Carl Spitteler
Conrad der Leutnant
Carl Spitteler

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Sie schleuderten das einander ins Gesicht, über den Tisch gebeugt, bebend vor Wut. Und die feindliche Rede ergänzten haßerfüllte Blicke. Aber als nun von draußen aus dem Gange lebhaftes Händeklatschen laut ward und unterdrücktes Beifallrufen weiblicher Stimmen Conrads Sieg markierte, schwenkte der Alte unversehens in die Wohnstube, ohne ein abschließendes Drohwort, mit unheimlichem Schweigen. Conrad aber, augenblicklich ernüchtert, blieb tief erschrocken stehen. Was hatte er nur getan! Er, der, soweit seine Erinnerung reichte, niemals gewagt hätte, seinem Vater zu widersprechen, geschweige denn sich gegen seinen Willen aufzulehnen, hatte ihm jetzt getrotzt, Mann gegen Mann und Feind gegen Feind, und ihm dabei seinen angesammelten Abscheu verraten, mit Blicken und Tönen, die man einem nie mehr verzeiht. Beabsichtigt hatte er es nicht, es war ihm nur so entwischt, in der Hitze der Empörung. Allein geschehen war es nun doch. Und mit zagendem Geiste sah er eine furchtbare Woge Unheil sich heranwälzen, wogegen der bisherige Zustand, der ihm unleidlich geschienen, sich nun wie die schöne alte Zeit ausnahm, so daß er sich gar nicht mit der Vorstellung daranwagte. Da, in der Not, tat er einen verzweifelten Gedankensprung in die Zukunft. Er sah den Alten, vom Schlage gerührt, auf dem Todbette röcheln und sich daneben stehen, erschüttert, trauernd und vergebend. Und dieses Bild erweckte nun nicht mehr seinen Abscheu, sondern er sehnte es andächtig herbei, nicht aus Haß, sondern aus hoffnungsloser Bedrängnis des Herzens, als den einzigen Weg der Versöhnung, als einen tröstlichen Schutzgeist, zur Verhütung von Schlimmerem.

 

«Kommt Ihr nicht auch lieber ein bißchen ins Freie, Herr Reber? statt im dumpfen Zimmer zu bleiben?» mahnte Cathri, auf der Schwelle erscheinend.

«Warum nicht?» antwortete er zerstreut und schickte sich an, ihr zu folgen. Doch unterwegs änderte er den Sinn. «Geht nur voran», rief er, «ich komme später», kehrte um und machte sich in der entgegengesetzten Richtung auf, den oberen Stock hinan, nach der Schlafstube der Mutter. Er gedachte ihr ein gutes Wort zu bieten, eingedenk der Mahnung seiner Schwester.

Im Treppenhaus trat eben der Vater zufällig aus der Wohnstube. Sie prallten voreinander weg, wie zwei Bären, die sich unvermutet im Zwinger begegnen. Der Vater schoß in die Stube zurück, der Sohn zog still fürbaß, die Treppe hinan.

Die Schlafstube der Mutter war stockfinster, weil dicht mit Vorhängen verhüllt.

«Seht, da ist es ihn ja selber», empfing ihn eine grölende Stimme aus dem Dunkel, die Stimme der Base. Und den Satz begleitete ein häßliches Lachen, das ihm höhnisch klang. Wie er mit tastenden Armen dem Bett entgegentappte, fiel er strauchelnd über einen Sessel, der im Wege stand. Und im Fall schlug er sich empfindlich an die Bettlade, während irgend etwas Tönernes mit vielfältigem, nicht endenwollendem Lärm auf dem Boden zerschellte.

«Kann er denn immer bloß Schaden und Unheil stiften, der Ungeratene», stöhnte die Stimme der Mutter.

Da drehte er sich heftig um, verließ die Stube und stieg wieder die Treppe hinab. «Das habe ich nicht verdient!» knirschte er. «‹Ungeraten›; man ist nicht ‹ungeraten›, wenn man ehrlich und fleißig und unbescholten ist! Obschon man auch seine Fehler haben mag wie jeder andere.» Und immer wieder klaubte er an dem Wörtchen «ungeraten» wie an einem Widerhaken im Fleische. «Wer eine Rettungsmedaille in der Schublade liegen hat, wer von seinem Obersten vor versammelter Front als das Muster eines Offiziers zum Vorbild hingestellt worden ist, der ist kein Ungeratener. Die Ungeratenen, die sitzen in der Kneipe oder je nach Umständen im Zuchthaus.»

