, sondern begann finster bergab zu schlendern. Hinter sich hörte er die vorsichtigen Schritte seines Wächters, der, um das geladene und gespannte Gewehr nicht durch ein Straucheln zu gefährden, auf den Fußspitzen von einem Stein zum anderen stieg, und in seinem Kopf jagten sich die Pläne, wie er ihm am besten entrinnen könne.

Vorher wollte er noch einen anderen Versuch wagen.

»Wolle . . . Sie . . . Geld?« fragte er plötzlich anscheinend gleichgültig und ohne den Kopf zu wenden, vor sich hin. »J'ai de l'argent sur moi! . . . ick geben . . . swanzigk Mark.«

»Halt's Maul!« tönte es hinten zornig.

Bazaine biß sich auf die Lippen und schwieg. In feindseliger Stille schritten die beiden Männer hintereinander her.

Am Wiesengrund unten, wo ein undurchdringliches, ineinander verfilztes Lärchenstangenholz die gräflichen Forsten von dem in nächster Nähe liegenden Grenzhof schied, stand, blaß und teilnahmlos, wie er den ganzen Tag gewesen war, der Jagdherr und harrte seines Büchsenspanners.

»Ich haww'en, Herr Graf!« schrie der selig schon von weitem. »Ich haww'en! Sehen der Herr Graf jetzt, wie ich recht gehabt haww'! Da owwe haww' ich mich verschteckelt. Gerad' in die Büchs' is er mir 'neigeloffe – dumm wie e Kalb. So macht m'r's, ihr Leit'! Jetzt will ich'en norr gleich ins Dorf schaffe – zum Schandarme, daß die Sach' in ihre Ordnung kummt.«

Graf Pius trat etwas zurück, als der hagere Strolch, ihn trotzig anstierend, herangebummelt kam. »Hat der Mensch auch keine Waffen bei sich?« fragte er.

Der schwarze Jäger lachte. »Deer, wenn'r e Flint' bei sich gehabt hätt', Herr Graf – da hätt' er sich net gutwillig gewwe! Awwer er weiß recht gut: ich halt' uff'n, wenn er norr e Schritt vum Weg tut. Un der Schandarm aach.«

»Ein Glück, daß ein Gendarm in der Nähe ist!« Der Graf zuckte bei der kaltblütigen Todesdrohung seines Untergebenen unwillkürlich zusammen. »Da unten am Grenzhof steigt er schon seit einer Viertelstunde herum. Es scheint, daß kein Mensch in dem Gehöft ist.«

Wegmann warf einen raschen Blick hinunter. In der Tat – da unten blinkte es von metallenem Helmbeschlag und blanken Waffen. »O mei!« sprach er verdutzt, immer mit einem Seitenblick seinen Gefangenen bewachend. »E Schandarm uff'm Grenzhof! Dees gönn' ich dem Kaltschmidt! So was is ihm recht.«

»Es ist, als ob er jemanden suchte«, sagte sein Herr.

Jetzt ging dem schwarzen Jäger ein Licht auf. »Den do sucht er!« schrie er frohlockend. »Den Franzose do, wo uff emol Deutsch kann. Den hawwe der Herr Graf doch ag'zeigt beim Bezirksamt. Do hot's den Schandarm geschickt und will sehe, was es für'n Verhältnis hot mit dem Mann. Gelt, Alterle – do guckschte!« wandte er sich lachend an den Bazaine. »Alleweil bischt ins Eise getrete. Do helft dir nix!«

Der Knecht hatte gespannt den Bewaffneten unten beobachtet. Ein leises, sprungbereites Zittern lief bei den Worten des Büchsenspanners über seinen hageren Leib. Auf dem wüsten Gesicht erschien ein Ausdruck verzweifelter Verbissenheit, und plötzlich warf er sich lautlos mit einem Riesensatz seitwärts mitten in das Lärchendickicht.

