Rudolph Stratz
Die ewige Burg
Rudolph Stratz

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XXIII.

Unten in der Wirtsstube schauten Kaltschmidt und die Männer vom Kriegerverein, die seit dem Überfall durch den schwarzen Jäger halb verdutzt, halb wütend beieinander saßen, mit großen Augen auf den Flur hinaus, als trauten sie selbst ihren von schlechtem italienischem Rotwein umnebelten Sinnen nicht recht. Niemals seit Menschengedenken hatte einer der Schloßbewohner seinen Fuß in die Räume des »Baums im Odenwald« gesetzt. Das war ein völlig unwahrscheinlicher, ein unfaßbarer Gedanke.

Und doch standen da die Gräfin selber und der General, bleich und verstört in dunklen Mänteln, und verhandelten halblaut mit der Wirtin. Die nickte lebhaft und führte sie dann die Treppe hinauf zu den Gastzimmern.

Die Bauern sahen sich an. Sie wußten, daß auf der Burg eines krank lag. »Dees schaut bös aus!« meinte nachdenklich der Mannheimer Dragoner und biß die Spitze von einer neuen Pfälzer Zigarre ab. »Jetzt hole sie gar schon den Kaplan. Wenn der schon gehen muß und das Bürschli versehe . . .«

»Zum Kaplan laufe sie doch net selwer!« widersprach sein Nachbar. »Do hätte sie geschickt. Die sind zum Doktor 'nuff!«

»Der kummt doch erst recht ohne dees!« Der Dragoner schüttelte den Kopf. Die Frage war schwer zu lösen. Und auch der Diener, der den Herrschaften mit der Laterne durch die Nacht geleuchtet hatte und nun wartend unten im Flur stand, ließ sich auf keine Auskunft ein. »Der junge Herr is arg krank!« sagte er kurz und bekümmert und leerte schweigsam, nach oben horchend, sein Bierglas.

Dort oben, im Zimmer des Arztes, hatte das Waldbäuerlein beim Eintritt der Gäste schleunigst seinen Butterpack und den geheimnisvollen Sack aufgeladen und sich still zur Türe hinausgedrückt. Daß sein Sohn noch so spät nachts Besuch von so vornehmen Leuten bekam, verwirrte ihm. Da wollte er nicht stören.

Die anderen blieben einen Augenblick stumm voreinander stehen. Der Arzt bot den beiden mit einer Handbewegung Platz an. Wera schüttelte den Kopf.

»Wulfi ist krank!« sagte sie schnell. »So krank, daß wir das Schlimmste fürchten müssen . . . ohne Arzt . . .«

Er blickte fragend auf. »Und der Physikus?«

»Er kommt nicht! Mein Mann ist drüben in der Stadt – das hat man von unserem Ufer aus gesehen – aber er scheint ihn dort umsonst zu suchen. Vielleicht ist er über Land, vielleicht selbst krank – jedenfalls bleibt alles dort drüben stumm und still, und hier verrinnt die kostbare Zeit . . .«

»Und nun soll ich . . .« Er brach ab und trat einige Schritte von ihr hinweg ans Fenster.

»Ja. Sie.«

»Ich weiß alles, was Sie mir sagen können!« fuhr sie fort, ehe er etwas erwiderte. »Gewiß, kein Arzt braucht derlei zu vergessen oder kann es überhaupt . . . Sie so wenig wie irgendein anderer . . .«

»Das sagen Sie mir?«

Sie ging auf ihn zu und sah ihm ins Gesicht. »Ja. Eben ich! Jedem anderen Menschen auf der Welt können Sie es abschlagen – müssen Sie es vielleicht, weil Sie es Ihrer Selbstachtung schuldig sind – aber mir nicht!«

Er antwortete nicht. Der General, der bisher im Schatten der Türecke gestanden, warf einen Blick auf die beiden und verließ leise das Zimmer. Man hörte, wie draußen die Bohlen des Hausflurs unter seinem Tritt knarrten, während er vor dem Gemache auf und nieder schritt.

Innen war es kurze Zeit still. Dann hob der Arzt den Kopf.

