Carl Spitteler
Conrad der Leutnant
Carl Spitteler

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Noch zitterte die Türklinke, und aller Augen hafteten an der Wand, hinter welcher die Base verschwunden war, da brach mit wuchtigem Elefantentritt die schreckliche Riesengestalt des alten «Pfauen»-Wirts herein, doch nicht aus der Wohnstube, sondern gegenüber, von der Terrasse. Mit einem fürchterlichen Blick die Kellnerinnen musternd, brüllte er sie an: «Fressen, saufen, zanken, liebeln, das verstehen sie. Hingegen die Gäste bedienen, daran denkt keine.»

Wie ein Hühnervolk, vom Hunde aufgescheucht, stoben die Mädchen in wilder Flucht vom Tisch, der nächsten Tür zu.

Aber der Alte vertrat ihnen den Weg. Dazu wollte er gewohnheitshalber mit der Ferse stampfen, zur nachdrücklichen Betonung seines Willens, indessen führte er das nur halbwegs aus, da ihn das Bein beim festen Auftritt schmerzte. «Diesmal bediene ich schon selber», wehrte er, seinen Schmerz verbeißend, «nachdem ich einmal die Bestellung angenommen. Schaut zu, daß ihr künftig auf dem Posten seid.»

Da verzogen sie sich kleinlaut und mißmutig, indessen hinter ihrem Rücken ein leckerer Kuchen auf den verlassenen Tisch marschierte. Cathri, nachdem sie sich erst mit den übrigen aufgemacht, besann sich anders, kehrte zurück und spazierte mit Storchenschritten im Zimmer auf und ab.

Der Alte drang auf sie ein: «Und Ihr», knurrte er, «Ihr dünkt Euch offenbar zu vornehm, mit Euren hoffärtigen Kettelein und verwöhnten Fingerchen.»

Sie wies durchs Fenster. «Neun Kellnerinnen auf ein einziges schmächtiges, schäbiges Bäuerlein, das ist schon mehr als genug.» Und da er ihr einen entsetzlichen Blick zuschleuderte, schüttelte sie lachend die Hände vor seinen Augen.

«Herr Reber, ob Ihr schon ein Unflat seid, mir macht Ihr keineswegs bange. Nämlich ich habe zu Hause einen Vater, gegen den seid Ihr ein harmloses Kind.»

Er betrachtete sie eine geraume Weile, mehr und mehr besänftigt, brummte allerlei unverständliche Worte vor sich hin, grunzte schließlich beifällig und entfernte sich, eine Flasche Wein und ein Glas zwischen den Fingern, schwerfällig nach der Terrasse.

Conrad saß noch, wo er gesessen hatte. Abseits in einiger Entfernung ließ sich Cathri an einem Fenster nieder und trommelte mit den Fingern auf dem Sims. Zu ihnen gesellte sich Anna. Leise, mit traurigem Ton, schmälte sie den Bruder.

«Conrad», klagte sie wehmütig, «du böser, böser, böser Mensch, was hast du wieder angerichtet! Und zu allem sitzt noch die Base bei der Mutter und hetzt sie und will mit Gewalt heim. Du hättest sie fortgejagt, behauptet sie.»

«Behauptet sie fälschlich», versetzte Conrad.

«Lügt sie», bekräftigte Cathri.

«Und das arme Täubchen», bedauerte Anna, «das die Mutter eigens für dich hat herrichten lassen.»

«Was für ein Täubchen? Für mich? Von der Mutter? Wo?»

Sie zeigte auf eine Platte vor ihm. «Ja, jetzt ist es zu spät, jetzt ist es kalt.»

«Ich hatte halt anderes zu tun bei der Mahlzeit, als aufs Essen achtzugeben», versetzte er trübe. Darauf zog er das Täubchen an sich und begann es gewissenhaft zu verzehren, der Mutter zu Gefallen, ohne zu schmecken, was er schluckte.

Unterdessen wandelte Anna mit Cathri kameradschaftlich im Zimmer auf und ab, Hand in Hand und einen Arm um die Hüfte der andern geschlungen, wie die Kinder, wenn sie Offizierschritt spielen. So oft sie an Conrad vorbeikamen, tauschten sie verstohlene Blicke, flüsterten und kicherten ausgelassen. Endlich hielten sie an und küßten einander.

«Gelt, möchtest gerne mithalten?» neckte Anna, indem sie sich schelmisch die Lippen leckte. Dann machte sie sich an ihn heran, lehnte sich über seine Schulter und rannte ihm zu: «Spürst du's? Tut's weh? Schadet nichts, geschieht dir recht. Tust oft genug auch andern weh. – Aber wohlverstanden, nicht etwa zum Heiraten!»

«Daran denkt kein Mensch im Traum», antwortete er laut. «Übrigens, gesetzt den Fall, weshalb nicht?»

