Carl Spitteler
Conrad der Leutnant
Carl Spitteler

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Sie ließ einige Augenblicke schweigend den Trost seiner Umarmung auf sich wirken, wobei sie ein klein wenig auflebte; hernach sagte sie etwas gefaßter: «Ich habe denn also nach der Mutter geschickt; sie werde gleich kommen.»

«Hat sie schon etwas erfahren?»

Sie antwortete nicht, wich ihm auch mit den Augen aus. Da wurde er ernst, schwieg und sann: «Wußtest du eigentlich», fragte er, «daß die Mutter vorzeiten schwermütig war?»

«Ja; warum?»

«Nichts, es schoß mir nur so durch den Kopf.»

Das Gespräch stockte.

«Ich muß nun wieder hinauf in die Schlafstube, um nach dem Vater zu sehen», ermahnte sie sich. Dabei seufzte sie, indem sie eine Meldung unterdrückte, die ohne ihre Erlaubnis über die Zunge gleiten wollte. Endlich nach mehrfachem Wechsel zwischen Seufzen und Verstummen überquoll ihr die Stimme. «Er macht mir Sorge», klagte sie.

«Sorge? wieso?» fragte er erstaunt.

Sie zauderte mit der Antwort. Doch nachdem sie einmal einen Zipfel der Wahrheit abgedeckt, mußte sie sie auch hervorziehen.

«Es ist nicht recht mit ihm», gestand sie. «Es reut ihn wieder zur Hälfte. Er beschwert sich über dich, er nimmt dir's nachträglich übel, was er dir versprochen hat. Du habest ihn an die Wand gedrückt und ihm das Messer an die Gurgel gesetzt.»

«Das ist nicht wahr», rief er hitzig, doch sofort sich mäßigend: «Nun, er wird bald selber einsehen, daß es für alle und auch für ihn das Beste gewesen ist», sagte er zu seiner eigenen Beruhigung.

«Wir wollen's hoffen», bemerkte Anna und wandte sich zum Gehen. Doch plötzlich kehrte sie um und stürzte ihm, bitterlich weinend, an die Brust: «Verzeih, daß ich heute nichts tue als dir vorweinen; es ist ja sonst wahrhaftig nicht meine Art, aber ich weiß nicht mehr, wo aus und wo ein. Ich fange fast an zu fürchten, es könne nie mehr gut werden.»

«Aber es ist ja gut, liebes Närrchen.»

Sie schüttelte den Kopf «O nein, o nein, es ist nicht gut, es ist schlimm, entsetzlich schlimm, schlimmer als je», und weinte noch bitterlicher.

Während er umsonst herumriet, was sie wohl so betrüben könnte, ward sein Augenmerk von einem absonderlichen Getöse angezogen, das aus der Schlafstube herunterdrang, dem übermütigen Bankett zum Trotze. Von einer unsichtbaren Faust eingestoßen, klirrten die Fensterscheiben vom mittleren Stockwerk auf die Erde, eine um die andere, einen Regen von scharfen Splittern durch die Luft sendend. Aus dem Innern der Stube aber drangen tierische Töne, bald kläglich, wie das Blöken eines Kalbes, bald zornig, wie das jauchzende Brüllen des Stieres, wenn er die Hörner senkt.

«Was ist das?» fragte Conrad stirnrunzelnd, mit rollenden Augen, die aus den Höhlen strebten.

«Er verflucht dich», jammerte Anna in wildem Schmerz, der Überlegung verlustig.

Conrad erbleichte und bebte. «Wenn er mich verflucht», preßte er mit eisiger Stimme hervor, «so verfluche ich ihn auch. Ich will doch sehen, ob der gerechte Fluch eines gemarterten Sohnes durch die Gewölbe der Hölle nicht lauter donnert als der ungerechte Fluch eines grausamen Vaters.»

«Nein, nein», flehte Anna, die Finger um seine Schulter krampfend, «nein, das wirst du nicht tun, du wirst bedenken, daß er ein alter, kranker Mann ist, der nicht weiß, was er tut, du wirst nicht vergessen, daß er trotz allem halt dein Vater bleibt und meiner.»

Ein Kampf schüttelte ihn. «Du hast recht», schloß er mit dunkler Stimme, «ich will ihm doch nicht fluchen.»

«Bau auf mich», versetzte sie dankbar, «ich besänftige ihn; gewiß, ich besänftige ihn», und eilte, so geschwind sie vermochte, ins Haus.

Er aber begab sich zu den Zechern, die, befangen in selbsteigener Lustigkeit, betäubt vom Lärm, den sie verübten, und betört vom Wein, von dem Kampf der guten und bösen Geister hinter ihrem Rücken nichts vernommen hatten. Doch ob er sich auch in die dichteste Gruppe mischte, er kam sich nunmehr vor wie eine einsame, finstere Stückkugel in einem Blumengärtchen. Er hörte nicht, was man sprach, sah nicht, was seine Augen erblickten, nur eins schaute er, dieses aber beständig: einen unförmlichen, schwarzen Fleck, der vor ihm in der Luft schwebte, unten in der Nähe seiner Füße. Und wohin er sich auch wandte, tanzte der Fleck ihm nach.