»Sie sagen – Ihnen darf ich es nicht abschlagen?« fragte er. »Ich habe ja aber alles getan, was ich konnte. Ich habe meine Pflicht erfüllt, bis . . .«

»Gestern«, sagte Wera, »lehrten Sie mich: Es gibt keine Pflicht gegen andere. Nur gegen uns selbst. Ich hörte Ihnen zu und konnte es nicht verstehen. Und als ich nach Hause kam und vor der Wahl stand, mein Kind preiszugeben, um mich selber frei zu machen – da merkte ich, daß Sie unrecht hatten. Nein, lieber Freund . . . Wir leben nicht uns! Mit unserem Besten wurzeln wir in anderen Menschen. Das zu erkennen, das ist die Probe auf das Exempel, von der Sie gestern sprachen, die Abrechnung mit sich. Gott sei Dank – ich habe die Prüfung bestanden.«

»Sie haben es mir geschrieben!« sagte der Doktor. »Aber ich . . .«

Sie ließ ihn nicht ausreden. »Jetzt sind Sie in der großen Prüfung darin, die gestern über mich gekommen ist – daß man mit sich selbst kämpfen muß und sich selbst bezwingen!«

»Ich weiß sehr wohl, was ich von Ihnen verlange!« fuhr sie fort, da er schwieg. »Das arme kleine Wesen da oben ist das Kind Ihres Feindes, es ist sein Werkzeug, mich da oben in Gefangenschaft zurückzuhalten und uns beide für immer zu trennen. Solange mein Kind lebt, verlasse ich es nicht. Solange es lebt, ist es das Verhängnis auf Ihrem Weg. Und doch sollen Sie es am Leben erhalten! Gerade Sie, als der Mann, zu dem ich, seit ich ihn kenne, emporschaue und der einen Einfluß auf mich geübt hat wie nie ein Mensch zuvor. Vor mir können Sie sich nicht erniedrigen und klein machen, Ihr eigenes Bild in mir zerstören! Sie sollen hinaufgehen und das Kind Ihres Feindes retten und keinen Dank davon haben. Das sage ich, ganz hart und grausam. Das habe ich gestern durchgemacht, und was ich tragen kann, das können Sie erst recht!«

»Die Mutterliebe trägt viel! Aber was soll mich dabei halten?«

»Die Pflicht! Das, was Sie nicht anerkennen, lieber Freund, und was doch Ihr ganzes Leben ausmacht, die Pflicht gegen andere! Man hat Leben und Tod in Ihre Hand gegeben, in einem Vertrauen, das man kaum einem anderen Beruf auf der Welt schenkt – nicht, damit Sie nach Gutdünken Leben und Tod austeilen, sondern nach bestem Wissen und Gewissen – ohne Ansehen der Person – ob es ein Bettlerkind am Wege ist oder mein Wulfi dort oben – Sie müssen helfen.«

»Und wenn ich wieder herunterkomme und der Kleine ist glücklich außer Gefahr – dann sehen wir uns nicht wieder!«

»Nein! Aber klagen wollen wir jetzt nicht darüber. Es ist nicht die Zeit dazu, wir sind jetzt beide in der großen Lebenswende darin, in der es sich zeigen muß, wieviel an uns ist – und wollen das an dem Krankenbettchen dort oben tapfer miteinander durchkämpfen als zwei starke Menschen. Dazu haben Sie mich gemacht. Sie haben mich gestählt. Nun bin ich's und verlang' es auch von Ihnen, meinem guten Freund und Kameraden. Denn das sind und bleiben Sie, was auch kommen mag und wie ferne wir auch voneinander sind!« Sie trat zur Türe. »Nehmen Sie zusammen, was Sie brauchen. Ich eile voraus . . . ich halte es nicht aus vor Angst und Sorge, wieder oben zu sein . . . Zurückhalten wird Sie oben niemand . . . die Dienerschaft ist angewiesen . . . kommen Sie bald . . . bald . . .«

Er fühlte den heißen, verzweifelten Druck ihrer Hand, das Zittern von Leidenschaft und Angst und Not, das sie mühsam die ganze Zeit bezwungen hatte.

Dann riß sie sich los. »Kommen Sie bald!« stieß sie noch einmal, in der geöffneten Tür stehend, hervor. »Nicht wahr – es ist noch Zeit? Sie können Wulfi noch helfen? Sie können ja alles, was Sie wollen!«

»Erst muß ich ihn sehen und untersuchen!«

Sie sah ihn an und nickte ernst. Dann stieg sie ohne ein weiteres Wort des Abschieds mit dem stumm grüßenden General die Treppe hinab, auf der eben die Wirtin die Lampe auslöschen wollte. Die letzten Gäste hatten sich entfernt. Das bisher so lärmende Haus lag still und ruhig da und ebenso im Dunkel der weit vorgeschrittenen Nacht das Dorf. Nur vom Schlosse oben leuchteten in ungewohnter Zahl die hellen Fensterscheiben.

