Carl Spitteler
Conrad der Leutnant
Carl Spitteler

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Derweilen schnurrte oben Cathri zu Anna heran, rot wie eine Klatschrose. «Im Tanzsaal bediene ich länger nicht», rief sie, die Arme schmeißend.

«Warum?» schien Anna zu fragen, denn hören konnte man ihre leise Frage von unten nicht.

«Darum!» wetterte Cathri. Hernach entfuhr es ihr: «Weil es Schweine sind!»

Der «Pfauen»-Wirt, der dabeistand, lüpfte verächtlich die Schultern, Helene, in der Nähe wirtschaftend, rümpfte spöttisch den Mund, und Anna maß die Bernerin mißtrauisch von oben bis unten. «Es wird wohl noch ein anderer Grund dabei sein», entgegnete sie anzüglich, mit erhobener, langsamer Stimme, damit es der Bruder höre: «Ihr bedientet wohl lieber an einem andern Ort.» Damit blinzelte sie zu ihm herunter.

«Zwingen kannst du sie nicht», vermittelte Conrad, an die Mauer tretend.

«Wie soll ich dann einer andern zumuten, was sie verweigert», rief sie gereizt zurück. «So übernimm doch du das Servieren im Tanzsaal!»

Nun ward er unwillig.

«Im Tanzsaal serviere ich höchstens mit dem Stock oder mit der Reitpeitsche», rief er.

Bei diesem unbedachten Spruch rückte der Alte herbei, hart an die Mauer, zornbeladen, mit blutunterlaufenen Augen.

Die Kellnerinnen ihrerseits hatten sich in die Nähe gezogen, um die Verhandlung aufzufangen, die sie alle anging. Darüber wurden die Gäste aufmerksam, von denen die nächsten sich gierig erhoben, damit sie keine kostbare Silbe des Wortwechsels verlören. Es drohte ein Auflauf, ja, falls der Alte den Mund erschloß, Schimpf und Schande. Denn an seinen Augen konnte man ablesen, was ihm ungefähr unter der Zunge kochte. Gleichzeitig lärmte vom Tanzsaal ein Aufruhr wegen der mangelnden Bedienung. Kurz, es entzündete sich.

«Wozu ist denn die Brigitte auf der Welt, daß keiner an sie denkt?» schmälte Josephine ablehnend. «Die nimmt es doch, wenn's sein muß, mit dem heiligen Antonius in Person auf, mitsamt seinem Schwein.»

Kaum vernahm Brigitte die trauten Töne ihres Namens, so begriff sie sofort, daß sie damit gemeint sei, denn sie verstand ihren Namen und ihre Person geschickt aufeinander zu beziehen.

«Was!» plärrte sie aufgebracht. Es dauerte eine Weile, bis man ihr beigestoßen, worum es sich handle. Dann zuckte sie überlegen die Schultern.

«Die Wagginger sind so gut Menschen wie andere Leute», erklärte sie entrüstet, mit einem anzüglichen Blick auf Cathri. «Deswegen sind sie noch lange keine Schweine, weil sie zufällig zwei Beine haben, statt vier, wie mancher andere.» Und ohne weiteres stürmte sie mit unternehmender Gebärde die vier Stufen des Treppchens hinan in den Tanzsaal.

So löste sich die Verwicklung und verteilte sich die Entzündung, indem jedes friedlich auf seinen Platz zurückkehrte, ein bißchen ungern, denn wenn man einmal den Hahn gespannt hat, ist es mühsamer, ihn wieder abzuspannen als ihn loszuschnappen.

Cathri aber stattete Conrad von ferne eine scherzhafte Verbeugung ab zum Dank für seine Unterstützung. Und sooft ihre Arbeit sie längs der Mauer vorbeiführte, erteilte sie ihm ein unauffälliges Zeichen des Einverständnisses mit Blick oder Gebärde, oder auch einfach durch Räuspern, das sie mittels der vorschützenden Hand in ein kleines, schüchternes, verstohlenes Kußhändchen auszumünden wußte.

 

«Anna!» begehrte Conrad, «wir bedürfen noch einer vierten.»

Da rief Anna mit scharfer Stimme nach hinten: «Cathri, mein Bruder verlangt sehnsüchtig nach Euch.»

Cathri erschien mit einem leuchtenden Gesicht des Wiedersehns. Ihr auf dem Fuß, doch mit verschiedenem Takt und Schritt, folgte die Schwester.

Verdrossen machte sich diese zu ihrem Bruder heran, mit abgewandtem Blick: «Man geht nicht in die Pinte», verwies sie strenge, «man sitzt nicht neben der Jucunde.»

Conrad fuhr auf. «Du», erwiderte er, «du tätest auch besser, auf dich selber zu achten, als meinen Pestalozzi zu spielen. Der blaue Doktor verschlingt dich ja mit den Augen, daß sogar ein Blinder es bemerken muß. Solange ihr noch nicht öffentlich verlobt seid, solltet ihr soviel Takt besitzen, euch weniger auffällig zu benehmen. Nimm mir's nicht übel.»