Bald fiel sein Benehmen auf.

«Conrad, was ist denn mit dir», rief Leutolf, «du bist ja wie geistesabwesend?»

«Er spürt den Wein», verlautete eine Stimme mit dem feinen Ton des Verständnisses. «Der Chianti ist ein starker Mann.»

«Oder denkt an seine schöne Bernerin», meinte Bertha.

Indessen, Beobachtung und Seelenkunde entsprachen nicht dem Bedürfnis der Stunde. Man umjauchzte, umschrie ihn, zerrte ihn von einem Tisch zum andern, überhäufte ihn mit gewaltsamen Ehren- und Freundschaftsbeteuerungen.

«Du bist der Held, dir gehört der Helm», sprach Leutolf, nahm ihm den Hut ab und pflanzte ihm seinen Helm auf den Kopf; der Wachtmeister staffierte ihn mit einer Schärpe aus, die Kellnerinnen spickten seinen Rock mit Schleifen und Blumen als Ordenszeichen. «Ritter des blauen Pfauen», nannte ihn Josephine, indem sie ein Vergißmeinnicht anbrachte; «nein, des weißen Sternes», verbesserte Bertha, mit einem Sträußchen Waldmeister anrückend. In Kürze sah er aus wie ein geschmücktes Opferlamm.

Geduldig ließ er alles mit sich geschehen, denn er war zu traurig, um irgendeinen Spaß übelzunehmen. Dagegen, als Cathri mit Blicken geheimen Einverständnisses ihn an den Fingern zupfte, wandte er sich unwillig ab, er wußte selber nicht, weshalb.

 

Unversehens prasselte ein Steinhagel in die Obstbäume, Blätter und Blüten rasierend, Zweige knickend und das Holzgerippe schändend.

«Feiglinge! Heimtückische!» schnob der Aufruhr, und flink wie die Alpenjäger stieß ein kleines Hundert rachedurstiger Männer ab, den Überfall zu ahnden. Ihnen kamen die Herrlisdorfer Bauern zuvor, welche abseits vom Bankett und näher dem Talgrund auf der Straße als Zuschauer sich aufgepflanzt hatten und nun begierig die Gelegenheit aufgriffen, nachzuholen, was sie im Tanzsaal versäumt hatten.

Wie aus der Kanone geschossen, rasten sie die Halde hinab, den Feind zu züchtigen, der jedoch in toller Flucht sich über die Felder ergoß. Kaum daß sie ein halbes Dutzend Nachzügler erhaschten, die sie mit wuchtigen Hieben zu Boden streckten. Eins, zwei, drei war alles erledigt. Hierauf kehrten sie in ruhigem Marsch zurück, nachdem sie erst, soldatisch geschult, wie sie waren, eine Handvoll Wachtposten um die Wurzel des Hügels gestreut.

Ein schallendes Bravo der Waldishofer belohnte die prompte Leistung. «Glatte Arbeit», rühmte Leutolf. Man lud die Herrlishofer herbei und empfing sie mit erhobenem Glase unter kordialen Lobpreisungen. «Musik!» heischte der Wachtmeister, «aber etwas, das Feuer und Pulver hat, nicht solch eine erbärmliche, lahme, kopfhängerische Jeremiade!» Da setzte ein lustiger Galopp ein, Leib und Seele elektrisierend, so daß die Lebenslust aus allen Poren prickelte.

Conrad hatte sich verspätet aus den fernen Abgründen seiner düstern Gedanken zurückgeholt. Als sein Geist wieder in der Wirklichkeit eintraf, fand er sich untätig dastehend, die Sache erledigt. Dagegen gewahrte er jetzt die Verwüstung und überschlug ingrimmig den Schaden. Ein nicht eben beträchtlicher, aber unverschmerzlicher Teil der Obsternte war dahin, einige Prachtbäume zu Krüppeln verunstaltet, ein edler Pfirsichsprößling unheilbar verwundet. Nicht der rechnungsmäßige Sachverlust war es, was ihn am meisten wurmte, sondern die Beeinträchtigung des wonnigen Anblicks, die Verletzung der vielen, zarten, feinfühligen Pflanzengefüge, die böswillige Vernichtung des Segens, den die Natur einem zum Lohne für geduldige, sorgsame Pflege zugedacht hatte.

Während sein Zorn Stufe für Stufe emporstieg, ohne noch völlig den Höhengleichwert des verübten Frevels erreicht zu haben, kam nachträglich noch ein Stein geflogen, hierauf nach einer Pause ein zweiter und später ein dritter. Jeder zeichnete ungefähr die nämliche Flugbahn, so daß augenscheinlich ein einzelner Schütze irgendwoher aus einem entlegenen Versteck zielte, wo er sich für geborgen hielt.