Sie hielt ihm den Mund zu, beugte sich über seine andere Schulter und zischelte ihm ins Ohr: «Sie hat kein Herz.» Hiermit eilte sie davon.

Unter der Tür drehte sie sich um und rief. «Jetzt sollte ich in der Küche sein, im Keller sein, den Vater gaumen, die Base besänftigen, die Mutter versöhnen und habe doch nur zwei Beine, zwei Augen und einen Mund. Wenn nur jemand wenigstens der Mutter ein gutes Wort gönnte!»

Somit blieben Conrad und Cathri abermals allein, dieses Mal stumm und verlegen, ohne zu wissen, was mit sich und dem andern anzufangen. Doch nur einen kurzen Augenblick. Denn schon kehrte der Alte mit der leeren Weinflasche zurück, die er auf den Schaft stellte. Nachher drehte er sich um und betrachtete den Sohn. «Du bist, wie mir scheint, heute an den Tisch angewachsen. Es würde dir wohl auch nicht schaden, den Tanzsaal ausräumen zu helfen, statt in alle Ewigkeit wie angenagelt beim Essen zu sitzen.»

«Den Tanzsaal ausräumen? Wie kann ich denn wissen, daß heute getanzt wird, wenn niemand sich die Mühe nimmt, mir's mitzuteilen?»

«Sollte man etwa zuvor den gnädigen Herrn Leutnant untertänig um Erlaubnis angehen? Selbstverständlich wird heute getanzt, wie jedes Jahr. Oder hast du vielleicht etwas dagegen einzuwenden?»

«Das würde ich mir niemals getrauen.»

Der Vater rückte ihm näher. «Niemals getrauen? Getrau dich, es frißt dich niemand auf.»

Cathri verließ unauffällig das Zimmer.

«Sag's doch», heischte der Alte dringender, «sag's nur, wenn du etwas Vernünftiges zu sagen hast.»

«Man muß wissen, was man will. Entweder man will eine Bauernwirtschaft oder man will einen Gasthof.»

Jetzt nahm der Vater den Ton höher und kräftiger: «Es ist bisher immer so gehalten worden, und ich bin nicht gesonnen, es deinetwegen anders zu halten. Später, wenn ich einmal unter dem Boden liege und dir dann meine Bauernwirtschaft nicht mehr vornehm genug ist, magst du's halten, wie es dir beliebt. Einstweilen aber bin ich noch Herr und Meister.»

Hiermit dachte er ihn abgefertigt zu haben. Allein Conrad, nach einem flüchtigen Blick nach dem Himmel, bemerkte: «Wer wird denn überhaupt bei dem schönen Wetter tanzen!?»

«Dafür ist bereits gesorgt. Wenn wir uns schon nicht so viel einbilden wie die jungen Naseweise, verstehen wir immerhin noch unser Geschäft. Die Wagginger haben bereits zugesagt, und zwar schriftlich, nur damit du's weißt. Und noch dazu beide Wagginger, die oberen und die unteren.»

Da erhob Conrad großen Auges den Kopf. «Die Oberwagginger und die Niederwagginger zusammen? Am selben Tag? Im nämlichen Tanzsaal? Acht Tage nach den Wahlen?» fragte er bedenklich und ließ das Messer spielend auf dem Tisch tanzen.

«Es ist durchaus kein Anlaß, solch eine überlegene Miene aufzusetzen», drohte der «Pfauen»-Wirt. «So gescheit sind wir natürlich auch noch, um zu wissen, daß Oberwagginger und Niederwagginger nicht zusammenpassen, daß die einen konservativ sind und die andern liberal. Und daß es niemand eingefallen ist, sie gleichzeitig einzuladen, soviel Hirnschmalz könntest du mir immerhin auch noch zutrauen, ob ich schon nicht Leutnant bin, sondern bloß Wachtmeister. Zuerst hat man natürlich bei den Oberwaggingern angefragt, die haben abgesagt, dann haben die Niederwagginger zugesagt und gestern die Oberwagginger nachträglich ebenfalls. So ist's gegangen.»

Conrad erwiderte nichts, sondern spielte, nach der Zimmerdecke starrend, mit dem Messer.

«Es scheint, das zu begreifen ist eine schwierige Aufgabe für deinen Verstand, daß du kein Wort darauf zu sagen weißt.»

«O nein», erwiderte Conrad, «ich begreife nur zu gut: das gibt eine mordsmäßige Keilerei.»

«Sie werden einander nicht den Kopf abbeißen!»

