Rudolph Stratz
Die ewige Burg
Rudolph Stratz

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XVI.

Unten im Park wandelten, wie immer um diese Stunde, die alten Herren stumm und gebeugt, die Hände auf dem Rücken, unter dem kahlen triefenden Ulmengeäst auf und nieder. Auch sie folgten mit den Augen dem rasch im Nebelgrau verschwindenden Schloßherrn und seinem Diener.

»Ob er wohl mit ihr gesprochen hat?« fragte der Pariser, verdrießlich an der erloschenen Zigarette kauend.

Der General nickte. »Jetzt eben.«

»Woher weißt du denn das?«

»Sie steht doch dort droben am Fenster und schaut herunter. Und wenn man ihr Gesicht sieht . . .«

Der alte Roué zwinkerte von der Seite hinauf und wendete sich gleich darauf wieder wie schuldbewußt ab. Ohne weiter ein Wort zu sprechen, setzten sie ihre einförmige Promenade fort.

Die oben beachtete sie gar nicht. Sie sah nur, daß heute einer aus ihrer Dreizahl fehlte. Der hagere Preuße ging da mit seinem langsamen steifen Schritt und neben ihm trippelte nervös, mit seinen immer noch glänzenden Augen unruhig alles musternd, der greise Boulevardier. Aber zwischen den beiden schwarzen Gestalten fegte nicht wie sonst der zischelnde Weiberrock des Priesters das welke Laub am Boden auf. Es schien, daß das schlechte Wetter den verweichlichten alten Römer im Schlosse zurückhielt; wahrscheinlich nebenan in dem großen Saal, in dem mit Hilfe von Füllöfen und Kamin die sonst überall aus dem Mauerwerk, zumal zur Frühjahrszeit, dunstende Kälte gebannt war.

Sie empfand einen seltsamen Drang, ihrem Feinde ins Gesicht zu sehen; denn er war ja doch der eigentliche Feind, der einzige. Er lenkte an seinen Fäden die anderen, seit er aus Rom eingetroffen war, weniger, wie sie jetzt ahnte, seiner Gesundheit wegen, als um die Verhältnisse ihrer Ehe in seiner Art zu ordnen. Er hatte gestern ihren Vater hierher berufen und damit den Stein ins Rollen gebracht, er hatte heute morgen ihrem Manne den schlangenklugen Rat ins Ohr geblasen, sie von ihrem Kinde zu scheiden, er würde mit seiner überlegenen List alles, was sie noch weiter versuchen konnte, zu nichte machen, noch ehe es begonnen. Es war besser, mit ihm unmittelbar zu verhandeln, statt mit den blinden Geschöpfen seines Willens. Vielleicht war doch eine Verständigung zwischen ihm und ihr möglich.

Ohne sich eigentlich Rechenschaft abzulegen, was sie tat, ging sie rasch hinüber zum Saal und öffnete die Türe. Vor dem glühenden Füllofen stand wie ein langer, schmaler, schwarzer Schatten fröstelnd der greise Kleriker und neigte lächelnd das mit einem Käppchen bedeckte Haupt zum Gruße.

Sie stockte. Sie fühlte sich wie immer diesem leidenschaftsfremden Fanatiker gegenüber willenlos werden.

»Ich . . . ich habe eine Bitte«, sagte sie zögernd.

Die schmale weiße Hand des anderen machte eine anmutige Bewegung, als sichere sie im voraus gütig die Erfüllung jedes Wunsches zu. »Ich bin glücklich, Ihnen dienen zu dürfen«, sprach er mit dem weichen Tonfall seiner des Deutschen ungewohnten Stimme. »Um was handelt es sich?«

»Um meinen Sohn. Er ist krank.«

»Aber, wie wir hoffen, doch nicht ernstlich.«

»Hoffentlich nicht, aber immerhin darf der Arzt nicht fehlen. Nun ist der Doktor aus dem Dorfe bisher nicht heraufgekommen, und wenn er kommen sollte, hat mein Mann befohlen, ihn nicht vorzulassen, sondern ihm für seine weiteren Dienste zu danken.«

»Nun . . . und der Kreisphysikus?«

»Man hat nach ihm geschickt. Aber es ist Hochwasser. Ich bin überzeugt, daß unser Kutscher nicht über den Neckar kann, sondern mit dem leeren Wagen hier wieder vorfährt. Dann kann der eine Arzt nicht kommen, der andere darf nicht kommen, und was aus meinem Kinde wird, weiß Gott.«