Unterhalb der Treppe hinter dem Granatbusch hielt er an und blickte durchs Fenster. Auf der Terrasse räumte das Gesinde den Tanzsaal; daneben saß Cathri giltstmirgleich auf einem Tisch im Schatten eines Oleanders und pendelte mit den Füßen. Doch er war nicht bei seinen Augen; er war bei seinem Zorn, so daß er hin und wieder die Faust ballte. «Artillerieleutnant, das kann man noch nicht ungeraten nennen», murrte er finster. Und nach einer Weile: «Wer weiß, es wäre wohl manch eine Mutter froh, ihr Sohn wäre, was ich bin und wie ich bin.» Hierüber blieb er am Fenster kleben, nicht weil er hier bleiben wollte, sondern weil er doch irgendwo sein mußte und anderswohin nicht eher gehörte als hierhin.

Währenddessen stapfte die Base die Treppe herunter, in Hut und Schal, eine Ledertasche in der Hand.

«So, jetzt gehe ich denn», krähte sie, als sie ihn gewahrte. «Bist du nun zufrieden?»

Er überwand sich. «Nein, ich bin nicht zufrieden. Im Gegenteil, es würde mich freuen, wenn du bliebest. Ich hatte es nicht böse gemeint.»

«Ei was, Schneegänse im Sommer», belferte sie. «Verstell dich nur nicht, es ist heute nicht Fastnacht. Hast ja doch einzig nur noch Augen für deinen Zaupf»

«Zaupf? Was heißt das auf deutsch?»

«Oder meinetwegen Gof oder wie du's am liebsten nennen magst. Ich verstehe mich halt leider nicht so gebildet auszudrücken wie der Herr Leutnant. Übrigens, für die hergelaufene Truschel wird die Bezeichnung wohl noch ehrerbietig genug sein.»

«Wen nennst du eine hergelaufene Truschel?»

«Nun, wen sonst? Diejenige, die einzig noch für dich auf der Welt zu sein scheint, diejenige, nach der du dir die Augen ausguckst, die hochmütige, pompatzige Bernerin, mit einem Wort. Siehst du, wie du strahlst, wie du schmunzelst, wenn man bloß ihren Namen ausspricht. Mach doch nicht Augen, als ob du mich verschlucken wolltest wie der Wolf das Rotkäppchen. Nur ruhig, ich gehe ja, ich laufe, ich springe, ich fürchte mich. Nichts für ungut, daß ich gewagt habe, ihren erlauchten Namen in meinen alten zahnlosen Mund zu nehmen. Leb wohl! Kannst ja viel ungestörter um sie herumschwänzeln, nachdem ich fort bin. Sei doch nicht so grausam, laß sie doch nicht so lange auf dich warten. Sie verzappelt ja vor Ungeduld. Also leb wohl denn, leb wohl! nichts für ungut. Und hoffentlich gibt's dasmal kein Unglück, weil die Hexenbase da war. Verdient hättest du's zwar. Also leb wohl denn, du siehst mich wahrscheinlich im Leben zum letztenmal.»

Da ließ er sie ziehen.

Aber nach einigen Schritten drehte sie sich um: «Ich hatte dir eigentlich auch ein Krämlein mitgebracht; es liegt bei der Mutter, sie soll dir's morgen geben, wenn du wieder artiger bist. – Übrigens, du magst mir zuleid tun, soviel du willst, ich bleibe doch immer deine alte häßliche Hexenbase, die dich vorzeiten auf dem Schoß geschaukelt hat, weißt du noch? Leb wohl, Conrad. Leb dennoch wohl!»

Hiermit trollte sie sich.

Er aber begab sich zu Cathri auf die Terrasse.

 

«Ihr habt also gleichfalls einen bösen Vater?» begann er trübselig.

«Euer Vater ist von Holz, meiner von Stein.»

