Carl Spitteler
Conrad der Leutnant
Carl Spitteler

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Während man sich umsonst bemühte, den Alten von hinnen zu schaffen, wandelte sich sein Toben jählings zum wehklagenden Wimmern. Er hatte seine Frau, die «Pfauen»-Wirtin, bemerkt, die von der Dorfseite um die Hausecke mit geknickten Knien mehr rutschend als gehend sich an der Wand entlang tastete. «Ist's denn wirklich wahr?» flehte die Angst aus ihren erloschenen Augen.

Hierauf, wie ihr das unzweideutige Bild: die Ansammlung des Volkes um eine nämliche unsichtbare böse Stelle, der Schatten des Unheils, der von dorther jedes Antlitz verdüsterte, die entsetzliche Wahrheit bestätigte, krampfte sie die Finger in das Gestein, um nicht zu fallen.

Anna flog ihr entgegen, ihr nach bewegte sich schwerfällig der Alte, überholt von mitleidigem Gesinde und Nachbarvolk.

Sie fiel, aber in befreundete Arme. «Conrad», winselte sie, «warum hast du mir das angetan?»

Betroffen tauschten die Herumstehenden Blicke. Und Bertha wandte sich zu Cathri um: «Es ist, als ob sie glaubte, er habe sich selber ein Leid zugefügt», flüsterte sie.

«Das böse Gewissen», versetzte Cathri bitter.

Und das sagte sie in ihrer rückhaltslosen Weise mit lauter Stimme. Abermals drückte Anna einen Blick gegen sie ab, diesmal einen drohenden.

Der Alte aber entschuldigte sich ehrfurchtsam vor dem mütterlichen Schmerze.

«Ich hatte ihm ja alles gewährt, was er nur verlangte. Ich kann nicht begreifen. Er hatte durchaus nicht die mindeste Ursache. Es muß ihn im Streithandel ein Stich getroffen haben, wie man erzählt.»

Der Doktor, der Feuerleutnant, nebst andern, welche Freundschaft oder Gemüt oder auch der Zufall der Nähe dazu berief, nahmen die «Pfauen»-Wirtin auf und förderten sie halb schiebend, halb tragend an dem Leichnam des Sohnes vorbei, den sie angelegentlich mit ihren Leibern verdeckten, der Haustüre entgegen. Der Vater hinkte greifend nach, Anna wachte zur Seite über beide. Es war wie ein Leichenzug.

«Ich muß doch Abschied von ihm nehmen; ich muß ihn doch um Verzeihung bitten», jammerte die «Pfauen»-Wirtin.

«Ja, jetzt hat sie Grund zum Jammern und Seufzen», rief Cathri unwillkürlich, im Drange der Wahrheit.

Nun aber riß sich Anna los und stürzte ihr entgegen: «Mensch ohne Gemüt, Weib ohne Herz!» schrie sie ihr ins Gesicht. «Egoistin! härter als Stein und Eisen! Ihr, Ihr, und niemand anders, habt ihn auf dem Gewissen! Statt ihn zurückzuhalten, habt Ihr ihn noch angestachelt!»

Cathri maß die Gegnerin kaltblütig mit haßerfülltem Blick.

«Immer noch besser», entgegnete sie, «ein Unglück im Hause als ein Verbrechen.»

«Wie meint Ihr das?» kreischte Anna außer sich.

«Ich meine», erwiderte Cathri fest, «wenn es doch einmal geschehen mußte, immer noch besser von fremder Hand als...» Hier stockte sie.

«Als?» verlangte Anna. «Als?» Dann plötzlich, ohne die Ergänzung abzuwarten: «Fort von hier! Heuchlerin! Intrigantin! Mannsschleicherin! Fort! Fort noch in dieser Stunde! Ich, als Tochter des Hauses, befehle Euch, Euch, der Dienerin: Fort aus dem ‹Pfauen›, und zwar augenblicklich!»