In einer Sekunde flog die Flinte des Jägers an die Backe. Ein Feuerstrahl schoß krachend aus ihrem Laufe, den einen Augenblick vorher die Hand des Grafen von hinten umpackte und nach oben riß. Die Kugel saß knackend im Holz der nächsten Fichte. Ein paar abgeschossene, grün gefiederte Äste rauschten langsam herab.

Der Wilderer stieß beim Knall des Fehlschusses, der ihn beim Treffen um und um geworfen hätte, einen heiser klingenden Triumphschrei aus, und wie ein Tier auf allen vieren laufend, brach er sich durch das Lärchenholz, in dem kein Mensch aufrecht stehen konnte, seine Bahn, ein unförmlicher, ungestümer Klumpen, wie wenn ein gescheuchtes Wildschwein in das unzugänglichste Stangengewirr trollt.

»Awwer . . . Herr Graf.« Mehr vermochte der verstörte Jäger nicht hervorzubringen. Die Waffe, aus der es noch immer blau herausdünstete, sinken lassend, starrte er fassungslos seinen Herrn an.

Der bebte noch unter der Aufregung seines plötzlichen Entschlusses. »Einen Menschen töten!« stieß er hervor. »Um eines Hasen willen einen Menschen töten! Nein, Wegmann . . . nein . . . nein . . . das geht nicht . . . das darf nicht sein!«

»Un do läuft er hin . . . Himmeldunnerwetter ja!« schrie der Büchsenspanner, allen Respekt vergessend. »Un der Herr Graf sind schuld. Aber ich krieg' en noch. Ich seh', wie sich die Bäum' owwer'em bewege, wo er durchbricht. Ich spring' am Rand lang. Ich fass'en gerad' noch, wann er drüwwe 'rauskummt.«

Mit einem wilden Griff hatte er sein Gewehr aufgeklappt und schob, schon in den Wald eilend, eine neue Kugelpatrone in den Lauf. »Wegmann!« klang es hinter ihm. Er tat, als hörte er es nicht. Aber da tönte es wieder: »Wegmann!« so laut, daß er zauderte, »Wegmann! Zurück! Sie bringen sich um Lohn und Brot.«

Er blieb stehen und schluckte einen Fluch hinunter, dann wandte er sich finster wieder zu seinem Herrn zurück.

»Ich will keinen Mord, Wegmann!« wiederholte jener, atemlos und abgerissen sprechend. »Hören Sie . . . ich will keinen Mord . . . ich kann das nicht sehen . . . und es gehört sich nicht . . . einen Menschen um eines Hasen willen . . . einen Menschen, der doch sonst nichts getan hat.«

Der Büchsenspanner lachte wild auf und warf mit einer wütenden Bewegung die gesicherte Flinte über die Schulter. »Nichts getan – meint der Herr Graf! Warum läuft er dann do, wie er den Schandarme sieht, wo ihm doch mei' Kugel so gewiß war wie's Amen in der Kerch' – wenn der Herr Graf net dawedder geschlage hätte. Do kann kein's treffe, wammer 'em wedder die Flint' schlägt! Awwer, daß aaner so läuft und sich denkt: ›Liewer e Kugel als e Schandarm!‹ – dees hot doch sei' Grund, Herr Graf.«

»Das mag sein!« erwiderte Graf Pius etwas betroffen und trocknete sich den Schweiß von der Stirne. »Da kommt ja der Gendarm, er hat den Knall gehört.«

»Wer hot denn do geschosse?« schrie er von unten und der blitzende Helm tauchte am Rande des Abhangs empor.

»Ich!« Der Jäger lachte wieder störrisch auf und starrte zum Himmel.

»Auf was denn?«

»Uff die Fichte do! Der Herr Graf hawwe's so gewollt.«

»Das heißt – ich hab' ein Unglück verhindert.« Sein Gebieter warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. »Gegen einen armen Teufel, den wir beim Wildern ertappten – einen Knecht vom Grenzhof.«

»Den Bazaine?«

»Ja. Was haben Sie denn? Warum stampfen Sie denn so mit dem Fuß?«

»Do hawwe mer's!« Der Gendarm unterdrückte einen wütenden Fluch. »Jetzt is er weg, über alle Berge! E Verbrecher, Herr Graf! E Deserteur aus Mainz. E dutzendmal schon bestraft und im Herbscht beim Transport vors Kriegsgericht wege Totschlag entsprunge.«

»Jetzt guck emol, der Bazaine!« sagte der Jäger höhnisch.

