Rudolph Stratz
Die ewige Burg
Rudolph Stratz

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XXI.

In den Fenstern des Schlosses blinkte noch überall Licht. Die Sorge ließ trotz der späten Nachtstunde niemanden schlafen. Es war ein Raunen und Flüstern in den Gängen, ein leises Hin- und Herschleichen, eine gespenstige Unruhe durch das ganze öde Gemäuer bis hinab zum Eingang der Gruft, hinter deren Gittern still unter verschnörkelten Steinplatten die alle ruhten, die vorher hier gelacht und geküßt, gegähnt und gebetet hatten. Eine große Wasserlache stand hier auf den Quadern des Bodens und zog sich als breite, feuchte Spur die längs der Kapelle hinauflaufende Seitentreppe empor. Oben drängten sich im Flur der Gärtner und ein paar Arbeitsleute in einer dumpf murmelnden Gruppe zusammen und traten verstört auseinander, als die drei alten Herren, durch die Unruhe aus ihrem Brüten im Saale aufgeschreckt, herankamen.

Der General legte dem Gärtner die Hand auf die Schulter. »Was ist denn nun wieder los?« fragte er, und es zuckte vor mühsam verhaltener Erregung unter den weißen Bartstreifen.

»Ha. . .  die Elis', Herr Graf!«

»Was ist mit ihr?«

»Sie war doch seit dem Abend schon weg – kein Mensch hat gewußt, wohin. M'r hat sie bloß mit dem Wegmann stehe sehe – kurz, eh' der mit dem gnädigen Herrn weggefahre is– und dann net mehr . . .«

»Na . . . und nun?«

»Alleweil hawwe wir sie aus'm Parkteich gezoge! Ich war gerad' heut nacht noch auf und hör' uff emol so e Plumpser und sag' zu meiner Fraa: ›Jetzt, was is denn dees? – weil ich mir gedenkt hab', es sind welche do, wo Karpfe stehle wolle – und mach' mer gleich den Nachen los. Und wie ich drin bin, kummt auch gerad' der Mond 'raus und ich seh' die Elis' zehn Schritt besser rechts im Wasser und hab' sie eben noch am Arm lange könne und 'raushole . . .«

»Also ist sie nicht ertrunken?«

»Ah bah, Herr Graf! Ich hab' sie erwischt. Awwer sie is ganz von sich. Sie weiß net, was sie spricht, Sie hot's Fieber. Dodrin liegt sie uff'm Gastbett. Die Frau Gräfin war schon bei ihr.«

»Ja – und hat man denn eine Ahnung, warum . . .«

Da zuckten die Leute die Achseln und sahen sich vielsagend an. Aber zu sprechen getraute sich keiner.

»Wie halt die Weiber sind, Herr Graf!« sagte endlich der Gärtner nachdenklich. »Die wisse jo selwer net, was sie tun! Jetzt – geschad't wird's ihr net viel hawwe! 's is wahr: das Wasser is kalt. Awwer sie war ja net lang drin! 's is mehr die Aufregung! Die is ihr aufs Herz geschlage. Dees gibt sich auch wieder . . .«

»Gibt sie denn gar keine Auskunft?«

»Sie redd' ganz verworre! Immer von dem Jäger Wegmann! M'r solle um Gottes willen den Wegmann net mit dem Herrn Grafe fortlasse. Sie sei zu spät gekomme! Eben sei'n die beiden weggefahre gewese. Der Wegmann müsse zurück! Sonst geb' es 'n Unglück! So geht das Geredd' weiter!«

»Verstehst du das?« fragte der General den Pariser.

»Nein! Wegmann ist doch der zuverlässigste Mensch, den wir haben! Wie sollte der Übles im Schilde führen? Weiß der Himmel, was die Elise jetzt in ihrem Fieber durcheinander wirft! Es ist ja sicher, daß die beiden glücklich über den Neckar sind. Unser Brown, den Wera an die Fähre schickte, hat ja deutlich die Bootslaterne drüben landen sehen. Warum seitdem alles totenstill bleibt und Pius nicht zurückkommt, daß weiß freilich der Himmel!«

Wieder sahen sich die Schloßbediensteten schweigend an. Eine durch die Scheu vor ihrer Herrschaft stumm bleibende Angst lag in allen Blicken.