Der Doktor packte sein Gerät zusammen und nahm Hut und Mantel – ganz mechanisch, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt. Eine fast unbewußte Macht trieb ihn hinaus in die Nacht, um seinem Feinde die größte Wohltat und sich selbst das größte Leid zu erweisen . . .

Gesenkten Hauptes ging er hin durch das Dunkel, als führe ihn ein fremder Mensch an der Hand sacht aufwärts zum Schloß empor, und begriff es nicht. Er versuchte stehenzubleiben und zu überlegen. Aber es ließ ihm keine Ruhe. Vielleicht sind die Minuten da oben kostbar! – drängte etwas in ihm – vielleicht kommst du zu spät, wenn du hier unnütz stehenbleibst! Eil dich! Eil dich! Sonst ist am Ende der kleine schwache Leib da oben erstarrt, wenn du eintrittst – und du bist ein freier Mann und Sieger, und das darf nicht sein . . . Du mußt ja mit eigener Hand all deine Hoffnung einschaufeln . . .!

Du mußt? Wer befahl es ihm denn? Sein eigener Wille doch nicht. Im Gegenteil! Aber sein Wille, der sonst so eisenharte, war wie aus ihm geschwunden. Etwas anderes war da, was ihn langsam und unerbittlich zu den hellen Fenstern da hinauf geleitete, und er merkte endlich: dies Etwas war ihm nicht fremd. Das kam aus seinem Innersten und war der Inhalt seines Daseins – die Pflicht!

Der Mond trat aus den Wolken. Da lag dicht vor ihm das Schloß. Grau und riesenhaft mit seinen zerbröckelten Türmen und Mauern von den gleitenden Silberschatten des Himmels überspielt, glotzte es als ein plumpes Gebilde der Vorwelt hinab in das arbeitsame Tal, als ein Ding von gestern, das am lichten Tage so wenig Daseinsberechtigung mehr hatte, wie ein Mammut oder ein Drache, ein vergessenes Überbleibsel versunkener Zeit. Früher, schon in seiner Kindheit hatte sich in ihm der Zorn beim Anblick all dieser alten Waldburgen geregt – das unbewußte Gefühl des Bauernsprossen gegen die Zwingherren von einst. Später hatte er es gleichgültig betrachtet, allenfalls mit kühlem Interesse, wie der Mann der Wissenschaft wohl sonst ein nutzlos und töricht gewordenes Glied in der Entwicklungskette der Dinge prüft. Er wußte ja: die Natur schafft nicht sprungweise. Alles entsteht allmählich und stirbt allmählich wieder ab, und so konnte auch dies graue Fossil da oben nur langsam, fast unmerklich, in Staub und Stein vergehen. Es war ja schon so ewig da. Solange da unten im Wiesengrund die Wasser um die Hütten sprangen, saß da oben auf dem Wodenstein die Sippe und herrschte – anfangs durch Kraft und Mut, dann, siech und alt geworden, durch den Bann von Gesetz und Recht. Die wilde Reckenschaft von einst hatte sich versteinert in starren Urkunden und Gesetzesparagraphen, und unter deren Schutz und Schatten hauste jetzt in der alten Zwingburg weltfremd, dem Kampf ums Dasein entrückt, ein unfrohes, unnützes Geschlecht – entgegen dem Gebote dieses Kampfes, der ruhig alles Greisenhafte vernichtet, um Raum für junges Leben zu gewinnen.

Und für die Bewahrung dieses zwecklosen Daseins sollte er sein eigenes Glück, das Schicksal eines ganzen Mannes opfern! Wieder stieg der Grimm in ihm empor. Er ging nicht weiter. Die buschigen Brauen furchend, sah er zu dem hochgetürmten Bollwerk des Mittelalters empor. In ihm da unten lebte die Neuzeit, das zwanzigste Jahrhundert mit jugendfrischem Trotz und Kampfesmut. Durfte das vor dem Schatten da oben sich beugen?

