Carl Spitteler
Conrad der Leutnant
Carl Spitteler

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Als Anna zurückkehrte, mit einem Gefolge von Kellnerinnen, welche Fäßchen und Flaschen schleppten, zog er sie vertraulich beiseite. «Ich lasse den Vater aufs höflichste ersuchen, ob er uns die Ehre antun wolle, mit uns anzustoßen.»

Anna willfahrte mit zweifelnder Miene. In der Tat lautete der Bescheid abschlägig, wenn schon nicht unfreundlich. Der Vater lasse danken, meldete sie, allein er sei für heut zu müde und angegriffen. «In diesem Zustande jedoch darfst du dich nicht länger blicken lassen», fügte sie eifrig bei. «Schnell geh und wasch dich und kleide dich um.»

«Bah!» machte er gleichgültig. «Kriegszustand ist auch ein Zustand. Ich sehe genauso aus wie meine Kameraden. Keiner hat Anlaß, sich vor den andern zu schämen.»

«Mit Verlaub», entgegnete sie, «so sehen sie denn doch nicht aus, deine Kameraden», und zeigte auf seinen rechten Ärmel, der nur noch an einem Fetzen baumelte.

Er lachte: «So bring mir meinetwegen einen alten Waffenrock, der deckt alle Mängel. – Was macht die Mutter? Ist sie noch nicht heim? Weiß sie etwas? Was wird sie wohl dazu sagen? Trachte, daß du es bist, die es ihr zuerst mitteilt; du verstehst ja, es so vorzubringen, daß es nicht falsch aufgefaßt wird. Sag ihr, sie brauche sich nicht zu betrüben. Sie solle es bei mir gut haben, sowohl sie wie der Vater, so gut wie der König und die Königin am Schluß eines Märchens, inwendig und auswendig. Sag ihr das.»

 

Bald klangen die Becher und rauschte das Bankett. Gläser wurden angestoßen, Gesundheiten ausgerufen, Späße zum besten gegeben und, um den ruhmreichen Sieg wieder zu kosten, einzelne Vorfälle aus dem Tanzsaal geschildert, welche, durch den Festjubel geschaut, sämtlich komisch wirkten. Conrad schritt still von einem zum andern, nippte aus manchem Glas, pochte auf manche Schulter, drückte jedem seiner Waldishofer nochmals die Hand, diesmal von sich aus, außer Leutolf und dem Wachtmeister, die ohnehin zu ihm gehörten wie sein eigener Leib. «Heda, ihr Musikanten, setzt euch zu uns! Wer heute nicht mit mir hält, beleidigt mich.»

«Sie sollen uns doch etwas aufspielen», meinte Josephine keck. Ihr Einfall fand allgemeine Unterstützung, worauf die Musikanten umständlich ihre Kratzwaffen hervorkramten, bei deren bloßem Anblick schon die Feststimmung um eine Oktave höher stieg, im Vorgefühl des zu erwartenden Taktlärms.

 

«Nun, Cathri, wo ist denn der Teufel hingekommen, der auf dem Dache saß?» hatte Conrad auf der Zunge und wandte sich nach ihr um. Sie war nirgends in seiner Umgebung. Da erst fiel ihm auf, daß sie ihm schon seit geraumer Stunde abhanden gekommen war, ja sogar beim Glückwunsch gefehlt hatte. Verwundert suchte sie sein Blick, in beständig weiteren Kreisen. Endlich entdeckte er sie unter der Halle der Kegelbahn, regungslos mit angelehntem Rücken auf einer Bank sitzend, wie zum Photographieren, die Hände im Schoß und die Augen fest auf ihn gerichtet, wie ein Schuß aufs Ziel. Als er sie ansah, flüchtete sie schnell den Blick zur Seite, aber wie er wieder hinsah, hatte sie ihn von neuem angestarrt. Etwas Mildes, das ihrer bisherigen steinernen Härte widersprach, durchgeistigte ihre Gestalt, und er begriff, daß das Milde ihm gelte, ihm besonders, ihm ganz allein. Wie eine Rakete schoß es ihm da vom Herzen in den Kopf. Erst jagte er ein Glas Wein durch die Kehle, dann steuerte er stracks zu ihr hinüber.