Anna schluckte und verstummte.

«Bah», warf Cathri nachlässig hin, «einem jungen, unverheirateten Burschen ist alles erlaubt.»

Anna drehte sich nach ihr um wie von einer Wespe gestochen: «Nette Grundsätze das, fürwahr, bei Euch zu Hause», höhnte sie.

Cathri warf den Kopf in den Nacken, flink und schlagfertig: «Wir werden wohl bei uns zu Hause genausoviel taugen wie ihr hierzulande, nicht mehr und nicht weniger.»

Anna würgte nach einem niederschmetternden Gegenhieb, fand aber keinen. Da rümpfte sie die Nase, wie wenn sie etwas Ekelhaftes röche, und räumte leidenschaftlich das Feld, eine Wolke von Erbitterung in jeder Bewegung verbreitend.

«Wohl», murmelte Conrad, «jetzt fängt das Weibervolk ebenfalls an!»

Sich einzumischen fiel ihm nicht von ferne ein, denn vom Weiberstreit hält ein kluger Mann den Finger, das hatte er von Jugend auf als oberste Weisheit gelernt, worin alles Volk ohne Unterschied des Standes und der Partei übereinstimmte.

Aber als nun Cathri im Siegestriumph sich ihm traulich nähern wollte, trat er zurück und erteilte ihr einen Verweis.

«Ihr solltet immerhin meiner Schwester in höflicherem Tone begegnen», rügte er.

Da schoß sie zornschnaubend von dannen wie ein angeschweißter Eber. Er aber rief sie gebieterisch zurück, zu dreien Malen, und jedesmal drohender, bis sie sich endlich herbeifügte.

«Ihr habt Euch für heute bei uns in Dienst verpflichtet», erklärte er, «folglich seid Ihr uns nicht bloß Gehorsam, sondern auch Untergebenheit und Bescheidenheit schuldig, mir und meiner Schwester. Morgen könnt Ihr dann wieder grob sein, wenn Ihr wollt.»

Und da sie vor Zorn ungeduldig zappelte, als ob der Boden unter ihr brennte, stellte er sie geflissentlich noch länger: «Beiläufig», hub er an, «was ich Euch fragen wollte: Ihr habt also oben im Tanzsaal aufgewartet. Was erhieltet Ihr dort für einen Eindruck?»

«Daß es Schweine sind.»

«Unbestritten», antwortete er und konnte das Lachen kaum verbeißen. «Doch das haben wir bereits vernommen. Ich meine, ob Ihr nicht etwas wie – wie soll ich sagen? – wie feindselige Veranstaltungen bemerkt habt?»

«Gott gebe, daß sie sich gegenseitig auffressen!»

«Ein Menschenfressergebet!»

Sie sah ihn patzig an und blickte scharf und gescheit: «Ihr werdet wohl auch manchmal eine Bitte zum Himmel gesandt haben, die nicht im Vaterunser steht.»

Da errötete er heiß und ward ernst und nachdenklich.

«Ihr könnt jetzt gehen», erlaubte er zerstreut. Sie ging, er aber war nicht mit dem Erfolg zufrieden. Er hatte sie mit den Türmen mattsetzen wollen, und jetzt war er rams. Seine geheime Rechnung war: beuge sie, übertrumpfe sie, so wird sie dich liebhaben. Statt dessen war nun sie ungebeugt, er aber, da er ihr jetzt trotz ihrer Störrigkeit mit Wohlgefallen nachsah, spürte, daß er sie lieb hatte. Gewiß, ein bißchen weniger gesalzen – das war sicher – dürfte sie ohne Schaden sein, bedeutend weniger gesalzen sogar. Und die harten blaßblauen Gläslein, die ihr als Augen dienten, hätte er ebenfalls anders gewünscht, wenn's einmal ans Wünschen ginge. Zwei Augen, so kalt und nüchtern, als ob man durch lauteres Quellwasser den hölzernen Brunnentrog sähe.

Aber sie war nun einmal wie ein Stück von ihm, seit heute morgen. Und wenn sie frostig war, ein Grund nicht, ihr ein Büschel Strahlen aus seinem Herzen hinüberzusenden, um sie zu wärmen. Übrigens: Mängel, Fehler, was schadet das? Seine eigenen Fehler darf man doch liebhaben, nicht wahr? Warum also nicht auch die Fehler derer, die zu einem gehören?

Übrigens hatte er Gesellschaft bei seinem Wohlgefallen. Wohin Cathri trat, erregte sie Aufsehen. Die Unterhaltung verstummte, der Bissen zum Munde blieb unterwegs, man starrte ihr sprachlos nach. Die Formvollkommenheit ihrer Gestalt und ihres Antlitzes war ihm nicht so außerordentlich aufgefallen heute vormittags zu Hause unter den Frauenzimmern, sie hatte ihn einfach befriedigt, jetzt aber lieh ihm die Höhe und Allgemeinheit der Bewunderung das Maß.