Seine Hand griff in die Tasche und wog ein achtkantiges, bräunliches Fläschchen, das er hervorgeholt. Das war der Inbegriff des Jahrhunderts der Wissenschaft, der Sieg des modernen Menschengeistes über die Natur. Geheime Kraft lag in diesen wenigen Tropfen, eine Waffe, die man, furchtbarer als die rostigen Schwerter und Morgensterne oben in den Ahnenschlössern, heute in den Werkstätten der Gelehrten schmiedete. Und nicht dem Tode galt sie, wie die plumpen Werkzeuge der schloßgesessenen Herren von einst – sie diente dem Leben. Sie rettet jährlich Zehntausende und Hunderttausende vom Tode.

Ein paar Tropfen des Heilserums weniger, ein paar achtlos auf den Boden verschüttete Tropfen, und das Schicksal all derer da oben in der mondscheinumspielten, efeuumrankten ewigen Burg war besiegelt. Sie gingen davon. Ihr letzter, der zarte goldlockige Sprosse aus Wodans Geschlecht, schloß, ehe die Sonne wieder sank, für immer die blauen Kinderaugen und mit ihm schwand die Hoffnung des Stammes, der seit den Tagen büffelhorngeschmückter und in Bärenfell gehüllter Germanen bis zum ersten schrillen Pfiff der Eisenbahn sich unendlich, wie die alten Eichen in jedem Frühjahr wieder sprossen, durch die Jahrhunderte erneuert hatte.

Der Tod! Leben und Sterben der tausendjährigen Eiche wog der da unten, der Mann aus dem Volke, der Abkömmling der Mühsamen und Beladenen im Tale, die bis vor kurzem noch die Eisenfaust von da oben schwer im Nacken empfunden, nachdenklich in seiner Hand. Das war die neue Kraft, die neue Kunst, das neue Wissen! Die da oben waren wehrlos geworden hinter ihren dicken Mauern, in ihren waffenstarrenden Ahnenhallen. Der Bauernsohn aus dem Tale, der Nachkomme ihrer Hörigen, mußte hinaufsteigen und ihr Leben fristen.

Er mußte! Ob ein Bettlerkind am Wege, ob ein Reis aus Wodans sagenumsponnenem Stamm – für ihn war es gleich. Seine Pflicht war, zu helfen, wo es not tat.

Er schob das Fläschchen in die Tasche und stieg mit langen Schritten hinauf zu dem unheimlich stillen hellerleuchteten Gemäuer. Der Regen hatte aufgehört. Hell stand der Mond am Himmel. Die Sterne glitzerten durch die feuchte Luft. Am Boden dampfte es von würzigem weißem Hauch, ein leises Frühlingswehen, ein Erwachen des Lebensodems ging durch die einsame, von weitgedehnten schwarzen Höhenzügen umrahmte Bergwelt, in deren Kessel silbergrau und riesig, mit seinen Schlängelmauern das Tal weithin umwindend und umstrickend, Schloß Wodenstein wie ein Drache auf der Lauer lag.

An den drei Wisentköpfen des Parkportals vorbei ging er, den lärmenden Doggen wehrend, zum Eingang. Der alte Schotte empfing ihn scheu und stumm und geleitete ihn hinauf in das Krankenzimmer.

»Gott sei Dank!« Er hörte ihre flüsternde Stimme, wie sie, ohne aufzustehen, im Halbdunkel kaum zu erkennen, neben dem Bettchen saß, und sah die Hand, die sich ihm aus der Dämmerung entgegenstreckte.

Er nahm sie. »Vor allem schaffen Sie Licht,« sagte er kurz, »sonst kann ich nichts erkennen. Noch eine Kerze! So! Und nun versprechen Sie mir, ruhig und gefaßt zu sein, wie auch die Untersuchung ausfällt, wollen Sie?«

»Ja«, sagte sie mit erstickter Stimme.

