Rudolph Stratz
Die ewige Burg
Rudolph Stratz

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XIV.

Der Doktor lachte und sah im Weitergehen auf die Uhr. Es war nahe an halb Elf. Etwas erschrocken beschleunigte er seine Schritte. Es fiel ihm ein, daß er gestern im Scherz versprochen hatte, von zehn Uhr ab die Bazillen für den hohen Besuch vom Schlosse bereit zu halten.

Freilich – wenn eine Dame sich auf zehn Uhr anmeldet, erscheint sie besten Falles gegen Mittag. Der Gedanke beruhigte ihn wieder. Aber als er eben sein Laboratorium erreichte, sah er schon von der anderen Seite Wera quer über die Straße kommen. Den Diener hinter sich, ging sie mit ihrem leichten flüchtigen Schritt rasch des Weges wie sonst. Aber ihr Gesicht zeigte einen veränderten, unruhigen Ausdruck.

Gewohnt, daß alle Vorüberkommenden ihr auswichen, hob sie den Blick nicht von dem kotigen, mit Wasserlachen bedeckten Boden, über den sie sich ihren Pfad suchte, und blieb plötzlich beinahe erschrocken vor dem Kassenarzt stehen.

Jetzt erst, wo er den Schlapphut zum Gruße lüftete, sah er durch ihren Schleier hindurch, wie bleich sie war.

»Es ist doch nichts geschehen?« fragte er schnell. »Ihr Kleiner ist doch nicht schlimmer?«

»Nein – Gott sei Dank! Ich glaube nicht!«

»Kein Fieber?«

»Ein wenig Hitze doch!«

»Und im Hals?« Er zögerte. »Da haben Sie nichts bemerkt?«

»Nein, gar nichts! Das ist sicher! Ich und Elise, wir haben vorhin erst mit einem Löffel und einer Kerze ganz genau nachgesehen und nichts Weißes gefunden.«

Das beruhigte ihn. »Um so besser«, sagte er. »Ich komme nachher selber hinauf. Aber was haben Sie denn dann, Frau Gräfin? Sie machen ja ein Gesicht, als ob die Welt einstürzen sollte?«

Sie erwiderte nicht darauf. »Also das ist Ihr neuer Arbeitsraum?« fragte sie gepreßt.

»Ja! Kommen Sie doch herein! Sie können doch nicht hier im Regen stehen! Da – durch die Scheiben schauen Sie schon, was für Sehenswürdigkeiten Sie drinnen erwarten! Die Präparate sind jetzt militärisch geordnet, die Schüsselchen und Näpfchen blitzblank, die Flaschen mit Farbstoff malerisch gruppiert – rot, grün, blau und die weißen Paraffinblöcke darüber, eine wahre Farbenpracht. Und dann der schöne, große, neue Arbeitstisch mit meinem Zeißschen Mikroskop und dem Mikrotom! Das kennen Sie ja alles schon von früher. Und meine Bazillen schließlich auch! Wenn Sie wollen, zeige ich Ihnen wieder einmal Ihre Lieblinge, die Cholerakommas! Die sind munterer als je und wuseln unter dem Mikroskop schwärzlich und zwecklos durcheinander, genau wie die Menschen draußen auf dem Festplatz.«

»Die sieht man deutlich«, fuhr er fort, da sie schwieg und stehen blieb. »Die hat Koch gründlich aus ihrem Inkognito herausgeholt und gezwungen, Farbe zu bekennen. Aber mich interessiert mehr das, was man noch nicht sieht und noch nicht weiß – was man erst, noch halb im Zweifel, zu sehen glaubt. Ich bin daran, Gräfin – ich fühl' es ganz deutlich – ich bin auf dem rechten Wege. Immer klarer durchschau' ich von Tag zu Tag eines unserer großen Probleme! . . . den Krebserreger, den so viele suchen und noch keiner festgestellt hat. Vielleicht bin ich doch der erste, dem es glückt.«

»Das wünschte ich Ihnen von Herzen!« sagte sie halblaut, aber ihrer Stimme fehlte die warme Anteilnahme, die sie sonst seinen wissenschaftlichen Plänen entgegenbrachte.