»Bazaine hot sich der Kerl hier aach norr genannt, weil er aus Lothringe her, wo er zu Haus is, den Name kennt. Zu dumm! Jetzt hätte mer'n.«

»Aber tot!« rief der Schloßherr zornig. »Da würde er jetzt liegen, mausetot!«

Die beiden anderen Männer warfen sich einen stummen Blick zu. Es schien, daß sie beide das Leben eines Landstreichers und Deserteurs nicht überschätzten.

»Wir kriege ihn doch!« tröstete sich der Gendarm. »Ja, wenn's Sommer wär'! Aber jetzt, bei dem Rege und der Kält' – wie soll sich dann do der Mann im Freie halte? Der muß in die Dörfer, und wann sie'n dort sehe, so heißt's: ›Hebt'en, hebt'en! sell is er.‹ Jo – dem is sei' Zell' in Bruchsal sicher.«

»Nach Bruchsal käm' er schun net« – der Jäger rüstete sich finster auf einen Wink seines Herrn zum Gehen – »sondern vors Kriegsgericht. Un fangt'en erscht – no habt er'en! Der macht jetzt, was er kann, daß er üwwer'n Neckar kummt un ins Bauland 'rein, oder er laaft nachts den Neckar 'runner nach Mann'em und üwwern Rhein in die Haardt und – hoschte net gesehe – hockt'r in Frankreich und lacht sich was. Bis ihr der hessischen Bullizei geschriwwe habt und dem bayrische Landjäger un dem preußische Schandarm – un alle Herre uff'm Bürro darüwwer gebawwelt hawwe – in dere Zeit bin ich in Baris. Ich kumm' schon, Herr Graf, ich kumm' schon!«

Sie sprachen nichts auf dem Heimweg. Der Büchsenspanner kaute mißmutig an einem Grashalm, und sein Herr ging, ohne rechts und links zu sehen, finsteren Gesichts in seine Gedanken versunken dahin. Ein paarmal verfehlte er trotz der Zurufe des anderen den Weg, blieb dann zerstreut aufblickend stehen und verdoppelte seine Schritte, um bald wieder unschlüssig zu erlahmen.

Der schwarze Jäger wußte nicht, was er daraus machen sollte. Dies Gebaren seines sonst so harmlos lächelnden Herrn war ihm fremd. Er schob es schließlich auf die Erregung von vorhin. Wieder kam der Groll über ihn. Dies unnütze im Wald Spazierenlaufen und sich von Wilderern und Gendarmen Auslachenlassen! Zu was brauchte dann der Herr einen Weidmann wie ihn? Wie der Graf es trieb, konnte er sich ebenso gut von der alten Botenfrau begleiten und von der etwas vorerzählen lassen! Dann war er in der rechten Gesellschaft. Und unwillkürlich lächelte der trotzige Bursche finster bei dem Gedanken, wie anders er als Jagdherr in diesen Gründen schalten und walten wollte.

Am Waldsaum machte er plötzlich Halt und schaute nach dem Schlosse hinüber, die feurigen Augen mit der Hand überwölbend, als traue er ihnen nicht.

»Was haben Sie denn schon wieder, Wegmann?« Graf Pius gähnte nervös.