»Denn Sie müssen mir zur Hand gehen!« Er musterte bereits mit dem prüfend-ruhigen Blick und dem unbeweglichen Gesichtsausdruck des Arztes am Krankenbett die zarten, fiebergeröteten Kinderzüge. »Sonst wird unser kleiner Patient noch unruhiger, als er schon ist! Also seien Sie tapfer!«

»Ich bin tapfer! Aber sagen Sie mir um Gottes willen . . .«

»Ich sage gar nichts, denn ich weiß nichts! Wenn ich so weit bin, werde ich Ihnen die volle Wahrheit sagen!«

Er hatte an dem Lager Platz genommen und begann die Untersuchung. Sie stand, bereit zu helfen, den Kopf des Kindes zu stützen, ihm beruhigend mit der Hand über die Stirne zu streichen, neben ihm. Durch die tiefe Stille klangen ihre angstgepreßten, mühsam gedämpften Atemzüge. Sie zitterte, daß die Kerze in ihrer Linken zuweilen hin und her schwankte. Dann sah er mit einem mißbilligenden Stirnrunzeln zu ihr auf und vertiefte sich wieder in sein Werk. Nichts von Erregung ließ sich an ihm bemerken. Er war ganz der kaltblütige ernste Berater, den die Gewohnheit des Kampfes gegen die Feinde der Menschheit gleichgültig gegen den Ort gemacht zu haben schien, wo dieser Kampf sich abspielte.

Endlich erhob er sich. Ruhig wie bisher. Sie stand vor ihm, stumm und vor Angst bebend, und merkte doch durch das Stocken ihres Herzschlags mit einem freudigen, ungläubigen Schrecken, daß er keine Bewegung machte, um unauffällig neben sie zu treten und sie nötigenfalls zu halten, was er doch als Träger einer schlimmen Botschaft gewiß getan hätte.

»Es war unverantwortlich, das Kind so lange ohne Arzt zu lassen!« sagte er. »Ich bin sehr spät gerufen worden. Aber zum Glück nicht zu spät. Es ist noch Zeit!«

Sie schloß die Augen. Ein Lächeln wie von einem glücklichen Traum lief über ihr Gesicht.

»Ich kann noch helfen!« fuhr er fort. »Ich denke, daß Sie den Kleinen gewiß behalten werden.«

Da lachte sie auf, mit Tränen in den Augen, fassungslos zwischen Jubel und Weinen. Sie ergriff seine beiden Hände und preßte sie in krampfhaftem Dank.

»Was soll denn das?« frug er kühl. »Sie sollen mir nicht danken – dazu ist gar kein Grund – sondern so vernünftig und ruhig sein wie möglich und mir hier helfen!«

Sie kniete fügsam neben dem Bettchen. »Wie denn?« flüsterte sie, mit nassen Augen zu ihm aufschauend.

»Warten Sie einen Augenblick!« sagte er statt aller Antwort und ging aus dem Zimmer hinüber in den großen Saal.

Der war trotz der späten Nachtstunde noch hell erleuchtet, und in ihm saßen stumm und sinnend die drei alten Herren. Seit einer Stunde hatten der Kleriker und der Pariser kein Wort gesprochen, und auch als der General den Raum betreten und mit einem seltsamen Zittern in der Stimme gemurmelt hatte: »Der Doktor kommt!« – selbst da war nur ein erleichtertes Aufräuspern, ein wohlgefälliges Nicken das Zeichen ihrer gewaltigen inneren Erregung gewesen. Sie hatten in ihrem langen Leben, jeder auf seine Weise, auf dem Exerzierplatz, am Altar wie am Spieltisch, die äußerste Selbstbeherrschung gelernt. Kein Zucken der faltenreichen Gesichter verriet ihre Gedanken, wenn ihr Blick zu der langen Reihe der Vorfahren an den Wänden und dann wieder nach der Türe schweifte, nach jener Richtung, wo drüben im Kinderzimmer der letzte Lebenshauch des alten Helden- und Priestergeschlechts unsicher wie ein Licht im Winde auf und nieder flackerte.

Als der Arzt erschien, standen sie stumm auf und reichten ihm die Hand zum Gruß. Er nahm die Frage vorweg, die auf den welken Lippenpaaren schwebte.