Er nickte. »Möglich, daß mir darin doch noch einer zuvorkommt. Das ist unberechenbar. Denn von Paris bis Tokio sitzen überall die Kollegen über ihrem Mikroskop und blinzeln, ob sie nicht irgendwie das große Los gewinnen. Vielleicht ist's eben jetzt, in diesem Augenblick gefallen. Aber was ich weiß, das ist, daß ich trotzdem durchdringen werde! Wenn nicht damit, dann mit etwas anderem. Ich habe mehr als ein Eisen im Feuer! Passen Sie auf, Gräfin, was ich in zehn Jahren für ein berühmter Mann bin! Professor an einer Universität, eine Leuchte der Wissenschaft und hoffentlich auch schon angehender Millionär. Das gehört auch dazu. Dann mag ein anderer den Bauern hier die Kröpfe kurieren.«

»Aber woher wissen Sie das alles so genau?«

Er lachte – ein tiefes, beinahe unwirsches Bauernlachen aus breiter Brust. »Weil ich ich bin! Klüger als die meisten, mit Nerven wie ein Pferd und einem Willen – da könnten zehn andere sich drein teilen, und es bleibt noch ein Rest übrig. Und vor allem mit der unumstößlichen angeborenen Sicherheit da innen: ›Du gehst deinen Weg!‹ Deswegen bin ich auch ganz ruhig und zufrieden bei all dem Hundeleben als Dorfarzt. Ja, machen Sie nur so große Augen, Sie arme verwunschene Gräfin vom Schloß! Ihr da oben – Ihr ahnt freilich nicht, daß es noch Leute gibt, wie es auch eure Vorfahren selber waren – Leute, die einfach ihre Fäuste brauchen und in das Gedränge hineinrufen: ›Platz da! Jetzt komm' ich!‹ Davon soll man freilich nicht reden, sondern es tun. Treten Sie doch ein! Dann zeig' ich Ihnen, was ich in der letzten Woche wieder vor mich gebracht hab'. Sie verstehen zwar kein Wort davon, aber es macht mir doch Spaß, es Ihnen zu erklären.«

Sie schüttelte das Haupt. »Seien Sie nicht böse! Heute nicht. Ich habe etwas anderes mit Ihnen zu reden, etwas sehr Ernstes, das mich betrifft und mein ganzes Leben. Da drinnen möchte ich es Ihnen nicht sagen, in Ihren vier Wänden.«

»Herrgott, Gräfin – jeder Mensch, der vorbei geht, schaut doch durch die breiten Scheiben herein. Und da steht ja auch noch der dicke Tagedieb, der Lakai. Der Kerl ärgert mich ohnedies mit seinem Ohrfeigengesicht jedesmal, wenn ich ihn anschau'.«

»Das ist es ja auch nicht, aber ich selbst fühle mich befangen. Ich muß ganz frei sein, wenn ich jetzt mit Ihnen rede.«

»Ja – was ist denn nur passiert?«

»Wie ich Ihnen sage – etwas sehr Ernstes. Sehen Sie, Doktor: Bisher haben wir ja meist miteinander gescherzt oder vielmehr Sie haben sich über mich lustig gemacht, und ich hab' mich womöglich revanchiert, und innerlich waren wir dabei vielleicht manchmal doch ein bißchen anders aufgelegt. Denn wir wissen ja beide genau, wie ernst wir beide uns nehmen. Und jetzt muß sich das zeigen! Jetzt suche ich in Ihnen den Freund – beinahe den einzigen, den ich hab' – einen Freund, dem ich mein Herz ausschütten kann und der mir dann nach bestem Wissen und Gewissen seinen Rat gibt.«

Er nickte. »Also wohin?« fragte er.

»Irgendwohin in den Wald, wo man frei gehen und atmen kann. Nein, nicht nach dem Schloß zu. Lieber nach der anderen Seite . . . auf unserem gewohnten Spazierweg.«

Er zögerte. »Dann schicken Sie aber Ihren Lakaien fort. Ich kann es nicht leiden, wenn so ein Esel hinter einem hertrottet. Freilich werden dann die Leute wieder sagen . . .«

»Was liegt mir an den Leuten?« unterbrach sie ihn ungeduldig.