Cathri richtete sich hoch auf: «Ich verwahre mich ausdrücklich dagegen», sprach sie, «daß man mich Knall und Fall von hinnen jagt, wie eine ungetreue Magd, mit Schimpf und Schande, als ob ich gestohlen hätte. Es ist nicht wahr, daß ich irgendwelche eigennützige Absicht hierher trug. Und vor dem letzten Zuge mich zu entlassen, dazu hat niemand das Recht, nachdem man mich bis zum letzten Zuge gedungen hat. Übrigens, meinetwegen, ich habe nichts dagegen, jawohl, ich gehe. Aber nicht etwa, weil Ihr mir's befehlt, denn Ihr habt kein Recht dazu, sondern freiwillig, weil mir vor diesem gottverlassenen Hause des Hasses und des Haders ekelt, weil ich lieber bei bettelarmen Leuten in der geringsten Strohhütte dienen möchte, wo der Friede wohnt, als hier unter dem protzigen Ziegeldach im Unfrieden. Verzehrt Euch in Reue! Schiebt einander gegenseitig die Verantwortlichkeit zu! Ich ziehe meiner Wege. Das aber sag' ich: Eure Schuld ist's, Eure Schuld und einzig Eure Schuld, nicht meine. Hätte ihm nicht jemand Gift eingegeben, daß er inwendig zu tun hatte, niemand hätte ihm das mindeste anhaben können. Übrigens, es ist gekommen, wie es kommen mußte. Geschah es heute nicht, so wäre es morgen oder übermorgen geschehen, wenn nicht auf diese Art, auf jene und möglicherweise noch schlimmere.»

Damit warf sie trotzig den Kopf in den Nacken und stolzierte ins Haus nach dem Portierstübchen, schleuderte dort das Geldtäschchen weg, setzte den Strohhut auf, rückte ihn vor dem Spiegel zurecht und wandte sich abzuziehen.

Allein die Köchin, die alte treue Lisabeth, vertrat ihr den Weg.

«Euer Lohn», mahnte sie mit eisiger Stimme, indem sie ihr so beleidigend als möglich ein Goldstück entgegenhielt.

Cathri brauste in heller Empörung auf, bereit, die Hand wegzustoßen. Doch sofort besann sie sich: «Ich habe den Lohn redlich mit fleißiger Arbeit verdient», sprach sie, «ich brauche mich seiner nicht zu schämen. Es ist kein Geschenk, was ich annehme.» Sie nahm also das Goldstück und steckte es ein. Hernach schritt sie in aufrechter Haltung zur Türe hinaus auf die Terrasse.

Vor dem Volke angelangt, verkündete sie mit lauter Stimme: «Ich rufe Gott und mein Gewissen zu Zeugen an, daß man mir unrecht tut, daß ich diese schmähliche Behandlung nicht verdient habe.»

In diesem Augenblick trugen sie Conrads Leichnam ins Haus, an ihrer Seite vorbei. Zwar den Rumpf verdeckten die Träger; auch wandte sie sich unwillkürlich ab, von Schmerz und Schauder überwältigt; nichtsdestoweniger streifte ihr widerwilliger Blick den Stiefel des linken Beins, dessen herabhängendes Ende auf dem Boden schleifte, und jählings trat ihr bei diesem Anblick das Bild ihres Baschi vor Augen, wie sie ihn auf der Bahre heimbrachten. Also von doppeltem Leid gleichzeitig überfallen, zersprang ihre starke Fassung, so daß ihr das übermäßige Elend in heulendem Tonschwall aus dem Herzen stürzte. Und also heulend schritt sie mitten durch die Menge, in der Richtung nach dem Rebberg, wo der Verkehr am spärlichsten war, stolz und bolzaufrecht wie immer, und ohne jemandem einen Blick oder Gruß zu verabfolgen.

Erschüttert machte das Volk ihr Platz, mit gemischten Gefühlen, zugleich bewundernd und grausend, teilnehmend und verdammend. Es war anzuschauen wie ein Strafgericht und doch wieder wie jemand, der in überlegener Unschuld, unberührt von dem Urteil der Menschen, geraden Weges einherwandelt.

Josephine und Bertha eilten ihr nach. «Ihr müßt das nicht so wörtlich auffassen», tröstete Josephine, «es ist nicht so buchstäblich gemeint.»

«Ihr dürft nicht einen so strengen Maßstab anlegen», mahnte Bertha, «Ihr müßt dem Schmerze der Schwester auch etwas zugute halten.»

Die übrigen Kellnerinnen schauten kühl und fremd.