»Hawwe Sie denn selbst die Latern' am annern Ufer gesehn?« fragte endlich der Gärtner halblaut den herbeigekommenen Kammerdiener.

Der Schotte nickte. »Ich selbst. Das Boot ist sicher drüben!«

»No – dann kann ja nix bassiert sein!«

»Aber was wird denn nun mit Elise?« fragte der General.

»Ha – die Frau Gräfin hat sie halt ins Bett lege lasse und in warme Tücher wickeln! Mei 'Fraa hat geholfe und sitzt jetzt drin bei'er! Denn die Frau Gräfin – die hot ja heut kei' Sinn dafür. Die is drüwe beim junge Herrn. Do tät' die Elis' auch not. 's geht ja alleweil schlechter mit dem kleine Herrn. Awwer nein – muß die in Wasser schpringe – gerad' heut!«

»Ja – man sollte aber doch den Arzt . . .«

Der Gärtner zuckte die Achseln und blickte die anderen Bediensteten vielsagend an. »M'r derfe doch net, Herr Graf! Er derf doch net mehr ins Schloß. Der gnädige Herr hot's doch befohle! M'r müsse schon uff'n Physikus warte . . .«

»Wenn der nur endlich käme . . .« Der General sprach mehr zu sich als zu den anderen.

»Jo – Herr Graf . . . 's wär' Zeit! Längscht! 's is bald zwei Uhr nachts! Er müßt' schon seit gut zwei Stunde hier sein. Wir hawwe's uns als und als wieder ausgerechnet. Denn . . . mei' Kinner hawwe's aach gehabt! Dees kenn' ich! Do heißt's kei' Zeit verliere! Und schon wege der gnädigen Frau! . . . Herr Graf . . . wie die gnädige Frau vorhin hier bei der Elis' war – m'r hawwe all zusamme e Schrecke gekriegt. So weiß hot sie im Gesicht ausgeschaut wie e Totes. M'r sieht ihr die Angscht an um den jungen Herrn . . . und daß der Physikus net kommt. Ich und mei' Fraa – wir hawwe schon gebetet, daß er doch endlich 'mol komme dät' – awwer m'r mag noch so lang in die Nacht 'naushorche – es rührt und regt sich nix.«

Die alten Herren erwiderten nichts. Langsam gingen sie durch die Gruppen der Dienerschaft zurück nach dem Saal und setzten sich vergrämt wieder in den Eichenstühlen nieder, schwarze stumme Gestalten in dem halbdunklen Raum, in dem beim Zitterspiel des Kaminfeuers undeutlich die bunten Bilder an den Wänden leuchteten, all die Vorfahren des Letzten des Stammes, der da drüben mit dem Tode rang.

»So geht das nicht!« sagte der General plötzlich laut. »Pius kommt nicht zurück. Wir wissen nur, daß er glücklich über den Neckar gelangt ist. Aber seitdem . . . Wenn unser Neffe nicht mehr weiß, was er tut, so müssen wir für ihn handeln, ehe es zu spät ist. Wir haben schon Stunden um Stunden mit dem Warten verloren. Gott weiß, was er dort drüben treibt.«

»Sehr einfach!« murmelte der Pariser. »Entweder weigert sich der Physikus, zu fahren . . .«

»So ist der doch nicht!« widersprach der hagere Preuße ärgerlich. »Er ist doch ein beherzter Mensch – ein alter Junggeselle, der sich nicht vor Tod und Teufel fürchtet. Und nun gar hierher – eine Berufung ins Schloß! Nein! Das kann nicht sein.«

»Dann ist er über Land!« hub jetzt der Priester mit leiser, schwankender Stimme an, »und Pius hetzt irgendwo in der Nacht hinter ihm her!«