»Und der Regen? Es tropft noch gehörig.«

»Meinetwegen soll es regnen, mir ist alles gleich.«

»Also gut, dann kommen Sie!«

Sie gab dem Diener einen Wink, zurückzubleiben, und ging schweigend mit gesenktem Kopf neben ihm die Straße entlang. Ihre Schritte wurden unwillkürlich immer rascher. Sie eilte, dem Dorfe und den Menschen zu entfliehen.

»Nun?« fragte er nach einer Weile.

»Nein – oben! Wenn wir in der freien Luft sind. Auf der Höhe!«

Unten in dem Tale merkte man wenig von der Gewalt des Märzwinds. Es war mehr ein unbestimmtes Brausen allüberall, ein zorniger Widerhall rings in der Runde, wo nur die Wildwasser schäumten und abgerissene Äste das am Boden faulende Herbstlaub bedeckten.

»Frühlingsanfang«, sagte der Arzt und drückte sich den Hut fester in die Stirne. »Die Tag- und Nachtgleiche. Man fühlt förmlich das neue Leben. Jetzt gibt es drüben wieder Hochwasser im Neckar und hier Erdrutsche und umgestürzte Bäume und weggewaschene Äcker . . . die Dichter sollten sich den Frühling in den Bergen nur einmal aus der Nähe ansehen.«

Am Wege standen zwei Männer. Der Forellenfischer in seinen hohen Transtiefeln, der nachdenklich den angeschwollenen, erbsengelb gefärbten Bach betrachtete, und neben ihm der lange schwäbische Flößerknecht.

»Alterle!« sprach der Fischer warnend. »Ich rat' dir: mach', daß du 'nunner kummst und übern Neckar, so lang's noch Zeit is. Sie hawwe schon telegraphiert von Heilbronn. Das Wasser steigt drei Fuß in der Stund! 's war geschtern schon alles uff'm Fluß voll vun Holz und Stroh und Balke. Heut kumme die Dachfirste und Hundehütte und das tote Vieh hinnerhergeschwomme – wenn net gar aach Mensche! Spring, daß du die Fähre noch erwischst, solang' als sie geht. Nachher is's zu schpät. Do kannscht nimmer 'nüwwer in die Schtadt.«

Der Flößer murmelte etwas Unverständliches. Sein Kopf schien schwer und trübe von dem gestrigen Abendtrunk. Aus verschwimmenden Augen starrte er, ohne zu grüßen, die beiden vorübergehenden an und folgte ihnen, gedankenlos gähnend, mit den Blicken, wie sie langsam, deutlich durch den Hochwald erkennbar, zu einer kahlen Anhöhe über dem Dorfe emporstiegen, einem Aussichtspunkt, den ein Rindenhäuschen krönte.

Nun waren sie oben auf der Waldblöße. Über dem welken Buschwerk, den verfaulten Baumstümpfen flatterte krächzend ein Krähenschwarm auf. Sein heiseres Geschrei übertönte das Pfeifen des Windes und das Knarren der laublos hin und her schwankenden Bäume.

Hoch über den Krähen zog der Wolkenflug eilig, als könne er es nicht erwarten, den segnenden, befruchtenden Tau über die schlafenden Länder hinzusprühen. Ringsum ein brünstiges Brausen und Werden – ein zorniges Ringen aus Winter und Nacht hervor zu neuem Leben.

»Also ist's endlich 'mal zu der Aussprache gekommen?« fragte der Doktor, ganz unvermittelt das Schweigen brechend.

Sie sah ihn überrascht an. »Woher wissen Sie denn das?«

»Das ist wahrhaftig nicht schwer zu erraten, Gräfin. Seien Sie froh, daß es so weit ist. Es muß ja gräßlich langweilig sein, sich Tag für Tag dasselbe vorzulügen!«

»Das ist es auch!« sagte sie. »Und ich bin es müde. Aber ehe wir weitersprechen, ein Wort: Wenn ich Sie jetzt um Ihren Rat und Ihre Meinung frage, so darf, wie es bisher war, kein Wort zwischen uns fallen, was mein Mann nicht hören könnte. Verstehen Sie, was ich meine?«