Mancherlei Anreden luden ihn unterwegs ein; er ließ sich nicht aufhalten.

Doch der Portier hängte sich zudringlich an seine Fersen, katzbucklig, die Mütze zwischen den Fingern: «Herr ‹Pfauen›-Wirt», zischelte er, «sie sammeln sich wieder, unten im Rebberg.»

«Wer?»

«Die Wagginger.»

Conrad zuckte wegwerfend die Achseln und schritt fürbaß. Aber der Portier klebte: «Herr Leutnant, sie haben Frieden geschlossen und sich vereinigt, die Oberwagginger mit den Niederwaggingern. Sie wollen Euch überrumpeln.»

«Es ist noch Tag, und unsichtbar sind sie schwerlich.»

«Nichts für ungut, Herr Meister; sie lesen Steine im Rebberg zusammen, sie haben Euch Rache geschworen, Euch ganz besonders. Ich darf gar nicht wiederholen, was sie Euch angedroht haben...»

«Ja, wenn's auf den bösen Willen allein ankäme, so hätten sie mich längst aus der Welt geschafft. Aber wenn's mir gilt, so bin ich auch dabei. Genug davon.»

«Also muß ich denn jetzt wahrscheinlich meinen Platz im ‹Pfauen› verlieren, nachdem Ihr der Herr seid? Oder wolltet Ihr's vielleicht noch ein Wöchlein mit mir versuchen? Ich würde mir alle erdenkliche Mühe geben.»

«Davon ist morgen noch Zeit zu reden», antwortete Conrad und winkte ihm ab.

Cathri verharrte wie eine Bildsäule, während er ihr unternehmend entgegeneilte. «Nun also, Cathri», scherzte er, «wo ist der Teufel hingekommen, der heute morgen auf dem Dache saß? Der ist wahrscheinlich durch den Blitzableiter in die Hölle gefahren, wohin er auch gehört. Mut und Mann, seht Ihr, das ist immer die beste Arzenei gegen den Teufel. Um ihm jedoch auf ewig die Wiederkehr zu verleiden, will ich jetzt einen guten Geist ins Haus führen, einen guten Geist; wißt Ihr, wen ich damit meine?» Und da ihr Atem flatterte wie eine Möwe über dem stürmischen See, streckte er ihr bieder die Rechte dar.

«Topp, Cathri, heute ist aller guten Dinge Hochzeit! Wollen wir's gleich binden und siegeln?»

Errötend wand und krümmte sie sich. «Was würde Eure Schwester und Eure Mutter von mir denken?» stammelte sie ausweichend, indem sie sich erhob und mühsam abwendete.

«Was sie mögen!» entgegnete er lachend. «Bin ich doch jetzt selbständig und keinem Menschen mehr Rechenschaft schuldig.» Und mit schnellem Sprung ihren Arm ergreifend: «Ein guter Gedanke: Kommt, was meint Ihr, Cathri, ich stelle Euch ohne weiteres dem versammelten Volk als meine Braut vor?»

Ein Glücksschauer durchzuckte sie, daß sie verwirrt den Kopf senkte, dann widerstrebte sie unsicher: «Nicht so, nicht jetzt, am ersten Tag, daß wir uns kennen. Was denkt Ihr auch? Später vielleicht. Nur nicht heute. Ihr seid zu aufgeregt. Ihr spürt den Wein. Ihr wißt nicht, was Ihr tut. Es könnte Euch morgen wieder gereuen.»

