Carl Spitteler
Conrad der Leutnant
Carl Spitteler

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Allein Anna unterbrach das Spiel. «Zur Suppe», mahnte sie, mit einladender, singender Stimme, einen Blick mütterlicher Huld auf das Paar hinübersendend. «Zur Suppe», wiederholten lustig die Mädchen, indem sie den ziehenden Ton in der Nachahmung überboten. Und hurtig schwärmte das junge Völklein nach dem Gesindetisch. Mit ihnen Cathri, worüber sich Conrad baß verwunderte, wie über etwas Ungebührliches.

Er überlegte. Sollte er's wagen, sie eigenmächtig an den Familientisch zu befördern?

Allein sie hatte schon gravitätisch die Serviette über den Schoß gebreitet und lachte ihm von weitem zu, belustigt über sein Erstaunen. «Ich sitze hier vortrefflich», versicherte sie.

Während er zögernd seinem Platz zusteuerte, traf ihn ein Rippenstoß, und zwar ein recht knochiger. «Und mich», belferte eine kurzatmige Stimme, «Mich, gelt, mich grüßt man, versteht sich, nicht? unsereinen, natürlich, übersieht man? Freilich, kann dir leider nicht mit einem glatten Frätzchen aufwerten, bin halt nur die alte Ursula oder die ‹Hexenbase›, wie du mich getauft hast, vorzeiten, weißt du noch? als du meintest, wenn ich dagewesen sei, gebe es nachher immer ein Unglück. Weil du per se jedesmal etwas Dummes angerichtet hattest und dafür die Rute bekamst; das eine Mal aufs Dach geklettert und die Ziegel verschimpfiert, das andere Mal dir das Gesicht verpülvert, das dritte Mal die Pferde in Heinis Garten gelassen und so weiter, was weiß ich. Aber so sind die Menschen. Wenn einer einen Unsinn gemacht hat und nachher löffeln muß, was er eingebrockt hat...»

«Guten Tag, Base», hemmte er den Erguß. «Übrigens hatte ich heute bereits das Vergnügen, wenn auch nur aus der Ferne. Alle Achtung, das muß man dir lassen: du bist eine tapfere Base, ein wahrer St. Georg. Nur so mir nichts, dir nichts aus dem Hause gejagt? eins, zwei, drei? die arme Rosinenbase? was?»

Sie schickte einen bösen Blick in die Luft, an die Adresse der Rosinenbase, und klappte die Kiefer zusammen, wie der Dachshund, wenn er eine Ratte verschluckt hat: «Es kann nur einer im Hause regieren, nicht zwei», posaunte sie.

Er verbeugte sich förmlich. «Meinen untertänigsten Gehorsam der Alleinherrscherin im Hause.» Dann bot er ihr nachträglich die Hand zum Gruß.

Doch sie zog geziert beide Hände weg und hüpfte rückwärts. «Du mußt keineswegs, wenn du nicht magst. Zwingen will ich dich nicht.»

«Und ich dich ebenfalls nicht», erwiderte er, ließ sie hüpfen und setzte sich. «Anna, kommt eigentlich die Mutter zum Essen?»

«Ich glaube ja; aber später. Sie zieht sich eben an.»

«Und du? issest du denn nicht mit?»

«Nein, ich bediene den Vater.»

«O weh!» stöhnte er.

 

Die dampfende Suppe wirkte Behagen und weckte die Gesprächslust.

«Woher kommen nur alle die herrlichen Lilasträuße?» fragte Conrad zu der Base gewandt, indem er eine Blume herausholte und an die Nase führte.

Keine Antwort.

«Eine Staatssuppe», urteilte er nach einer Weile. «Alle Achtung vor dem, der sie gekocht hat.»

Die Base betrachtete ihn hämisch von der Seite und meckerte vor sich hin. Endlich versetzte sie: «Aber, gelt, nicht wahr, wenn du gewußt hättest, ich habe sie gekocht, so hättest du sie schlecht gefunden?»

Nach einigem Abwarten versuchte er's zum drittenmal: «Ein Prachtwetter heute, kein Wölklein am Himmel.»

«Ja, das Wetter wäre schon recht», keifte die Base, «wenn nur auch die Menschen recht wären.»

Jetzt hatte er genug, tat sich Gewalt an und verdrückte die Redelust, indem er zugleich geflissentlich den Blick von der sauertöpfischen Base abzog. Hierbei bekam er zufällig die Kellnerinnen zu Gesicht.