»Ja, also, was gibt's?«

»Sehr einfach. Ich soll wo anders eingesperrt werden! Das Gemäuer da oben ist ja äußerlich sehr fest und dick, aber es scheint meiner Verwandtschaft nicht mehr sicher genug. Den ganzen Tag haben sie gestern über mich beraten. Sie können sich den Kongreß vorstellen: die richtige Mischung! Die Frömmigkeit vertritt mein Vater und mein hochwürdiger Onkel aus Rom – die preußische Disziplin der Onkel aus Potsdam – und weil die beiden von Frauen nicht viel verstehen, gibt auch der dritte, der gottlose alte Onkel aus Paris, den ich sonst noch am ersten leiden mag, seinen Senf dazu . . .«

»Und was ist beschlossen?«

»Luftveränderung. Ich soll jetzt in einen bunteren Käfig – in Italien, an den Seen. Und im übrigen bleibt alles beim alten! Einsamkeit, Stumpfsinn, Schweigen. Passen Sie auf: In einem halben Jahr bin ich wieder so weit, daß ich den Tag über am Ufer steh' und angle, und alles hier – das Aufwachen der letzten Monate, das Sich-Aufrütteln, alles war vergebens.«

»Fürchten Sie das nicht, Gräfin. Was werden will, das wächst und läßt sich nicht beirren. Sie sind ein denkender Mensch geworden und bleiben es. Und wenn Sie heute dem Entschlusse aus dem Wege gehen, so klopft er in vier Wochen eben wieder bei Ihnen an und immer wieder . . .«

»Welcher Entschluß?«

Er zuckte die Achseln und schwieg.

»Sie sagen – ich sei ein denkender Mensch geworden!« begann sie wieder. »Gut – durch Sie! Durch den Zufall, daß ich Sie kennen lernte. Wenn wir uns nun trennen – denn ich soll ja auf viele Jahre von hier fort – dann kann ich mich allein nicht weiterfinden, denn ich kenne mich ja nicht aus. Ich weiß ja noch viel zu wenig. Es ist ja alles erst so kurze Zeit her . . . und auch meine Willenskraft ist ja noch so jung. Ich werde müde ohne Ihren derben Schlag auf die Schulter und Ihr derbes Vorwärts! Müde und mutlos. Ich sehe schon den Tag, wo wieder die Häkelei und die Modenzeitung sich statt unserer Bücher auf meinem Tische breit machen und ich das wieder gründlich gelernt habe, was sie mir eben abgewöhnt haben – das Gähnen, das aus einem leeren Kopfe kommt.«

»Möglich wär's ja,« sagte er kurz und finster, »und schade wär's auch.«

»Und da möchte ich nun von Ihnen eine Antwort auf die Frage haben, die mich seit Wochen und Monaten, kurz, seit ich eben denke, beschäftigt. Sehen Sie, daß ich Pflichten habe nach außen – das ist klar. Als Frau und Mutter und Tochter, und was ich sonst noch bin. Gut! Aber nun kommt mir in letzter Zeit immer wieder der Zweifel: ›Hat man nicht auch Pflichten gegen sich selbst?‹«

»Natürlich!«

»Das sagen Sie, und ich sage es mir schließlich auch, daß man ein Mensch ist und nicht bloß ein Ding, das nach Belieben herumgestoßen wird und nur anderen dient. Aber nun kommt eben die eigentliche Frage: Wo ist die Grenze? Wieviel Pflichten ist man den anderen schuldig, und wieviel sich selbst?«

»Sich selbst alles und den anderen gar nichts.«

Sie blickte ihn erschrocken an.

»Ja, ja, Gräfin, das ist das große Geheimnis. ›Ich bin ich!‹ . . . Und weiter gibt's nichts.«

»Das . . . das begreife ich nicht ganz.« Sie schüttelte den Kopf. »Es gibt doch Pflichten, die . . .«

»Es gibt keine Pflichten, sondern nur natürliche Gesetze. Aus allen Büchern, die Sie lasen, müssen Sie doch erkannt haben, daß alles in der Welt nach eisernen, unabänderlichen Gesetzen, die keine Macht des Himmels und der Erde umstoßen kann, geschaffen ist und da ist und seine Bahn geht. Jedem Ding ist genau bestimmt, was es sein soll, und es hat nichts anderes zu tun, als das auch wirklich zu sein. Der Mensch auch! Sein Charakter ist ihm angeboren und wechselt nicht. Ihm hat er zu folgen, sowie er ihn erkannt hat. Das ist die einzige Pflicht – die Pflicht gegen sich selbst.«