 

Cathri strebte unaufhaltsam vorwärts. Beim Holzschuppen trat sie in die Einsamkeit. Sie war kalt, die Einsamkeit, trostlos kalt; und weit, endlos weit; und leer, zum Verzweifeln leer, als hätte sie sich irgendwo in der Ewigkeit verloren.

Bei der Kegelbahn begegneten ihr zwei schwebende Gestalten, vereint zum Paar, die Hände verschlungen, die traumschönen Häupter strahlend vor Glück und Hoffnung: sie und Conrad. Vor diesem Bilde schmolz ihre Seele, daß sie meinte, das überquellende, ungebärdige Weh wolle sie zu Boden werfen, auf das geweihte Fleckchen Erde, wo sie vor einer kurzen Stunde zusammen einen Bundesbaum gepflanzt, mit lustigen Wimpeln und Fähnchen. Wie mit hundert starken Armen der Natur zog es sie nieder, damit sie dort auf der heiligen Stelle ihr Leid ausweine, demütig, sehnsüchtig und inbrünstig. Aber der Stolz hielt sie aufrecht, und der Trotz stieß sie von hinnen. Sie verbarg das Gesicht in den Arm und weinte in den Ellbogen.

«Und gerade in einem solchen Augenblick», schluchzte sie, «wo man meint – wo man glaubt – wo man das Glück...»

Dann tauchte sie in die Dämmerung, längs dem Rebberg hinab in gleichmäßigem Geschwindschritte, den Abend mit dem tiefen, sonoren Wohlklang ihres Trauergeheuls erfüllend. Bald aber entstieg dem Schmerze der Zorn. «Warum kommt man denn», meuterte sie, «und sucht mich auf und bittet und bettelt himmelhoch, daß ich die Gefälligkeit haben möchte? Ich war ja im Kurbad vortrefflich aufgehoben. Dort ehrt man mich und weiß mich zu schätzen. Ja, wenn ich wollte, wenn ich nur im mindesten ein Zeichen gäbe! – ‹Intrigantin! – Mannsschleicherin!› Wer? Ich? Ich bin nicht darauf angewiesen, Herrschaft zu erschleichen; ich könnte sie auf dem Teller haben und noch dazu eine vornehmere als den ‹Pfauen› – und habe auch nicht nötig, einen Mann zu erschnappen-, sie bieten sich mir ja alle an! Aber ist denn das meine Schuld? Ich bin wahrlich nicht diejenige, die ihnen entgegenkommt. Ich begehre nur einen einzigen, den ich gern habe und den ich achten kann; und dazu habe ich das heilige Recht, so gut wie jede andere. – Es ist wahr, sie hat die Vollmacht, sie hat die gesetzliche Befugnis und Berechtigung, sie kann mir das Haus verbieten, obschon, obschon – es kostete mich ja bloß ein Wörtchen, und er stellte mich öffentlich als seine Braut vor, er hatte ja die Absicht! Ich hätte dann sehen mögen, wer mir meinen gebührenden Platz an der Leiche meines Bräutigams verwehrt hätte! Ihn nicht einmal mehr sehen und anrühren zu dürfen! nicht einmal einen Kuß auf seine bleichen Lippen zu drücken! – den ersten und letzten! – Doch verlobt oder nicht verlobt, gleichviel, es gibt eine Wahrheit und eine Treue. Ein Wort ist ein Wort, ob nun öffentlich gesprochen oder unter vier Augen. Und wenn einmal zwei Worte sich gekreuzt haben, unter rechtschaffenen Menschen, so gilt es, auch ohne Ring und Zeugen oder Pfarrer und Zivilpfarrer. Mir hat er das Versprechen gegeben, das heißt, auf ehrlich, er gehört mir, mir allein, in alle Ewigkeit, tot oder lebendig, und keiner anderen, mag sie noch so sehr einen lächerlichen Abgott aus ihm machen! Daß er mich zuletzt nicht wiedererkannte, das beweist nichts, gar nichts, nicht das mindeste, denn das begreift sich doch: wer mit dem Tode zu kämpfen hat, der hat genug zu tun, er kann nicht den Geist auswärts beschäftigen.»

Dann kam ein neuer Schub von Jammer, so daß sie laut aufstöhnte; in das Stöhnen aber mischte der Zorn bellende Laute. Plötzlich hielt sie an und drehte sich um, das Gesicht nach dem «Pfauen» emporgerichtet.