Und siehe da, es war ein ergötzlicher Anblick. Nein, wirklich, im Ernst, sie sahen verdammt nett aus, in ihren neuen, leichten Sommerröckchen, deren Farben die unmöglichsten Sprünge verübten, ohne einander auf die Zehen zu treten. Man wußte wirklich nicht, welcher den Vorzug geben, ob der Bertha mit ihrem seidenweichen wenigen Kastanienhaar, angetan mit einem weiß und meergrün gestreiften Gewändchen – hatte er nun etwa nicht recht mit seiner Vorliebe für meergrün? –, oder der durchsichtigen, gerstenblonden Helene – das weiße Kleid mit den rosafarbenen Schleifen aufgeputzt, wie ein Albumschäfchen, das ein Engel am Bande führt –, oder der rotkrausen Josephine – ja aber trägt man denn Schwarz im Sommer? Nun, das muß Josephine besser wissen als er, item, es stand ihr abgefeimt gut. Bloß Brigitte, natürlich, versteht sich, das faule Mammut, mußte in einem plumpen, braunen Werktagsrock kommen. Dazwischen thronte Cathri steif und starr in ihrer majestätischen Vollkommenheit, in ihrer harten weiß und schwarzen Wappentracht, fast hätte er gesagt «Uniform». Man brauchte ihr bloß statt Messer und Gabel einen Schild und Lanze zu reichen, so war sie die vollendetste Helvetia auf einem silbernen Fünffrankentaler oder eine geflügelte Allegorienfigur auf dem Reklamezettel einer Landesausstellung. Ackerbau und Volksfleiß, so etwas. Schaute man sich nicht unwillkürlich nach dem Alpenglühen um, wenn man sie sah?

So unterhielt er seine Blicke. Die Mädchen ihrerseits guckten zu ihm herüber, und so entwickelte sich ein munteres Augenspiel hin und her mit Blinkern und Zwinkern. Darüber juckte ihn die Zunge und kitzelte ihn der Übermut.

«Aufs Wohl, Brigitte», begann er, das Glas erst hebend, «habt Ihr auch schon einmal nikotinfreien Wein versucht?»

Brigitte verwahrte sich entrüstet. «Äh, Wäh, Ch», schnurrte sie verächtlich und wischte sich angeekelt die Lippen, «nikotinfreier Wein, das wäre ja wie zuckerfreier Honig.» Dabei schaute sie sich triumphierend um, ob man auch allseits das Salz ihres Witzes schmecke.

Und da jetzt ein Spottgelächter um sie herfiel, mit mühseligen Belehrungen – denn sie wollte schlechterdings nichts begreifen –, machte er sich an Josephine, welche auf Brigitte so eifrig einredete, als ob sie sie zum Islam bekehren wollte.

«Ihr, Josephine, da Ihr Euch doch gar so über die Maßen gescheit dünkt, könnt Ihr folgendes Rätsel lösen? Wer nimmt was womit?»

Josephine dachte aus Leibeskräften... «Wer nimmt was womit?» wiederholte sie murmelnd, indem sie mit den Augen die Zimmerdecke absuchte. Plötzlich erklärte sie zuversichtlich: «Der Herr Reber nimmt nur eine mit viel Geld.»

«Sehr gut», belobte Conrad, «schade, daß es nicht wahr ist. Sondern: Achtung. ‹Es nimmt ein Ende mit Schrecken.›»

Es erfolgte eine große Chor-Pantomime des Mitleids, welche mit ausdrucksvollem Gebärdenspiel den Hinscheid seines Geistes beklagte.

Aber Cathri hatte die Zunge geläufiger als die Gebärde: «Das ist einer vom Exerzierplatz», urteilte sie wegwerfend.

«Wohl, dann will ich Euch mit Eurem Kanton Bern aufwarten. Ich fürchte nur eines: es könnte Euch ein wenig zu hoch sein, denn jetzt geht es die obersten Stufen der Bildungstreppe steil bergan. Also: Welche Rose gedeiht im Kanton Bern am besten?»

«Die Rose der Liebe», flötete geschwind Helene.

«Der unumwundenen Offenheit und Lauterkeit», verbesserte Cathri selbstgefällig, indem sie sich vor Rassebewußtsein ordentlich brüstete und blähte.

Conrad aber, von ihrem kantonalen Dünkel gereizt, übergoß sie mit einem Blick rückhaltlosen Hohnes. «Rose der unumwundenen Offenheit», spottete er: «Unumwunden, also jedenfalls keine Schlingrose. ‹Offenheit›, mithin keine Knospe. – Nein, nicht ‹Rose der› oder ‹Rose des›, sondern einfach Rose: die Phosphor-Nekrose.»

Ein Beifallssturm billigte die kleine Bosheit, während die gedemütigte Cathri, puterrot vor Scham und Zorn, ihm einen wütenden Blick zujagte.

Allein Josephine erklärte sich mit dem Gespräch überhaupt nicht einverstanden. «Was ist denn nur heute mit unserm gestrengen Herrn und Meister», schalt sie, «daß er uns hartnäckig Kirchhofrätsel auftischt. ‹Ein Ende mit Schrecken›, ‹Nekrose, Nekrolog›. Puh, man könnte wahrhaftig glauben, Ihr wolltet Euer Testament machen. – Sondern jetzt will ich Euch ein Rätsel spendieren – Achtung, stille, aufgepaßt! spitzt die Ohren: Was geht auf zwei Beinen und ist doch kein Huhn? und warum?»

«Benedikt, der Kutscher», meinte Bertha aufgeräumt.