»Dann wäre man ja aber ganz allein auf der Welt!«

»O nein, mit seinesgleichen. Nur mit denen, die anders sind, hat man nichts gemein und handelt wider die Natur, wenn man ihnen sein ›Ich‹ opfert. Das will die Natur nicht. Sie scheidet nicht erst mit Mühe die Dinge, damit sie sich gleich wieder planlos ineinander mengen. Sie haben aus Darwin gesehen, daß aller Fortschritt auf dem Sieg des Stärkeren über den Schwächeren beruht. Darum gehören die Starken rechts, die Schwachen links.«

»Und wenn man zu spät bereut, daß . . .«

»Man kann gar nichts bereuen, was man aus seinem eigensten Wesen heraus getan hat – denn das mußte eben sein, verbieten Sie doch dem Baum da, an dem Sie lehnen, weiter zu wachsen. Er wächst doch und kann nicht anders und macht sich keine Gewissensbisse daraus. Mit einem Wort: Sei, was du bist! Und tu, was du mußt! Das ist der ganze Zweck des Lebens und zugleich sein einziges Glück: daß man nämlich auf dem Platze steht, wo man hingehört.«

Sie erwiderte nichts.

»Nur freilich muß man das auch genau wissen, wer man ist«, fuhr er fort. »Es ist nicht leicht, wirklich zu sich selbst zu kommen. Die meisten leben nur so hin, besonders die Frauen. Neun Zehntel von euch sind da und wissen es selber nicht. Aber dann gibt es auch besonnene Leute, die sich sagen: ›Ich bin ich!‹ Und so einer kann auch andere aufrütteln. So hab' ich Sie wach gemacht!«

»Ich weiß nicht, ob ich's Ihnen danken soll . . .«

»Und wie! Es ist doch ein großer Unterschied, ob man eine Blume ist oder ein besonnener Mensch. Das werden Sie jetzt mit Gottes Hilfe, oder vielmehr – Sie sind's ja schon. Ich brauche Ihnen ja eigentlich gar nichts zu sagen. Es geht alles von selber seinen Gang.«

»Ich fürchte es auch!« sagte sie und starrte in die Ferne.

Er lachte. »Warum denn fürchten? Das natürlichste Ding auf der Welt, daß sich das Gesunde vom Moderigen loslöst? Daß man einfach, wenn einem die Stickluft zu sehr den Atem nimmt, die Türe von außen zumacht und in Gottes schöne Welt hinausgeht?«

Sie preßte die Lippen zusammen und blieb stumm.

»Wenn mich einer gefangensetzen wollte!« Er reckte die Schultern. »Ich tät' mich bedanken, und wenn man mir eine ganze Litanei von Pflichten vorerzählt. Sie können freilich sagen, daß Sie eine Frau sind und ich ein Mann. Aber sie sind ein Vollmensch, Sie gehören in die Freiheit.«

»Sie meinen also . . .« Sie senkte schweratmend den Blick zu Boden. »Ich soll einfach . . . einfach fort . . .«

»Nein, Sie sollen nicht fort, Sie müssen fort! Ob mit oder gegen Ihren Willen. Alles, was Sie sind und wie Sie werden und sich von Tag zu Tag weiter entwickeln, drängt Sie unaufhaltsam dazu. Und wenn Sie es heute niederkämpfen, ist es in vier Wochen wieder da und meldet sich immer wieder und immer stärker, bis endlich doch geschieht, was geschehen muß.«

Sie hob die Augen nicht empor. »Gedacht hab' ich schon oft daran, oft seit einiger Zeit. Aber ahnen Sie denn, was das heißt, mit der ganzen Vergangenheit, mit allem, was da war, brechen und . . .«

»Das heißt gar nichts! Was liegt mir an der Vergangenheit, wenn ich die Zukunft habe? Und gar Ihre Vergangenheit in Schlössern und Klöstern und was weiß ich für verräucherten Eulennestern? Das ist's auch nicht. Sie haben einfach noch Angst! Nicht vor den Menschen – das glaub' ich Ihnen – aber Sie trauen sich selber noch nicht recht. Sie sind sich selber noch so eine funkelnagelneue Bekanntschaft – ein ganz interessanter Mensch, der aber noch allerhand Geheimnisse an sich hat und vor dem man sich doch noch ein bißchen in acht nehmen muß. Liebe Freundin – dies Mißtrauen gegen sich selber müssen Sie sich ausreden, eher kommen Sie nicht weiter und quälen sich ohne Entscheidung hin. Das Schicksal schenkt Ihnen die Entscheidung doch nicht. Einmal im Leben müssen wir doch alle bei Gelegenheit die große Probe aufs Exempel machen – die Probe, ob die Rechnung stimmt und wir das sind, wofür wir uns halten. Das ist Ihnen noch beschieden, und mir wohl auch einmal.«