»Nun – was soll ich tun?«

»Dem Doktor unten schreiben, daß er als Arzt nach dem Kinde sehen möge. Ich darf das nicht tun. Es würde mißverstanden werden – wie jetzt die Dinge stehen, wenn ich ihn hier ins Haus rufe. Aber Sie – das ist etwas anderes. Durch Sie ist er gedeckt – sich selbst und meinem Manne gegenüber, und kann ruhig seine ärztliche Pflicht ausüben. Denn um die – ich schwöre es Ihnen – handelt es sich ja nur.«

Der Priester schwieg und betrachtete eine Weile nachdenklich das Teppichmuster. »Ja«, sagte er dann plötzlich, setzte sich an einen Tisch und schrieb.

»Ihr Wunsch ist erfüllt!« Er klingelte und übergab den Brief dem eintretenden Diener zur Besorgung in das Dorf. »Der Arzt wird in spätestens ein, zwei Stunden hier oben sein. Ist sonst noch etwas?« setzte er hinzu, da sie zögerte. »Bitte! Ich stehe zu Diensten.«

Sie holte tief Atem. »Ja! Man will mir mein Kind nehmen.«

Der Römer zog erstaunt die Brauen hoch. »Wer denn, um Jesu willen?«

»Mein Mann – und Sie – ihr alle.«

»Welch ein Irrtum«, sagte der Priester kopfschüttelnd. »Beruhigen Sie sich, es bleibt ganz gewiß bei Ihnen.«

»Hier im Schlosse?«

»Überall, wo sich seine Eltern befinden.«

»Aber wenn die an zwei Orten sind?«

»Das ist unmöglich. Die Frau hat dem Manne zu folgen – nach göttlichem und menschlichem Recht.«

»Wenn ich mich aber doch von ihm trenne? . . .«

»Dann nimmt man das Kind Ihnen doch nicht.« Er sah ganz erstaunt durch seine Brillengläser zu ihr hinüber. »Sondern Sie, liebe Tochter, verlassen es, verlassen den Platz, an den Sie gehören. Da geschieht Ihnen doch kein Unrecht, sondern Sie selbst begehen eines, und eines der schwersten, die wir kennen.«

Er lächelte ihr beinahe väterlich zu. Die weiche Greisenstimme klang tonlos in ihrem Ohr. Sie fühlte sich seiner jesuitischen Logik nicht gewachsen. »Es ist doch mein Kind«, sagte sie ratlos.

»Gewiß. Drüben liegt es und wartet nur, daß Sie sich wieder an sein Lager setzen und es pflegen. Seien Sie sicher, daß Sie niemand von diesem heiligen Platze vertreibt.«

»Aber ich will fort und es mit mir nehmen.«

Er blieb unbeweglich. »Der heilige Platz, den ich nannte, ist im Vaterhause. Das Wort ›Mutterhaus‹ kennt unsere Sprache nicht. Denn es steht geschrieben, daß das Weib Eltern und Heimat verlassen und dem Manne folgen soll. Geht sie von ihm, so geht sie allein.«

Sie zuckte zusammen. Ihr war, als stände ein freundliches, schwarzes, langes Gespenst vor ihr in der grauen Dämmerluft des weiten kahlen Saales, von dessen Wänden überall die toten Augenpaare, die Schatten der Vergangenheit, auf sie niederstarrten, und sie empfand mit einem eisigen Angstgeriesel, daß gegenüber diesem unerschütterlichen, milde lächelnden Römerkopf alles, alles vergeblich sein würde.