»Ach, nix, Herr Graf! Ich hab' halt bloß gedenkt, der junge Herr wär' net recht gesund. Die Elis' hot's mir gesagt.«

»Nun ja – und?«

»Ha – ich mein' norr, weil se'n doch da durch den Garten trage! Aus'm Haus bringe se'n getrage, Herr Graf, wann die Luft norr net zu rauh is für den jungen Herrn . . . un der Rege dazu.«

»Mein Sohn?« Der andere blinzelte in die Ferne, ohne daß seine kurzsichtigen Augen etwas unterscheiden konnten. »Mein Sohn? . . . Ich glaube, Sie sind verrückt geworden, Wegmann!«

»Herr Graf! . . . Ich werr' doch den jungen Herrn kenne. Die lange gelbe Haar', die hott doch keens von den Dorfkinnern. Do träge se'n.«

»Ja, wer denn? . . . Wegmann . . . was schwatzen Sie da? Wer denn?«

Der Jäger schirmte sein Auge mit der flachen Hand und stockte etwas. »Die gnädige Frau Gräfin!« verkündete er dann. »Ich kenn' die Frau Gräfin am Gang. Sie hott doch so was an sich . . . so etwas Leichtes, wann sie geht. Jo, sie is es!«

»Meine Frau?« Graf Pius blieb verstört stehen.

»Sie macht hurtig, Herr Graf. Ich mein', Herr Graf: weil der Herr Doktor noch net owwe war und die Frau Gräfin hott Ängscht' um das Kind, so is sie in die Hitz' kumme und will's'm selwer bringe.«

»Wegmann!« Die schlaffe Rechte des Schloßherrn umspannte den Arm seines Dieners. »Wegmann . . . wenn Sie mir da Unsinn vorreden . . .«

»Herr Graf, 's is, wie ich Ihne sag'! uff Ehr' un Gewisse! Sehe Sie, do bleibt die gnädigi Fraa schtehe. Alleweil guckt sie sich um und fängt an zu schpringe! Uffs Dorf zu . . . als wenn aaner hinner ihr wär'. Ich hab' die Frau Gräfin noch nie schpringe sehe außer uff der Jagd. Dees kann norr sein, daß der junge Herr kränker geworre is, und sie hot Ängscht und denkt sich: ›Jetzt norr zum Doktor, so rasch wie möglich.‹«

Er fühlte sich krampfhaft am Arm gepackt. »Wegmann«, keuchte die heisere Stimme seines Herrn dicht an seinem Ohr, »Wegmann . . . können wir den Weg nicht abschneiden? Geht kein Pfad hinunter?«

»Kei' Pfad net, Herr Graf! M'r müßt' gerad' durch das Buschwerk.«

»Vorwärts!«

Der Jäger sah ihn ganz verblüfft an. »Do könne der Herr Graf net durch! Sell kann ich kaum.«

»Vorwärts!« Ein rauher Stoß gegen die Brust machte ihn taumeln. »Hinunter! Brechen Sie Bahn, ich komm' nach.«

Wegmann war wie betäubt, aber die Gewohnheit des blinden Gehorsams eines herrschaftlichen Dieners überwog sein ratloses Erstaunen. Gefügig wie ein wohlgeschulter Jagdhund sprang er in einem langen Satz hinab in das Gesträuch, das krachend über ihm zusammenschlug, und suchte, mit einer Hand das Buschwerk zur Seite schiebend, mit der anderen die Augen vor den zurückschnellenden nassen Zweigen schützend, für die tastenden Füße den jähen Weg zur Tiefe. Es ging besser, als er gedacht. Der Boden unter den Sträuchern war fest und gab durch sein verschlungenes Wurzelwerk Halt. So brach er sich, strauchelnd, springend und rutschend, durch die Schwere des eigenen Körpers Bahn. Immer höher wuchs die große Eiche unten am Weg, die er sich als Zielpunkt gewählt, vor dem lichter werdenden Dickicht des Abhangs empor. Daß ihm sein Herr auf dieser Rutschpartie folgen könne, hätte er nie geglaubt. Aber zu seinem Erstaunen fühlte er auf dem ganzen Wege hinter sich den heißen Atem und hörte er die Sprünge des anderen, dessen sonst so schlaffen Körper eine unbegreifliche Erregung zu beflügeln schien, und als er, unten angelangt, mit einem gewaltigen Hirschsprung über die Böschung auf die Straße setzte, flog dicht neben ihm ein zweiter dunkler Schatten durch die Luft und taumelte gegen ihn an.