Der General sprang auf. »Und wo findet er ihn? Und wann? Und wann kommt er endlich mit ihm? Wenn nichts mehr zu retten ist! Natürlich – er ist der Vater! Er hat das Recht, zu tun, was er will! Aber schließlich – wir sind doch die Angehörigen des Geschlechts. Das Geschlecht steht auf den zwei Augen da drüben . . .«

Die beiden anderen nickten stumm. Es war, als fühlten sich die drei Greise, die in der Fremde draußen ihre Heimat gefunden, jetzt plötzlich wieder eins mit dem Mutterboden ihres alten Stammes, einsam in der tiefen Nacht, die sie umgab, und düster durch die Fenster hereinlugend, für immer alles in der ewigen Burg zu überschatten drohte.

»Also – was tun?« Der Pariser drehte verstört seinen schwarzgefärbten Schnurrbart.

Der General ging im Saale auf und ab. »Helfen kann nur der Arzt. Unten im Dorf ist er. Man muß ihn holen!«

»Ich habe ihn schon einmal heute mittag heraufgebeten – auf Weras Wunsch!« Der Priester starrte zu Boden. »Und gegen den Willen ihres Mannes! Und als der Doktor kam, wies ihn Pius, wie er uns selbst erzählte, unter unsinnigen Schmähungen und Todesdrohungen von der Schwelle. Glaubst du, daß ein Mann wie der Doktor das vergißt?«

»Das freilich nicht – aber . . .«

»Er würde uns antworten: ›Meine Herren, die Dienerschaft hat Befehl, mich nicht in das Schloß hineinzulassen! Mich, nötigenfalls mit Gewalt, von dem Krankenbett fern zu halten! Daran muß mein bester Wille scheitern.‹«

»Nun – das könnten doch wir der Dienerschaft befehlen . . .«

»Und wenn er drinnen ist und unser Neffe kommt plötzlich zurück – was doch jeden Augenblick geschehen kann – mit dem Physikus – und trifft den anderen, dem er das Haus verboten hat? Solch einer Szene setzt sich doch kein Mann von Selbstbewußtsein aus!«

»Man würde doch den Wagen in der Ferne rollen hören! Dann ist noch Zeit . . .«

»Ich kenne diesen Doktor ja erst seit gestern!« sagte der alte gräfliche Kleriker. »Aber er macht mir nicht den Eindruck, als würde er wie ein Dieb in der Nacht davon fliehen!«

»Wer sagt uns schließlich, daß Pius so bald wiederkommt? Gott weiß, wann das geschieht! Hinüber in die Stadt ist er über den Fluß gekommen. Der Diener hat's gesehen. Aber vielleicht ist gar keine Möglichkeit, über den Neckar zurückzufahren. Dann hat doch der Doktor hier freie Hand!«

Der Priester nickte. »Ja. Und nun höre das, was der da unten sich jedenfalls auch schon überlegt hat: Pius hat ihm mit klaren Worten, in Gegenwart seines Jägers, den tollen Vorwurf ins Gesicht geschleudert, er beabsichtige seinen Sohn umzubringen . . .«

»Das war in der Erregung . . .«

»Er hat vor uns und anderen denselben unsinnigen Verdacht wiederholt! Er traut dem Doktor zu, daß er diese Gelegenheit benutzen würde, das einzige Hindernis auf seinem Wege, den Kleinen drüben, zu beseitigen!«