«Gereuen? Mich? Morgen? Ich wüßte nicht, was ich tue? Wohlan, so will ich es Euch morgen noch einmal förmlicher sagen. Morgen vormittag zwischen zehn und elf Uhr im Kurbad. Stimmt die Zeit? Oder soll ich lieber später kommen?» Und da sie wortlos seufzte, fuhr er fort: «Also bleibt's dabei. Morgen um halb elf Uhr spätestens komme ich mit der Lissi ins Kurbad. Bis dahin auf Wiedersehen.» Sprach's und warf ihr einen Blick voll neckischer Freundschaft hin, drehte sich auf dem Absatz und entfernte sich, flott und keck. Die Sache war im Blei.

Da erschien sie an seiner Seite und stupfte seine Hand. «Habt Ihr mich denn ein wenig lieb?» schmollte sie, die Augen voll Sonnenschein.

«Die Antwort will ich Euch morgen offenbaren», scherzte er, «heute ist das noch ein strenges Geheimnis», und zog sie an der Hand näher an sich, so daß ihre Körper sich beim Gehen behinderten.

Die Strecke von der Kegelbahn bis zur Terrasse maß höchstens dreißig Schritt, doch kam sie ihm jetzt so unendlich überschwenglich und reich vor wie damals der Raum vor der Front bis zum Brigadestab, als ihn der Oberst Allegri mit Namen hervorrief, um ihn vor der versammelten Truppe zu beloben.

«Cathri», sagte er lächelnd, mit den Wimpern nach dem First des Gasthofes blinzelnd, «rate einmal, wer sitzt jetzt auf dem Dach? Es ist einer mit weißen Fittichen und einem goldenen Gürtel und hält einen Palmenzweig in der Hand. Mir ist, ich spür's, wie er mit den Flügeln wedelt. Spürst du nichts? Ich spür's.»

Da schnappte sie einige Mal ungestüm nach seinem Schnurrbärtchen, was, wie er mutmaßte, in ihrer heftigen Art einen Kuß bedeuten mochte. Plötzlich aber hielt sie ihn an und sah ihm drohend ins Auge.

«Hingegen, wohlverstanden», sprach sie nachdrucksvoll, «Treue verlange ich von nun an. Treue ohne Gnade und Ausnahme. Ich bin nämlich wie ein Hummer, wenn ich einmal jemand in mein Herz eingelassen habe, so halte ich ihn wie mit Zangen fest. Dafür muß er aber auch an mir festhalten. Siehst du, wenn ich die Wahl hätte, entweder erfahren zu müssen, daß du jemals eine andere lieber hättest, und wäre es auch nur deine Schwester oder Mutter, oder dich tot zu wissen, tausendmal lieber wüßte ich dich tot. So bin ich. Ich sage dir's offen und unverhohlen.»

«Brr», machte er lachend und schauderte zum Scherz. Eigentlich befremdete es ihn doch ein wenig, daß sie so leichthin seinen Tod in die Waagschale warf. Er hatte sich Frauenliebe umgekehrt gedacht, alles andere eher, sogar das Opfer seiner selbst, als den Tod dessen, den man lieb hat. Doch das war nur so ein flüchtiger Gedankenschatten, welcher, kaum daß er ihn gestreift hatte, auch schon vorüber war. Cathri aber, indem sie den unterbrochenen Wandel wieder aufnahm, setzte zur Theorie das Exempel: «Ich habe es sogar dem Hans auch nie verziehen, daß er seine Braut vor mir bevorzugte.» Damit erachtete sie ihren Standpunkt für bewiesen und schloß die Verwarnung mit einem huldvollen Lächeln.

 

Wie sie auf der Terrasse anlangten, brach eben die Musik an, verstärkt von hundertstimmigem, dröhnendem Gesange. Sie kannten des Liedes Worte und Weise, und da der Text zufällig ihr eigenes Gefühl nicht übel auslegte, fielen sie frisch und frei mit Mund und Fuß in den Takt: «Wenn Kraft und Mut in tapfern Seelen flammen.» Zugleich schlenkerten sie die verschlungenen Hände zum Schwung wie die Sennen beim Tanz. Dabei schaute Conrad seiner Gefährtin ins Antlitz, Cathri dagegen blickte vor sich hin, gänzlich im Singen befangen.