»Wo soll das Kind denn sonst hin?« fuhr er in etwas wärmerem und lebhafterem Tone fort. »Vergessen Sie nicht: er ist der Letzte des Geschlechts. Eine ganze Reihe bedeutender, durch Tugenden und wahren Glauben ausgezeichneter Männer und Frauen schließt mit ihm ab. Ob sie sich fortsetzt, das steht auf seinen zwei Augen. Und dieses kostbare Unterpfand unserer Fortdauer, diesen Erben von Jahrhunderten, sollen wir leichten Herzens davonziehen lassen in die Fremde – Gott weiß, wohin? Denn wer kann ermessen, wie sich unser Leben fügt? Vielleicht käme Ihr Sohn nach langen Jahren als Wunderdoktor oder Freimaurer aus Amerika zurück und machte die Burg seiner Väter zur Kaltwasserheilanstalt, wie das unten am Neckar mit dem uralten Ordensschloß Hornegg geschehen ist. Vielleicht tritt er zum Protestantismus über und hält im Reichstag sozialdemokratische Reden. Vielleicht – doch genug! Das wollen wir doch alles nicht erleben. Er gehört zu uns, als das Letzte, was wir haben. Unter unsere Aufsicht und Erziehung. Darin sind wir alle einig: Ihr Vater, mein Neffe, meine Brüder und ich.«

»Und wer hat ihn denn zur Welt gebracht? Ihr alle zusammen oder ich? Ich! Mit Angst und Schmerzen. Ich hab' ihn zu beaufsichtigen und zu erziehen – nicht ihr.«

»Bis zu einem bestimmten Alter gewiß«, sagte der Priester lächelnd. »Die Pflegerin der Kindheit ist die Mutter. Wer sonst? Später aber kommt die Zeit des Reifens, der Empfänglichkeit für Eindrücke, und da – setzen Sie sich in unsere Lage, liebe Tochter – ich meine, in die Lage gläubiger katholischer Christen. Sie sind durch Einflüsse, die wir kennen, in eine Freigeisterei verfallen, die uns erschreckt und betrübt, ohne daß wir es ändern können, denn Sie sind eben ein erwachsener Mensch. Anders ist es mit der weichen Seele eines Knaben! Sollen seine ersten Eindrücke fürs Leben aus jener Weltanschauung stammen, deren Sie sich rühmen – der öden, materialistischen Weltanschauung eures Darwin, Häckel, Nietzsche, die uns alles nimmt, was wir haben, und uns nichts dafür gibt als Zweifel, Ungewißheit und ein unbefriedigtes Tappen in dunkle Weiten, für die unsere Augen nicht geschaffen sind? Glauben Sie nicht, daß dieser Geist ein freier ist – ich habe ihn mit tiefem Ernst studiert, nicht, wie Sie, mich oberflächlich am Reiz des Neuen berauscht – und bin nur in meiner Überzeugung bestärkt worden, daß der Glaube hoch über dem Wissen steht. Aber ich bin ein alter Mann. Für einen werdenden Menschen ist dieses Gift verderblich, zumal wenn es ihm tagtäglich von seiner nächsten Umgebung eingeflößt wird – von Ihnen und vielleicht von jenem Mann, der einen so unheilvollen Einfluß auf Sie gewonnen hat.«

»Jawohl!« Sie faltete verstört die Hände. »Ich weiß, wie ihr mir Wulfi erziehen würdet, wenn ich ihn euch lasse. In eurem Kollegium in Rom! Unter Ihrer Obhut. Ich hab' das selber durchgemacht in dem belgischen Kloster. Mein armer, stiller, kleiner Wulfi! Wenn ich ihn erwachsen wiedersähe, wäre er mir fremd geworden – ein blasser, scheuer Mensch in der langen Kutte, der mit seiner Mutter nichts zu reden weiß . . . nein . . . was mein ist, halt' ich mit beiden Händen. Ich geb' es nicht her.«

Der alte Römer lächelte. »Es kommt auch nur auf Sie an, liebe Tochter. Entziehen Sie sich dem Einflusse jenes Mannes, folgen Sie Ihrem Gatten, wohin er Sie in bester Absicht führt – und wir können unbesorgt das Kind in Ihrer Obhut lassen.«

»Und was wird aus mir?« Ihr heißer Atem umwehte im Flug ihrer Worte seine gelblichen, ausgemergelten Wangen. »Begreifen Sie denn nicht, daß ich dabei verrückt werde? Bei diesem Leben? Bei dem Gedanken, so ganz unnütz und töricht in irgendeinem Winkel zu verwelken, ohne daß ein Mensch etwas von mir hat und ich irgend etwas vom Leben. Ich bin doch noch jung . . . ich . . . ich könnte noch jemanden glücklich machen . . . selbst glücklich sein . . . alles! Aber nein – da soll ich hier vermodern – mit einem Mann, der mich nicht liebt und ich ihn nicht, die Jahre totschlagen, zu einer Mumie werden bei lebendigem Leibe! Nein – ich kann nicht.«