«Übrigens, ist sie denn verlobt?» Sie schloß gewaltsam die Lippen und zerdrückte ein böses Wort zweimal und dreimal. Endlich konnte sie sich's doch nicht versagen: «Wenn eine Gewisse wüßte», entfuhr es ihr, «was ein gewisser Doktor mir für Augen gemacht hat.» – Hernach reiste sie weiter. – «Ich gehe einfach wieder ins Kurbad», schloß sie ab.

Unten im Rank, wo die Herrlisdörferreben sich nach den Rubisthaler Flühen zurückziehen, folgte ihr ein kicherndes Hohngelächter aus dem Weinberg.

Kein Zweifel, es waren die Wagginger, denn nur der Feind triumphiert über ein Weh. Flugs machte sie Front und wetterte mit mähenden Armen wie der Pfarrer in der Kirche eine Buß- und Karfreitagspredigt in den Weinberg: «Fluch und Schande über euch gottvergessene Mordbuben! Möge jedem von euch dereinst in der Sterbestunde das Gewissen in die Gurgel steigen, daß euch die Hölle, der ihr sicher nicht entrinnt, schon auf dieser Welt den Borst sengt und brenselt. Ich bete nicht, der Donner des Himmels möge euch erschlagen, denn unseres Herrgotts gesunder, reinlicher Blitz ist viel zu sauber für schmutzige Wiedehopfe eurer Gattung. Er würde ja zeitlebens stinken, der Blitz, wenn er euch anrührte! – Männer will das vorstellen? Männer, dieses krumme, mißgeborene Bastardgezücht, diese siechen Hämlinge ohne Mut, ohne Kraft, ohne Muskel, ohne Stimme? Aber getrost. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen, wie er ihn gestochen hat und wer ihn gestochen hat, und mit mir hundert andere. Man kennt ihn, und man kann ihn nennen. Der Matthiesen-Michel von Niederwaggingen ist's und niemand sonst. Ich habe ihm im Tanzsaal die Hand übers Maul geschlagen, ich werde ihm im Gerichtssaal den Zeigefinger in die Augen stecken und sagen: ‹Du bist's›, und ich mache mich anheischig, es eidlich zu beschwören. Und wenn – gesetzt der Fall – die eigene Familie nicht klagen will, so klage ich und gehe zum Staatsanwalt und lasse nicht nach und verlange Recht und Sühne. Und wenn er nicht will, so zwinge ich ihn mit seiner Pflicht und seinem Beruf und mit dem Regierungsrat und mit der Zeitung, bis er muß.»

Und als jetzt zur Warnung ein Kieselsteinchen an ihr vorbeitänzelte, ersprang sie über zwei Stapfeln das Mäuerlein, riß einen Stecken von den Reben und wies ihn drohend vor, wie man einem Hunde droht. «Eia, ich bin nur eine schwache Jungfrau», rief sie, «aber mit einem halben Dutzend eures Gelichters wollt' ich mir's im Notfall noch getrauen aufzunehmen.» Dann, nachdem sie eine Weile in der herausfordernden Stellung verharrt, schleuderte sie mit verächtlicher Gebärde den Stecken fort und zog ihres Weges, der Eisenbahnböschung entlang, dem Bahnhof zu.

Schlurpende Schritte hasteten ihr nach, und jemand tippte ihr auf die Schulter. Trotz der Dunkelheit erkannte sie den Oberwagginger Fürsprech.

«Ihr, Cathri, oder wie Ihr heißt, seid Ihr Euch denn aber auch der Verantwortlichkeit bewußt, was das sagen will, sein Gewissen mit einem Eide belasten?» munkelte er.

«Jawohl», antwortete sie höhnisch, ohne den Schritt zu verkürzen. Der Fürsprech zupfte sie am Rock.

«Ihr habt ja doch auch ein fühlendes Herz; Ihr werdet gewiß nicht unnötigerweise einen Menschen ins Unglück bringen wollen, der vielleicht mehr aus jugendlichem Übermut» – zugleich ließ er ein großes weißes Fünffrankenstück schimmern. Da versetzte sie ihm mit dem Ellenbogen einen Stoß in den Magen, daß das Geldstück auf dem Weggestein klimperte, wonach der Fürsprech schimpfend zurückblieb, um seinen Fünfliber zu fischen.


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