»Aber das ist doch . . .«

»Das ist handgreifliche Unvernunft – natürlich. Dafür stammt es von Pius! Aber nun setze dich in die Lage des Doktors: Er weiß gar nicht, wie es mit dem Kinde steht. Er ist auf Vermutungen und Laienberichte angewiesen. Er kommt und findet – ich setze das nur als entfernte, aber schreckliche Möglichkeit –, findet, daß er nicht mehr helfen kann! Nehmen wir an, all seine Mühe bliebe umsonst – weißt du, was Pius dann morgen in der sinnlosen Erregung, in die ihn der Trauerfall versetzen würde, tut: Er ist imstande und zeigt den Doktor wegen fahrlässiger Tötung vor Gericht an! Dann hat er seine Ehre als Arzt, sein Ansehen, seine ganze Existenz in einem Skandalprozeß zu verteidigen! In die Gefahr begibt sich niemand, der nicht muß! Und am wenigsten dieser Doktor! Er hat ja alle Karten in der Hand – dank der Sinnlosigkeit unseres Neffen. Er braucht ja nur ruhig unten zu sitzen – kein Mensch kann ihm nach dem, was vorgefallen ist, verargen, wenn er seine Hilfe ablehnt – und braucht, wenn der Kleine kränker und kränker wird –, ohne einen Finger zu rühren, ohne sich selbst irgendwie schuldig zu machen, eben nur dem Schicksal seinen Lauf zu lassen, das Pius verhindern wollte.«

»Vergiß doch nicht,« der General blieb verstört stehen, »er hat doch einen Beruf – ähnlich dem deinen! Den Beruf, mein' ich – die Leiden seiner Nächsten zu lindern – selbstlos zu sein . . .«

»Ja«, sagte der Römer. »Nur daß mein Stand mir die Pflicht der Demut auferlegt! Ihm nicht! Er ist ein Mann von hartem Holz! Wer so ist und so beschimpft wurde, kann nicht so leicht vergeben und vergessen!«

Jetzt plötzlich sprang der Roué auf. »Aber versuchen müßte man es doch!« stieß er in einem Ton der Verzweiflung hervor, der seltsam der sonstigen blasierten Ruhe des spöttischen Klubmanns widersprach. »Man müßte wenigstens zu ihm gehen, ihm vorstellen, wie . . .«

Der greise Kleriker schüttelte den Kopf. »Wenn wir gehen, nützt es gar nichts . . . Das müßte jemand anders sein! Du weißt schon, wer . . .«

Er brach ab. Die Türe hatte sich geöffnet. In ihr stand Wera. Ihr Gesicht schimmerte totenweiß unter der Kapuze des Regenmantels, der um ihre Schultern hing.

Sie nickte dem General zu. »Bitte, komm . . .!« sagte sie tonlos.

»Wohin?«

»Hinunter! Zum Doktor!«

Die drei Alten schwiegen und sahen sich an.

»Ich weiß es jetzt ganz genau . . .« Weras Stimme klang unheimlich ruhig. »Wulfi ist verloren, wenn nicht bald Hilfe kommt. Pius bringt sie nicht. Seit Stunden bleibt er aus. Was ich in der Zeit gelitten hab' – drüben an dem Bettchen, wie ich die Minuten und Sekunden gezählt hab' und auf den Knien gelegen und gehorcht, ob noch kein Wagen rollt – mein Haar hätte grau werden können seit Mitternacht! Und alles umsonst – ganz umsonst! Aber jetzt kann ich nicht mehr. Er soll mir mein Kind nicht umbringen! Er will es retten und erreicht nur das Gegenteil! Ich hab' ihn beschworen, wie er wegfuhr – ich hab' ihm gesagt: Da unten ist die Hilfe! Du brauchst nur die Hand danach auszustrecken! Umsonst – er ist wahnsinnig und verblendet in die Nacht hinaus! Und ich mußte hier sitzen, mir die Zähne zusammenbeißen und warten. Aber jetzt ist's genug! Komm, Onkel!«

»Willst du wirklich selbst gehen?«

»Ja – jetzt gehe ich! Du mußt mit mir und dabei sein! Wir reden nichts miteinander, was du nicht hören könntest. Aber du selbst bleibe still!«

»Aber vergiß nicht . . .«

»Ich will nichts hören! Da ist Leben oder Tod für mein Kind! Auf weiter kommt es nichts an. Du hast selbst dein Kind verloren – dein einziges! Du weißt, was das ist!«

Der General folgte ihr. »Aber wird er es auch tun?«

Sie wandte den Kopf nicht um. »Ja«, sagte sie im Fortschreiten. »Ich weiß, er tut's!«



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