»Ich werde ihn durchbringen!« sagte er und fuhr, den Dank der anderen abschneidend, fort: »Aber ich bitt' Sie um zweierlei, meine Herren: erstens, daß, wenn der Herr Graf zurückkommt, jede Begegnung zwischen mir und ihm vermieden wird – das ist ja wohl selbstverständlich? – und zweitens, daß Sie um sechs Uhr, sowie der Telegraphenverkehr offen ist, meinen Kollegen, den Physikus, noch einmal durch eine dringliche Depesche herüberrufen, damit er mich ablöst. Ich will keine Minute länger hier verweilen, als unbedingt nötig ist. Also abgemacht? Gut! Auf Wiedersehen!«

Er ging wieder hinüber. »So,« sagte er beim Eintreten in das Krankenzimmer, »jetzt ist alles andere erledigt. Jetzt heißt's nur noch, an den kleinen Patienten denken.«

Er zog einen Stuhl heran. »Ihr Mann«, murmelte er, seine Geräte ordnend, »denkt ja allerdings, ich sei ein Mörder. Nun muß er sich vom Gegenteil überzeugen! Wenn einer ein Mörder ist, dann ist's er! Er wird eine böse Nacht haben, wenn er jetzt dort drüben herumirrt und umsonst den Physikus sucht und sich sagen muß: ›Unterdessen stirbt dein Kind!‹ Wenn er zurückkommt, findet er, daß ich's ihm gerettet hab'! Die Welt ist eigentlich komisch, nicht? Da sind wir nun beisammen und könnten für immer beisammen bleiben und tun und hoffen doch nichts anderes, als was bestimmt ist, uns für immer zu trennen! Bei Ihnen begreift sich's! Sie sind Mutter. Aber ich . . .?«

»Sie sind das, wofür ich Sie gehalten habe!« sagte sie. »Gott sei Dank: ich hab' mich nicht in Ihnen getäuscht.«

Er erwiderte nichts. Stumm mühten sich die beiden Gestalten an dem Krankenlager. Stunde um Stunde. Zuweilen nur durchbrach sein gedämpftes Raunen, ihr leises »Ja«, als Zeichen, daß sie seine Weisung verstanden, das Schweigen. Es war nicht anders, als wenn ein Arzt und eine barmherzige Schwester zusammenwirkten, um dem Tode eine Beute zu entreißen, zwei Menschen, die einander innerlich ganz fremd und fern, durch die gleiche Pflicht des Berufes und der Nächstenliebe geeint, eine Nacht hindurch am Siechenbett gute Kameradschaft halten und, wenn der Morgen graut, mit flüchtigem Gruße auseinandergehen.

Und der Morgen graute allmählich durch die sich erhellenden Scheiben. Ein fahles Leuchten im Osten, ein undeutliches Nebeldampfen auf den Höhen, im Tale unten noch tiefes Dunkel. Die ersten Flimmerpunkte des erwachenden Lebens blitzten dort, hundertfach zersprenkelt, aus den Häusern im Grund. Das Kapellenglöckchen mahnte mit klagendem Wimmern zur Frühmesse, vom Bahnhof her funkelten rote und grüne Sterne, und gleich darauf flammten daneben die Scheiben der Fabrik in dem kalten, bläulichen Glanze des elektrischen Lichtes auf. Wie ein Geisterschloß stand der hochragende Bau mit seinen vielen, mondhell von innen bestrahlten Fenstern vor der schwarzen, unbestimmt rauschenden Masse des Bergwalds, in dem noch die Fledermäuse irrten und die Käuzchen jammerten und johlten, bis das Leben des hellen Tages sie vertrieb.

Das Leben war da! Unten im Tal und oben am Krankenbett. Die neue Zeit, gegen die die mittelalterliche Welt da oben sich so fremd und feindlich abschloß, hatte ihr Wunder getan und mit den paar Tropfen in dem kleinen Glasfläschchen dem Dasein erhalten, was schon der Vernichtung verfallen schien. Der Arzt sprach es nicht aus, aber sie merkte es deutlich an den ruhigeren Atemzügen, dem veränderten Gesichtsausdruck ihres Lieblings, daß das heilkräftige Elixier seine Wirkung übte und zusehends die Macht der Krankheit brach, wie sich im Laufe der Stunden der Morgen in den vollen Tag und der wieder in den Nachmittag verwandelte und aus den im Westen sich lösenden Wolken der erste helle Sonnenstrahl – der erste seit vielen grauen Regentagen – durch das Efeugeranke des Fensters das Zitterspiel seiner goldenen Flecken und Kringel auf dem Teppich, dann auf dem Bette selbst und dem von anderem Lockengold umrahmten Gesichtchen des ruhig schlafenden Kindes spielen ließ.