«Ich begreife nur nicht», bemerkte er, «wie jemand das Bedürfnis verspüren kann, seinem Nächsten das Leben zu versauern.»

Sie zuckte die Schultern. «Wer weiß, wie wir uns dereinst aufführen werden, wenn wir einmal alt sind. Ihr zum Beispiel scheint mir ebenfalls nicht einer von den Gelindesten.»

«Wieso? Glaubt Ihr denn, das hange mit dem Alter zusammen?»

«Eine einfältige Frage. Mit dem Alter oder mit der Bresthaftigkeit, es kommt auf eins heraus. Oder meint Ihr etwa, Euer Vater wäre zeitlebens so gewesen? Er hätte niemals Maien auf den Hut gesteckt und Jauchzer losgelassen? Ich kann mir's nicht anders zurechtlegen, als es sitzt den Alten ein Skorpion in der Leber, der sie beständig zwackt, so daß sie gallig werden und keinem Menschen mehr ein gutes Wort geben können, ob sie's noch so gerne möchten.»

Conrad verfiel ins Nachsinnen. «Sonderbar, das ist mir nie eingefallen. Überhaupt, mir ist, wenn Ihr immer bei mir wäret, ich würde manches leichter ertragen.» Und da sie ob diesem Wort ein wenig rot wurde, berichtigte er angelegentlich: «Verzeiht, ich hatte es nicht so gemeint.» Nachträglich indessen errötete er mehr als sie.

«Und ich habe es auch durchaus nicht so aufgefaßt», beruhigte sie.

Darauf stockte die Unterhaltung.

Anna nahte. «Die Schlüssel zum Stall verlangt der Benedikt», sagte sie gleichgültig, die Hand ausstreckend. Nachdem sie die Schlüssel behändigt hatte, warf sie wie beiläufig die Bemerkung hin: «Ihr solltet doch besser vermeiden, so lange beisammenzustehen. Es könnte auffallen.»

«Und wenn?» entgegnete Conrad. «Das heißt, vorausgesetzt, daß es Cathri nicht verdrießt.»

«Mich?» lachte diese verächtlich. «Ich, wofern ich nichts Böses tue, so ficht mich nicht soviel an, aber auch nicht soviel, was die Leute schwatzen mögen.»

«Ach so?» erwiderte Anna spitzig, «seid Ihr schon so weit miteinander gediehen? In diesem Falle maße ich mir freilich nicht an, mich einzumischen.» Und sie verließ mit empfindlicher Miene das Paar, als wäre ihr ein Unrecht widerfahren.

Conrad aber suchte dem Gespräch wieder auf die Beine zu helfen. «Ihr habt Euch's doch nicht etwa zu Herzen genommen, hoffentlich?» begann er auf Geratewohl, «die Schnödigkeiten der Base?»

Cathri lachte. «Warum nicht gar? Dergleichen dringt mir nicht einmal durch die Haut, geschweige denn ins Herz. Du lieber Himmel, da habe ich schon andere Dinge geschluckt, daheim, vom Vater. Überhaupt, wehe tun einem ja nur die Eigenen. Ein ganzer Suppenlöffel voll Gift von fremden Leuten brennt weniger als ein Tropfen daheim. Darum bin ich draus, aus und davon, aus dem Feuer. Und seit ich fort bin, ist mir wohl, ob es schon nicht lauter Rosen sind, was mir die Menschen streuen, wenn man das Geld selber verdienen muß, Fränklein um Fränklein, während man daheim im Dorf die reiche Cathri hieß und die Erste war und des Präsidenten Tochter.»

Sie hatte das mehr für sich gesprochen, in sich hineinschauend; doch Conrad fühlte es mit, so daß er andächtig schwieg, nachdem sie geendigt hatte. Dafür gönnte sie ihm nun ihrerseits etwas Teilnahme, und zum ersten Male klang ihre Stimme nicht völlig frostig, sondern beinahe freundlich, als sie jetzt das Wort an ihn richtete: «Ihr solltet auch ein wenig fort, Herr Reber», riet sie gnädig. «Und wäre es meinetwegen nur auf einen Tag oder einen halben. Das beständige Daheimkleben ist für einen jungen Mann nicht natürlich, das macht Euch böses Blut, darum seid Ihr so gereizt und unwirsch. Den Hut auf den Kopf, den Stock in die Hand und hinaus in die reine Frühlingsluft.»