»Dann gehen Sie und verlassen Sie Ihr Kind.«

Sie lachte wild auf. »Ja, Sie können das ruhig sagen! Sie können das ja nicht wissen. Sie haben ja nie lieben dürfen. Sie haben ja nie Frauen gekannt, nie Kinder besessen. Aber Sie sind doch klug, Sie schauen doch durch die Menschen wie durch das Glas. Da müssen Sie doch auch sehen, was das Höchste und Heiligste ist auf der Welt – das Natürlichste! Kein Tier läßt von seinen Jungen, es stirbt lieber . . . und einen Menschen . . . es ist so grausam . . . so dumm . . . so . . .«

Ihre Hände hatten sich in seinem Priesterrock festgekrampft. Er machte sich los und strich zurücktretend die seidenen Falten glatt. »Lassen Sie das doch«, sprach er gedämpft. »Bleiben Sie ruhig, Sie ändern nichts mit derlei Szenen.«

Sie schwieg. Er sah ihr verzweifeltes Lächeln. Ein Grauen durchfröstelte ihn vor dieser, dem alten Mann unbegreiflichen wilden und leidvollen Zärtlichkeit zu dem mit Schmerzen geborenen Selbst.

»Wollen Sie mir Wulfi lassen, wenn ich weggehe?«

Er schüttelte stumm das Haupt.

»Wirklich nicht?«

»Nein!«

»Ich rede nicht weiter, ich spreche kein Wort mehr. Zum letztenmal?«

»Nein!« wiederholte der greise Kleriker und wartete eine Weile, ob sie etwas erwidern würde. Sie war stumm. Da neigte er leise das Haupt zum Abschied und ging langsam hinaus.

Sie blieb reglos stehen und horchte mit angehaltenem Atem, bis sich das Surren seiner Röcke, den Gang entlang, in jenem Seitenflügel verlor, in dem die drei alten Herren hausten. Dann klinkte sie die Türe auf, sah sich lauernd nach beiden Seiten um und rannte den anderen Flur hinab zum Kinderzimmer.

Bei ihrem Eintritt sprang Elise erschrocken auf. »Gut, daß Frau Gräfin endlich kommen«, flüsterte sie. »Der Herr Doktor läßt sich nicht sehen, und Wulfi – ich weiß nicht, was eigentlich mit ihm ist. Ich bin wirklich in Sorge . . .«

Ihre Herrin beugte sich über das Bett, in dessen weißen Kissen ein erhitztes, von goldenen Locken umspieltes Gesichtchen ruhte; sie nahm den Kleinen, der apathisch alles mit sich geschehen ließ, aus seinem Nestchen heraus und umwickelte ihn eilfertig mit Decken und Tüchern, zuweilen angstvoll zusammenfahrend, wenn draußen ein Laut, ein Fußtritt ertönte.

Elise wußte sich vor Erstaunen nicht zu fassen. »Aber, Frau Gräfin!« wagte sie endlich einen Einwand. »Frau Gräfin wollen doch nicht jetzt mit ihm ins Freie?«

»Ich mummele ihn ja ganz warm ein.« Sie schlang ihm ein Spitzentuch um den Blondkopf. »Es kommt kein Luftzug an ihn.«

»Aber Frau Gräfin haben ja selber einen ganz nassen Hut und Mantel an. Ich will wenigstens den Schirm holen.«

»Ich brauche keinen Schirm.« Sie öffnete vorsichtig das Fenster und sah hinaus. Der Park war leer. Die beiden alten Herren mußten in ihr Zimmer zurückgekehrt sein und auch sonst ließ sich kein menschliches Wesen erblicken.

Da riß sie mit einem ungestümen Schwung den Knaben zu sich empor und eilte, ohne sich um die ratlos und verdutzt mitten im Zimmer stehende Wärterin zu kümmern, den Flur entlang, die Treppe hinab und hinaus in den Garten.

Niemand war da als das Doggenpaar des Schlosses, das freudig bellend seine junge Herrin umsprang, während sie, ohne sich umzusehen, ihre Bürde fest umklammernd, atemlos wie ein gehetztes Wild quer zwischen den Bäumen hindurch dem Ausgang zuschoß.



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