Er hielt den Strauchelnden fest. »Do is die Frau Gräfin!« murmelte er verstört und wies nach vorn.

Es bedurfte seiner Worte nicht. Graf Pius hatte, noch völlig atemlos und schwindlig, die schlanke Gestalt bemerkt, die, das Kind auf dem Arm, kaum zehn Schritte vor ihnen erstarrt vor Schrecken mitten auf dem Wege stand.

Er ging langsam, nach Luft ringend, auf sie zu. Sie blieb wie gelähmt. Der Anblick ihres Mannes entsetzte sie. Es war etwas Tierisch-Wildes in seinem Blick, wie der funkelnde Trotz in den Augen der Ahnenbilder oben – ein Wahnsinn des Jähzorns. Sie fühlte: in dieser Sekunde war er imstande, ohne eine Wimper zu zucken, zu morden!

Sie war ganz willenlos, betäubt durch seine plötzliche Verwandlung. Sie begriff nicht, wie es geschehen konnte – aber da hob er den Kleinen von ihrem Arm, ohne daß sie sich rührte, und gab ihn an Wegmann.

»Tragen Sie den jungen Herrn aufs Schloß zurück!« gebot er mit heiserer, von heftigem Keuchen unterbrochener Stimme. »Er soll gleich wieder ins Bett gebracht werden. Während ich weg bin, mordet man mir hier mein Kind. Aber ich lasse es mir nicht morden und nicht stehlen.«

Der schwarze Jäger stand ganz ratlos. Er fing langsam an, zu begreifen.

In den Augen seines Gebieters leuchtete es wieder unheimlich auf.

»Vorwärts!« knirschte er. »Gehen Sie mit dem Kinde hinauf. Schauen Sie sich nicht um, sprechen Sie kein Wort, antworten Sie auf keine Frage. Tun Sie allein, was ich Ihnen befehle! Ich bin Ihr Herr – sonst niemand. Vorwärts!«

Der Büchsenspanner erwiderte nichts. Er griff stumm an den Hut und stieg, die leichte Last auf dem linken Arm, den Weg hinauf.

Die beiden Gatten blieben stehen und starrten sich an.

»Und du . . .« keuchte er, »du gehe, wohin du willst. Gehe nur zu ihm! Aber Wulfi siehst du nicht wieder – nie mehr in deinem Leben!«

Sie blickte zu der Höhe hinauf, wo eben noch hinter der Parkmauer das schwarze Kraushaar des Jägers und die goldenen Locken seines jungen Herrn sichtbar waren und gleich darauf verschwanden. Da senkte sie den Kopf und schlich langsam, willenlos den Weg hinauf, zurück in das graue Schloß zu ihrem Kinde.

Er war ihr in einiger Entfernung gefolgt, bis sie in dem Vorflur verschwand und wie ein dunkler Schatten leise die Treppe hinaufging, ohne den herabkommenden Büchsenspanner zu beachten, der sich scheu an ihr vorbeidrückte, und, noch immer erhitzt und verstört, vor den Grafen trat.

»Der junge Herr sind wieder oben«, meldete er. »Die Elis' bringt ihn alleweil zu Bett.«

Der andere trocknete sich den kalten Schweiß aus dem bleichgewordenen Gesicht. »Wegmann«, murmelte er. »Ich glaube . . . außer Ihnen hat niemand das . . . das da eben gesehen.«

»Nein, Herr Graf.«

»Wegmann – sind Sie ein katholischer Christ?«

»Herr Graf! Sell mächt' ich hoffe.«

»Dann schwören Sie mir, Wegmann, daß Sie keinem Menschen je erzählen werden, was Sie eben gesehen und gehört haben.«

»Dees schwör' ich Ihne, Herr Graf – so wahr mir Gott helf'!«

»Ich danke Ihnen, Wegmann.« Er erfaßte die braune Rechte des Burschen und drückte sie. »Sie sind ein treuer Diener. Ich vergess' Ihnen das nicht. Sie müssen immer bei mir bleiben, Wegmann, versprechen Sie mir das. Ich will Ihnen auch . . .«

Er brach ab. Eine breitschulterige Gestalt verdunkelte den Eingang und trat, den Schlapphut lüftend, herein.