Conrad schaute gierig in die Weite. «Zum Beispiel mit dem Offiziersverein auf die Hochburg? mit dem Zweiuhrzwanzig-Zug?» entfuhr es ihm mit einem tiefen Seufzer. Hiermit zog er die Uhr aus der Tasche und schaute eine lange Weile, sich vergessend, auf das Zifferblatt.

«Ja, oder einfach ein Stündchen ins nächste beste Dorf. Nur damit Ihr neue Gesichter seht und frische Eindrücke empfangt.»

Wieder blickte er sehnsüchtig in die Runde, dann ließ er den Kopf hangen und steckte die Uhr in die Tasche. «Ich kann nicht, ich darf nicht», murmelte er niedergeschlagen, «heute am allerwenigsten.»

«Warum nicht?»

Er wurde ärgerlich: «Warum nicht? Ihr seid doch sonst nicht so schwerfällig von Begriffen. Warum nicht? Darum nicht, weil heute Sonntag ist, weil wir am Nachmittag das Haus voll Gäste haben werden, weil am Abend getanzt wird, kurz, weil ich nicht kann. Oder meint Ihr, wir hätten umsonst ein halbes Dutzend Kellnerinnen mehr aufgeboten?»

«Ja, ist es denn besser, Ihr zankt Euch mit dem Vater und der Mutter und der Base und womit weiß ich noch herum? Es tut heute nicht geheuer im ‹Pfauen› von Herrlisdorf. Es sitzt ein Teufel auf dem Dach. Glaubt mir's, Herr Reber, ich verstehe mich auf derlei Zeichen, ich habe das von klein auf studiert.»

«Seid Ihr etwa abergläubisch?» spöttelte er.

Sie ließ sich's nicht anfechten. «Das weiß ich nicht», antwortete sie fest. «Übrigens ist wohl jeder mehr oder minder abergläubisch, der einmal die rote Hahnenfeder des Todes in der Nähe gesehen hat oder die schwarze Schnauze des Unglücks. Oder, was meint Ihr, wenn man den eigenen Bruder am Morgen gesund und frisch hat in den Wald ziehen sehen, und zum Mittagessen bringen sie ihn auf der Bahre, und er einem beim Weggehen zugejauchzt: ‹Cathri, so glücklich wie heute war ich meiner Lebtag nicht, ich meine, ich sei im Himmel›, und der Vater ihm nachgerufen: ‹Daß du mir vor elf nach Hause kommst, du Aas, oder nie mehr›, was meint Ihr, könnte man da abergläubisch werden oder nicht? Er kam freilich vor elf nach Hause, der arme Baschi, genau vier Minuten vor elf, aber tot; nicht als Aas, aber als Leichnam. Doch um darauf zurückzukommen, abergläubisch oder nicht abergläubisch, Ihr mögt's nun auslegen, wie Ihr wollt, es tut heute nicht geheuer im ‹Pfauen›, es droht ein Wetter, es ist Krieg in der Luft.»

«Oh, was das betrifft», versetzte er bitter, «Krieg ist bei uns immer in der Luft.»

«Schon recht», entgegnete sie, «aber es ist nicht bloß das. Es ist wie verschworen, wie mit einer Salbe angestrichen. Jeder von euch sagt etwas anderes, als er möchte; keines von allen meint es mit dem andern bös, und jedes treibt dem andern spitzige Nägel ins Herz. Das beweist doch, daß der Teufel oder etwas Ähnliches auf dem Dach sitzt? oder nicht?»

Erst spielte noch ein Lächeln um seine Lippen, dann ward ihm allmählich ernst und schwer. Lange Zeit blickte er sinnend auf seine Füße, während er mit der Schuhspitze im Kies wühlte. «Was denn tun?» fragte er gedämpft, ohne den Kopf zu erheben.

«Fort!» antwortete sie. «Dem Teufel aus dem Kreis.»

Plötzlich schaute er sie an: «Kämt Ihr mit?» fragte er einladend.

«Herr Reber, jetzt schwatzt Ihr Unsinn», rief sie ärgerlich und protzte von dannen.


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