«Schlacht ist Schlacht, ob nun mit Säbeln und Bajonetten oder mit Knütteln und Fäusten. Womit aber eine Schlacht endet, kann niemand voraussagen. Denn der Haß hat kein Bedenken und die Waffe kein Gewissen. – Übrigens, ganz abgesehen hiervon, ob eine Bauernprügelei im Tanzsaal nach dem Geschmacke deiner Gäste sein möchte, zumal der Gäste aus der Stadt, darunter Frauen und Kinder, das möchte ich sehr bezweifeln.»

«Ich bin auch noch da», rief der Alte ungeduldig. «Habe ich bisher verstanden, Ordnung zu schaffen, so werde ich's wohl heute auch noch verstehen. Oder hältst du mich schon für vollends invalid? Einstweilen besitze ich gottlob noch meine ganzen Glieder, um meine Autorität zu wahren, und zwar sowohl nach innen wie nach außen.»

«Bis du einen Hieb abbekommst.»

«Ich bin schon mit stärkeren Leuten fertig geworden als mit den Waggingern.»

«Zugegeben. Allein die Wagginger sind schlimmer als stark, nämlich feige, das heißt tückisch. Gränzer Falschlenzer.»

Jetzt verlor aber der «Pfauen»-Wirt die Geduld.

«Stehe ich denn eigentlich vor dem Staatsanwalt», schäumte er, «daß ich mich von dir verhören lassen muß wie ein Angeklagter? Kurz, ich habe beschlossen, daß getanzt wird, und darum wird getanzt, mit oder ohne deine Erlaubnis. Das scheint mir klar und einfach. Oder hast du's etwa noch nicht begriffen?»

«Ich habe es vollkommen begriffen.»

«Gut, so schweig und halt's Maul!»

«Du brauchst mir das nicht so brutal zu sagen, nachdem du mich doch selber zum Reden aufgefordert hast.»

«Ich werde hoffentlich noch kein Komplimentierbuch nötig haben, um mit dem Herrn Leutnant zu sprechen. Bist du jetzt endlich einmal fertig, oder hast du vielleicht noch etwas zu bemerken?»

Nun rührte sich auch bei ihm der Ärger. «Wohl», versetzte er, «da wir doch einmal daran sind, ja. Ja, allerdings habe ich noch etwas zu bemerken. Ich habe nämlich zu bemerken, daß es mir lieber wäre, du würdest in Gegenwart anderer manierlicher mit mir sprechen. Das habe ich zu bemerken.»

«In Gegenwart anderer? Ist es etwa mein Fehler, wenn man dein benedeites Antlitz jeweilen nur da zu erblicken das Glück hat, wo irgendeine Schürze in der Nähe ist?»

«Vater», brauste er auf, mit wilder Stimme. «Vater! sich dich vor! Beschimpfen, beschimpfen lasse ich mich nicht!»

«Beschimpfen? Ist es etwa nicht die buchstäbliche Wahrheit? Habe ich dich denn nicht soeben mit der Bernerin getroffen, allein in einem Zimmer?»

«Was der Bock weiß, traut er der Geiß», entschlüpfte es Conrad halblaut.

«Was war das? Was meinst du? Sag's laut, wenn du's wagst! Gelt, du wagst es nicht?»

«Doch, ich wag's. Ich meine: ‹allein in einem Zimmer›, es kommt alles darauf an, wie und wann, und wo mit wem.» Dabei schaute er dem Vater bedeutsam ins Auge.

«Wie meinst du das?» keuchte dieser mit erstickter Stimme, indem sein Gesicht sich schwarzrot verfärbte.

«Ich meine», entgegnete der Junge, «mit mir darf jedes Mädchen ohne Furcht allein in einem Zimmer weilen.»

Jetzt wankte der «Pfauen»-Wirt mit schwerem Tritt, daß der Boden bebte, an den Tisch, der die beiden trennte.

«Aber mit wem etwa nicht?» heischte er. «Drücke dich deutlicher aus.»

«Deutlicher ausgedrückt: dem Anschein nach zu urteilen wärest du vielleicht lieber selber mit Cathri allein in einem Zimmer geblieben.»

Der Vater holte einen tiefen Atemzug, dann brach er los, mit donnernder Stimme und rollenden Augäpfeln: «Es gibt in Thun ein Gäßchen – verstehst du? mit den Fenstern nach der Aare – verstehst du? und in jenem Gäßchen steht ein Häuschen – verstehst du? und zu dem Häuschen steigen drei Stapfeln. – Battet das? oder muß ich dir's noch genauer bezeichnen?»

Conrad schnellte vom Stuhl: «Und in Bern gibt es ein Brücklein, verstehst du? und hinter dem Brücklein ein Inselein, verstehst du? Und in dem Inselein an einem Fenster ist mit dem Messer ein Datum eingekratzt und neben dem Datum der Name eines Dragonerwachtmeisters, verstehst du? Und der Name fängt mit einem R an und hört mit einem r auf. Genügt das? oder begehrst du Einläßlicheres?»


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