Josephine zog eine weise Schullehrermiene: «Bertha, du bist unlogisch. Denn erstens geht Benedikt nicht, sondern er stolpert; zweitens, wenn es kein Huhn ist, so kann es doch kein Mann sein, denn sonst wäre es ja kein Hahn; drittens könnte man bei Benedikt unmöglich fragen: ‹Warum?› Man braucht ihn ja bloß anzusehen, um zu wissen, warum. Sondern Brigitte, weil sie eine Gans ist.»

Brigitte, um den Empfang zu bescheinigen, verübte eine Grimasse, zischte Josephine an, gab die Zunge aus dem Munde und blökte.

Jetzt aber ertrug die Base nicht mehr länger diese nichtsnutzigen Späße. Schon öfters hatte sie geräuschvolle Zeichen des Mißfallens kundgegeben, geknurrt, gebrummt, gehustet, mit den Füßen gescharrt, den Stuhl geschoben, die Löffel und Teller geschmissen; jetzt riß ihr die Geduld: «Seit wann sitzt denn der Portier nicht mehr bei Tisch?» fuhr sie den gegenübersitzenden Conrad grob an, mit dröhnender Stimme wie aus einem zersprungenen Kochhafen. «Doch ich verstehe, der ist wohl dem Herrn Leutnant nicht mehr vornehm genug.»

«Es handelt sich nicht um vornehm oder nicht vornehm», entgegnete Conrad ruhig, «sondern darum, daß der Portier ein frecher Flegel ist, mit welchem ich nächstens ein Wörtchen reden werde.»

«Ich weiß nicht», fuhr sie seufzend fort, die Augen wie eine Märtyrerin verdrehend, «aber seit dem verwünschten Militärdienst bist du wie ein umgekehrter Handschuh.»

«Das wäre ja lauter Gewinn», erwiderte er, «genoß doch der Handschuh niemals das Glück deines Beifalls.»

«Überhaupt», knurrte sie, «wozu das dumme unnütze Soldäteln? Wenn die Völker Frieden halten wollten, wenn die Fürsten Europas in ihrem nimmersatten, ländergierigen Ehrgeiz...»

Conrad fiel ihr in die Phrase: «Jetzunder, ihr Völker und Fürsten Europas, beißt die Zähne zusammen, allerhöchst die Base Ursula von Hutzlisbühl liest euch den Text.»

Gelächter vom Kellnerinnentisch her unterstützte die Abfertigung, und nun hatte die Base ihrerseits den Verleider.

Stumm und verdrossen schlich nunmehr die Mahlzeit voran, mit heftigem Schlingen und endlosen, unausstehlichen Pausen. Draußen aber in der Wiese pfiff ein Vogel unaufhörlich einen nämlichen sägenden Doppelton des Jubels, «tüitü», als könnte er des Maienglücks nicht genug erzählen.

Die Köchin, die alte treue Lisabeth, nachdem sie das Gemüse aufgetragen, blieb bei der Base hangen, zischelnd, mit gehässigen Blicken nach der Bernerin.

Die Base wulstete die Lippen. «Jedes Tierchen hat sein Pläsierchen», grölte sie überlaut, indem sie nach Cathri schielte: «Es scheint, es gibt Gäste, die lieben das.»

«Was?» fragte Conrad drohend.

«Nun», lautete die Antwort, «wenn eine Kellnerin sich herausdonnert wie ein Schaf zum Auskegeln und die bloßen Arme feilhält, daß einem davon übel wird, und die Augen unverschämt aussperrt wie eine Ich-weiß-nicht-was.»

Conrad suchte nach einer gepfefferten Zurechtweisung. Allein schon war Cathri leidenschaftlich aufgefahren und warf mit schneidender Stimme herüber: «Die Tracht, die ich trage, ist eine ehrbare Landestracht. Und an bloßen Armen kann höchstens ein ausgeschämter, abgelebter Wüstling Anstoß nehmen oder aber eine neidische alte Vogelscheuche. Und wenn ich die Augen aufsperre, so geschieht das, weil ich nicht wüßte, weswegen und vor wem ich sie niederzuschlagen brauchte. Übrigens, falls ich etwa hier jemandem im Wege bin, so hat er sich bloß zu melden. Ich habe mich nicht aufgedrängt, sondern bin einzig deswegen hier, weil mich die Jungfer Anna Reber persönlich im Kurbad aufgesucht und mit Bitten und Beten zur Aushilfe gedungen hat.»

«Cathri», sprach Conrad nachdrücklich, «wenn ihr von meiner Schwester gedungen seid, so gilt das genausoviel, als wäret Ihr von Vater und Mutter gedungen. Ich ersuche Euch daher in ihrem Namen höflich, zu bleiben und Euch durch keine Schnödigkeiten Unberufener irremachen zu lassen.»

Da setzte sie sich gelassen nieder. «Steht es so», sagte sie, «dann steht es gut. Ihr seid der Meister, an Euer Wort halte ich mich. Was andere dagegen reden, das schätze ich weniger als das Klappern einer Mühle.»


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