Der Doktor stand auf und trat zum Fenster, um den Vorhang vorzuziehen. »Es ist gut!« sprach er plötzlich mit lauterer Stimme als bisher. »Jetzt kann ich es Ihnen sagen: Er ist außer Gefahr. Die kritischen zwölf, fünfzehn Stunden liegen hinter uns. Ich seh' jetzt die Demarkationslinie im Hals und seh', daß alles gut ist.«

Sie sah ihn stumm und andächtig an und faltete die Hände. Ihre Augen wurden feucht.

»Ich verrat' es Ihnen deswegen gerade jetzt . . .« fuhr er fort, ». . . weil's jetzt heißt: ›Ablösung vor!‹ Da fährt Ihr Wagen unten in den Hof.«

Sie sprang auf. »Mit meinem Mann?«

»Nein. Gott weiß, wo der bleibt! Der Physikus sitzt allein darin. Er hat die Depesche bekommen, die die alten Herren heute morgen an ihn geschickt haben.«

Gleich darauf trat der Kreisarzt in das Zimmer. Ein ältlicher Junggeselle mit weingerötetem Gesicht, bekannt wegen seiner sonderbaren Grillen, seiner Grobheit und nicht minder wegen seiner geschickten und gewissenhaften Behandlung. Er blieb am Eingang verdutzt stehen. »Da ist ja der Kollege!« sagte er. »Warum ruft man denn mich, Frau Gräfin?«

Sie ging ihm entgegen. »Mein Mann wollte es! Haben Sie ihn denn nicht drüben getroffen?«

»Ah bah! Ich war die ganze Nacht und den halben Tag draußen, bei 'nem kranken Hofbauern, und bin wegen dem Dreckwetter auf 'nem Umweg heimgefahren. Und wie ich an der Post vorbeikomm', hebt einer die Depesche da hoch und schreit: ›Heute morgen is die für Sie gekomme! Wir suche sie überall!‹ – No – ich les' die und bin gar nicht erst nach Haus – denn da hätten mei' Schwester und all die Weibsleut' ein gottjämmerliches Geschrei gemacht, wenn sie gehört hätten, daß es heut über'n Neckar geht – sondern ich bin gleich 'runter zum Fluß, hab' vier tüchtige Fischer zusammengetrommelt – zahlen haben sie sich ordentlich lassen, die Schoten! – und nix wie 'nüwwer! Drüben war dann schon der Wagen! Da hat mir der Fährmann freilich erzählt, der Herr Graf sei heute nacht auf die andere Seit', aber gesehen hab' ich nichts von ihm!«

»Das ist ja so ganz natürlich!« sagte der Doktor. »Die Hauptsache ist, daß Sie da sind und die weitere Behandlung übernehmen, denn zu mir hat der Herr Graf kein rechtes Zutrauen! Ich hab' aber doch eingreifen müssen. Denn jetzt, wie Sie gekommen sind, wär's schon zu spät gewesen. Also hören Sie 'mal!«

Er zog ihn in eine Ecke und erläuterte ihm in einem kurzen gedämpften Gespräch den Stand der Krankheit. Dann trat der alte Physikus an das Lager des Kleinen und nickte nachdenklich. »Gut is!« sprach er zu der Gräfin. »Wenn der kleine Prinz wieder gesund 'rumläuft, soll er sich nur bei meinem Kollegen da drüben bedanken. Ich kann mir kaum mehr ein Verdienst daran zuschreiben!«

»Ich glaub' fast, der Kollege gönnt mir das bißchen Verdienst gar nicht!« Der Kassenarzt griff gleichmütig nach Hut und Stock. »Na – das nächste Mal sind Sie an der Reihe, Herr Physikus! Guten Morgen, Frau Gräfin.«

Er ging hinaus. Sie eilte ihm nach und schloß die Türe hinter sich. Draußen, auf dem einsamen Flur, erfaßte sie seine beiden Hände und schaute ihm stumm ins Gesicht.

Er nickte. »Ja – ja«, sagte er. »Jetzt haben wir beide unsere Prüfung hinter uns. Sie und ich! Sie haben recht. Wenn es an einen kommt, muß man's durchfechten, wie wir's heute nacht als zwei tapfere Kameraden getan haben, daß keiner sich vor dem anderen zu schämen braucht. Ich will jetzt auch bald ganz fort von hier. Der Ort ist mir verleidet – und gar, wenn Sie nicht mehr hier sind! Gott weiß, wann wir uns wiedersehen! Aber ich lass' nicht ab – das dürfen Sie mir glauben, und bis dahin: leben Sie wohl!«



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