Daß ihre Bahn sie mitten durchs Volk führte, kümmerte sie nicht, denn sie wußten sämtliche Gegenwärtigen durch gemeinsames Empfinden auf die hohe Note der Güte gestimmt; auch steuerten sie der roten Sonnenscheibe entgegen, so daß sie vor Glut und Glanz keinen Körper unterschieden.

Als sie aber unversehens auf Anna stießen, die mit dem Waffenrock auf den Bruder harrte, prallten sie auseinander wie zwei auf einem Ehebruch Betroffene.

Anna sah eins um das andere mit einem nämlichen Blick unsäglichen Leidens an, dann hielt sie stumm und ergeben dem Bruder den Waffenrock dar, während dieser sich des zerfetzten Wamses entledigte. Da sie jedoch aus Unaufmerksamkeit den linken Ärmel des Waffenrockes zur Erde hangen ließ, ergriff den jetzt Cathri hinterlistig, als ob sie der Jungfer Reber behilflich sein wollte.

«Ja, wer bedient jetzt eigentlich meinen Bruder? ich oder jemand anders?» fragte Anna tonlos und biß sich auf die Lippen.

«Herr Reber, wählt, wer soll Euch bedienen?» nahm Cathri die Frage mit fröhlichem Lachen auf, als ob es sich um einen belanglosen Scherzstreit handelte.

Aber beider Frauen Blicke, die sich wie giftige Dolche kreuzten, verrieten ihm ihren Haß, so daß er sich wohlweislich in einem großen Bogen um die begehrte Entscheidung drückte. «Beide», antwortete er, sich zum Schmunzeln zwingend, und dünkte sich wunder was für einen Salomo. Doch wie er nun arglos den linken Arm in den Rockärmel schob, ließ Anna beleidigt den rechten Ärmel fahren und trat zurück, der Gegnerin den Platz räumend.

Sie hatte auch eine Halsbinde und einen Hut mitgebracht, die sie jetzt mechanisch zur Hand nahm. Beides holte ihr nun Cathri mit unglaublicher Dreistigkeit aus den Händen, nicht anders, als ob Cathri die Herrin und Anna ihre aufwartende Magd gewesen wäre. Anna ließ zwar alles widerstandslos geschehen, schaute auch ergeben zu, wie die Fremde sich vielweserig um den Bruder zu schaffen machte. Aber so erniedrigt, so trübselig sah sie drein, so völlig des Mutes und der Hoffnung bar, als ob sie sich in die nächste Waldhöhle verkriechen möchte, um dort zu verenden. Endlich, als Cathri mit vernichtender Siegermiene von dannen geschritten war, die Stirne sprühend von bräutlichem Stolz, die Schultern gehoben vom Vorgefühl der nahen häuslichen Allmacht im «Pfauen», und gravitätisch den Nacken hintenüberwerfend, als ob sie einen Herrschermantel nachschleppte, öffnete Anna die bleichen Lippen, die ein krampfhaftes Zittern umzuckte, ehe sie das Wort zu gestalten vermochten: «Und ich?» sagte sie mit entfärbtem Klang, «ich bin nun abgesetzt?»

«Du hast ja deinen Doktor», tröstete er zwischen Scherz und Ernst.

Und da sie ihm traurig und vorwurfsvoll in die Augen schaute wie ein frierender Bettler, dem ein Geiziger statt eines warmen Kittels einen kupfernen Batzen gespendet hat, umschlang er sie zärtlich: «Sei kein Kindskopf», schmälte er. Er hatte ihr eigentlich etwas ganz besonders Liebreiches zugedacht, etwas, das ihrem kranken Herzen Balsam wäre, denn sie beelendete ihn wie damals die sterbende Johanna vom Schulmeister, als sie ihm die magern Knöchlein um den Hals wand und flüsterte: «Weißt du noch, Conrad, damals vor zehn Jahren?» – Allein er fand das gewünschte Wort nicht, und je länger er suchte, desto weiter floh es ihn. Zum Ersatz dafür preßte er sie an seine Brust.


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