»Also, was soll ich tun?« fragte sie rasch und hob den Kopf hoch.

»Noch einmal? Was Sie müssen! Das wissen Sie besser als ich. Ich habe nichts damit zu tun und will es nicht. Gerade um Ihretwillen! Am letzten Ende der Dinge kann kein Mensch dem anderen helfen. Er muß aus sich heraus seinen Willen holen und handeln. Nur kein Mittelding – das allein sag' ich Ihnen – keine Verzögerung. Das nutzt nichts und ist eine Quälerei für alle. Es kommt doch immer wieder.«

»Und wenn ich es nun doch immer wieder überwinde . . .« Sie biß die Lippen zusammen. »Und wenn ich schließlich doch siegreich bleibe? . . .«

Er schlang die Hände ineinander und sah sie mitleidig an. »Und dann? Um Gottes willen, Sie ärmste Menschenseele – was ist denn dann gewonnen? Also denken Sie, ein Menschenalter sei vergangen, und Sie sitzen wieder da oben im Schloß und fühlen den Herbst kommen und ein Frösteln in allen Gliedern, und fragen sich in einer Ihrer vierundzwanzig Mußestunden am Tage: Was ist nun eigentlich gewesen? Und die Antwort: Nichts, nichts als so eine dumpfe Erinnerung aus der Zeit, in der wir jetzt sind! So ein undeutliches Bild einer flotten, klugen, jungen Frau voll Lebenskraft und Lebenslust bis in die Fingerspitzen, von der Sie kaum mehr begreifen, daß Sie, die alte und ein bißchen stumpf gewordene Dame, das einmal selbst gewesen sind – und ein ebenso verschwommenes Bild eines armen Bauerndoktors, der nach seinem besten Wissen – und dumm war der Kerl wahrhaftig nicht – Ihr Bestes gewollt hat. Leider vergebens! Da sitzen Sie dann und niemand dankt es Ihnen. Niemand denkt daran, daß Sie überhaupt etwas Besonderes geleistet haben. Sie haben ja nur alle Ihre ›Pflichten‹ erfüllt.«

»Aber glauben Sie ja nicht,« fuhr er fort, »daß ich dann etwa als weißbärtiger Geheimrat, Exzellenz und Hausfreund neben Ihnen sitze und bei getrockneten Veilchen und blauen Bändern in Rührung schwelge. So bin ich nicht! Ich bin bis dahin durch und hab', was ich brauche. Sehen Sie, wie ich dem Stein da einen Schubs gebe, und er den Abhang hinunterspringt in immer größeren Sätzen, ganz ungeschlacht durch dick und dünn, immer weiter – so geb' ich mir selber auch einen Schubs durchs Leben und kann mich unterwegs nicht lange aufhalten, so wenig wie der Stein stillstehen und sich ausschnaufen kann.

Also handeln Sie rasch und handeln Sie bald!« Er faßte ihre Hand. »Ich könnt' Ihnen ja leicht von meiner Willenskraft etwas mit auf den Weg geben – so einen elektrischen Schlag von Energie, wie wir uns jetzt an der Hand halten – daß Sie plötzlich ein ganz anderer Mensch sind und den Kopf hochnehmen und fragen: ›Kinder, was kostet die Welt?‹ Aber ich tu's nicht, denn das wäre eben dann mein Wille, der dort auf euer Grafenschloß hinaufsteigt, aber nicht der Ihre. Und sie sollen sich selber frei machen . . . von allem!«

Sie zog mit einer hastigen Bewegung ihre Hand zurück und wandte sich, ohne ihn anzuschauen, zum Gehen. »Ich will mit ihm reden«, murmelte sie.

»Jetzt gleich?«

»Ja.«



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