»Guten Tag, Herr Graf!« sagte der Kassenarzt kurz, schon im Begriff, den triefenden Wettermantel abzulegen. »Ist der kleine Patient oben? Ja? Dann will ich gleich nach ihm sehen.«

Der Jäger hatte im Antlitz seines Herrn mit Schrecken die Zeichen neu erwachender jäher Wut gelesen. Mit einem Satz sprang er zwischen die beiden.

»Basse Sie uff, Herr Doktor!« stieß er hervor. »Sonst gibt's e Unglück.«

Jetzt bemerkte auch der Arzt die Verwilderung in den Zügen seines Gegenüber. Aber er blieb ganz ruhig. »Ein Unglück?« fragt« er. »Wieso? Was ist denn geschehen?«

»Wegmann!« Die Stimme des Grafen klang dumpf. »Vorhin habe ich Sie verhindert, Menschenblut zu vergießen. Aber wenn dieser Mann da nur noch einen Schritt macht und Miene macht, die Treppe hinauf zu meinem Kinde zu gehen, so brauchen Sie Gewalt gegen ihn. Nehmen Sie Ihre Flinte herunter. Auf meine Verantwortung. Ich befehle es!«

Der Kassenarzt war stehengeblieben. »Bringen Sie sich lieber nicht ins Zuchthaus, Wegmann«, sagte er kaltblütig, »Ihr Herr sitzt die Strafe doch nicht für Sie ab. Und Sie, Herr Graf – wollen Sie mir nicht wenigstens erklären, was diese Tollheit heißt?«

Der Graf antwortete ihm nicht, er wendete sich zu seinem Jäger. »Und wenn dieser Mann jetzt nicht auf der Stelle weggeht, Wegmann!« knirschte er zwischen den Zähnen, »wenn er sich überhaupt noch einmal auf meinem Grund und Boden sehen läßt, so entfernen Sie, oder wer sonst da ist, ihn mit Gewalt! Sagen Sie's den Dienern. Ich hab's befohlen – ein für allemal.«

»Dafür werden Sie mir denn doch Genugtuung geben!« Der Doktor setzte gelassen seinen Hut auf.

»Jawohl, Genugtuung vor Gericht! Sie locken mir meine Frau aus dem Hause – Sie wollen mir mein Kind rauben! Vor das Strafgericht gehören Sie wegen Kindesraubs. Und wenn ich es nicht tue, geschieht es nur mit Rücksicht auf meinen Namen. Es braucht nicht alle Welt zu wissen, was Sie hier angestiftet haben. Aber ich bin jetzt auf meiner Hut. Sehen Sie sich vor!«

»Unzurechnungsfähig sind Sie!« Der Doktor wendete sich zum Gehen. »Und ich verzichte darauf, Ihre wahnsinnigen Anschuldigungen überhaupt zu beantworten. Nur um meine Pflicht als Arzt bis zuletzt zu erfüllen, möchte ich Ihnen dringend raten: Ziehen Sie sofort an meiner Stelle einen Kollegen bei. Es ist möglich, daß Ihr Kind schwer krank wird. Ich hab's Ihrer Frau nur nicht sagen wollen, um sie nicht unnütz vor der Zeit aufzuregen.«

»Ich brauche Ihren Rat nicht! Wenn einer mein Kind umbringen will, sind Sie es. Das Kind steht Ihnen ja allein im Wege! Sie haben das Kind krank gemacht – Sie allein. Ich werde Sie den Gerichten überliefern.«

»Zu dumm!« sagte der Arzt kurz, zuckte die Schultern und ging, ohne sich umzusehen, zum Tor hinaus.



 << zurück weiter >>