Und er selber, Conrad, schien das Ziel vorzustellen, der gesondert am Rande der Mauer sich bewegte, denn wohin er auch treten mochte, so hatte er immer die Fluglinie in derselben Verkürzung vor sich, obschon das Geschoß bedeutend unterhalb seines Standortes in den Rasen aufschlug: offenbar mangelte dem Schützen jegliche Kraft, aus dem unsicheren Pendeln der Kiesel zu schließen.

Geraume Zeit wollte ihm nicht gelingen, den Urheber zu erspüren, hauptsächlich weil der glänzende Abendschein sein Auge blendete. Überhaupt, man meinte, es wäre noch Tag, und es war doch nicht mehr das ganze Licht. Die Niederung hatte sich schon getrübt; die Gruppen der Dinge vereinigten sich zur Masse, welche einen gemeinschaftlichen scharfen Linienriß zeichnete; um die Dächer wisperte eine verfrühte Fledermaus.

Endlich hatte er ihn doch, und zwar nicht unter sich, sondern seitwärts, hinter der Kirschenallee, bei des Schreiners Hansjörgens Scheune, unter den Nußbäumen. Wenn man ihn fassen wollte, so war die einzige Möglichkeit, ihn von hinten zu nehmen, vom Ackerfeld her, um ihm die Fluchtlinie abzuschneiden. Allein lohnte sich's überhaupt? Eigentlich ja schon; lohnt es sich doch immer, einen Übeltäter abzustrafen; aber seine Glieder waren, offen gestanden, ein wenig tatenmüde, und seine Seele zog ihn nach einer anderen Richtung, nach einem Krieg, der ihm näherging und von wo ihm ärgeres Unheil drohte als Sachschaden.

Da wollte es der Zufall, daß ein erneuter Wurf, noch schwächlicher als die früheren, in die Quelle geriet. Der Stein im seichten Wasser klatschte beleidigend wie eine Maulschelle. Oder war es die Verunreinigung des klaren, trinkbaren Wassers oder die Verunehrung des segensprechenden Bergmundes, was ihn aufbrachte? Kurz, der Petsch bestimmte seinen Willen. Jetzt mochte er ihn züchtigen.

Möglichst unauffällig, die Hände hinter dem Rücken gefaltet, als ob er spazierenshalber sich erginge, schlenderte er zum Hause hinüber und drückte sich hart an der Mauer entlang, wie der Jäger, der ein Wild beschleicht.

Die Steinwürfe folgten noch der ursprünglichen Richtung, sein Verschwinden war demnach dem Feinde unbemerkt geblieben.

Anna guckte aus dem Speisezimmer.

«Was schlägt's?» fragte er nachlässig, nur um etwas zu sagen, als eben die Kirchenglocke schlug.

«Acht Uhr», erwiderte sie.

«Rüste mir etwas zu essen.» Hiermit war er bei ihr angelangt. Sie blickte getroster.

«Er ist jetzt wieder vernünftiger», raunte sie ihm zu, indem sie zum ersten Male seit langen Stunden wieder lächelte. «ich habe ihn bei mir unten in der Wohnstube zusammen mit dem Doktor.»

Da, eben, als er vorbeischreiten wollte, hörte er durch das Eßzimmer hindurch aus der Wohnstube den Vater greinen wie ein von Chirurgen gemartertes Kind. Nun hielt er den Fuß und den Atem an, und seine Seele verfinsterte sich. Was sollte nun das wieder bedeuten? Galt das etwa ebenfalls ihm? Und wieso denn?

Zunächst vermochte er keine Worte zu unterscheiden, denn der Doktor redete gleichzeitig auf den Alten ein, so daß die Silben beider, einander deckend, sich in seinem Ohr verwirrten. Endlich lamentierte der Alte einen Augenblick allein. «Den Todesstoß versetzt», vernahm er. Nichts als diesen Brocken eines Satzes; doch wie ein Blitzstrahl erleuchtete und vernichtete ihn dieses Bruchstück.

Also, so war es von nun an gemeint? Märtyrermienen und anklagende Seufzer, Blicke, Gebärden, Anspielungen bis ans Ende der Tage? Hernach ein Grabstein, auf dem mit ewiger, unauslöschlicher Schrift geschrieben stand: «Du, mein eigener Sohn, du bist mein Mörder!» Und wie sollte er dem begegnen? Mißhandlungen kann man dulden oder sich dagegen auflehnen, Reden widersprechen, aber vor stummen Vorwürfen gibt es keine Rettung. Er schauderte, und schwarze Verzweiflung umnachtete seinen Geist. «Ich verfluche ihn doch», schrie es in ihm, und seine Hände griffen wild umher, erschlafften aber sofort und sanken mutlos längs dem Körper dahin. Er wußte nicht mehr, was er tat und was er vorhatte. Aber der Wille, der ihn dahergetrieben, stieß ihn auf der vorbestimmten Bahn fort wie eine Maschine auf dem Geleise.


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