Selbstbewußte, gewichtige Männer, wie der Gasdirektor Wyniger, erröteten, wenn ihr Arm im Vorbeieilen sie streifte, eingebildete Manschettengecken, wie der junge Vonderheiden, der Grasaff, welcher mit höhnischem Grinsen die Menschheit anödete, die Beine unter dem Stuhl des Nachbars, schlugen vor ihrem Blick befangen die Augen nieder und setzten sich hastig zurecht. Entglitt ihren Händen ein Gegenstand, so bückte man sich rundum im Wettstreit wie vor einer vornehmen Dame.

Herrschaft! Würde das eine «Pfauen»-Wirtin abgeben! Und was für ein gesegnetes Nest rotbackiger Sprößlinge! Rauflustige Kletterbuben, welche ein halbes Dutzend zu Boden schlügen, oder dralle Dirnchen, bolzgerade aufrecht, mit Zöpfen bis in die Kniekehle, jedes zwei Grübchen im Gesicht, eins im Kinn und eins in der rechten Wange, oder noch besser, beiderlei Nachkommenschaft zusammen.

Und tüchtig, weiß Gott, war sie auch. Wie sie bediente! In dieser Beziehung hätte ihr selbst die grämliche Hexenbase die Anerkennung nicht versagen können. Ruhig und selbstbewußt in der heftigsten Bedrängnis wie ein geschulter Soldat im Feuer. Nichts von dem kopflosen Umherstürmen der andern, jammernd und scheltend, als ob man ihnen die Jungen geraubt hätte. Und was er ganz besonders schätzte: sie bediente vollkommen unparteiisch. Nicht wie die empfindsame Josephine, welche bei jedem fleischprotzigen Turner hangen blieb, oder wie die ideale Helene, welche Hören und Sehen vergaß, wenn ein Männerchor anstimmte, mit säuselnden Bässen und himmelnden Tenören, oder wie die läppische Brigitte, welche auf den Tod die Alten nicht ausstehen konnte, so daß sie den ehrwürdigsten Nationalrat verdrießlich aufsuchte, als besorgte sie einen Heiratsantrag von ihm. Cathri bediente jedermann gleich, sei er alt oder jung, hübsch oder häßlich, vornehm oder gering, verzog auch nicht schnippisch den Mund, wenn einer bloß Zuckerwasser bestellte; Auftrag und Ausführung galten ihr alles, die Menschen waren ihr gleichgültig. Zu gleichgültig sogar. Denn sie benahm sich gegen die Gäste stolz, hochfahrend, um nicht zu sagen beleidigend. Nein, eigentlich beleidigend war es nicht; denn wenn nun einer sich über sie beklagte und Rede stehen sollte, so wußte er nichts Bestimmtes anzuführen. Aber, wie soll ich sagen? abweisend, feindselig. Ja, feindselig.

Die Bestellung empfing sie mit einem Gesicht wie ein Erzengel, der von einem sündenbeschmutzten niedern Menschenkind eine Bitte anhört; Trank und Speise setzte sie herablassend wie eine unverdiente Gnade vor. Und wehe dem, der sich die mindeste Hofmacherei erdreistete, sei es nun in Worten oder Mienen! Den behandelte sie fortan mit unverhohlenem Abscheu, wie einen übelriechenden Käfer, war auch schlechterdings nicht mehr zu versöhnen, weder durch süße Reden noch durch Trinkgelder. Nur das beschimpfende Wort, das ihr auf der Zunge schwebte, verbiß sie, solange sie bediente, mit unfehlbarer Selbstüberwindung.

Offen gestanden, ihre maßlose Sprödigkeit mißfiel ihm nicht durchaus. Es kehrte ein Geist ehrerbietigster Zurückhaltung ein, der ihre jeweilige Umgebung vornehm stempelte.

Während er so seinen Betrachtungen nachhing, stupfte ein fremder Ellenbogen den seinigen. «Herr Reber, schlaft Ihr? oder studiert Ihr über einen Feldzugsplan?» Und wie er nachschaute, war es Cathri selber gewesen, die lachend enteilte.

«Die verflixten Weiber!» murmelte er belustigt, «ist es nicht, als ob sie einem alle Gedanken an der Stirne abläsen?»

Der Portier torkelte im Zickzack heran, wie ein erratischer Block, unterwegs die Gäste anrempelnd, ohne sich zu entschuldigen, nicht absichtlich, sondern aus naturwüchsiger Ruppigkeit. «Herr Reber, Euer Vater läßt Euch sagen, der Oberst Allegri von Mendrisio habe schon dreimal nach Euch gefragt. Ihr möchtet endlich Euer benedeites Antlitz blicken lassen, meint der Vater, oder ob Ihr Euch etwa einbildet, der Herr Oberst müsse Euch nachlaufen, mit heraushängender Zunge wie ein Jagdhund.»

Er zauderte und zweifelte; der unglimpflichen Aufforderung des Alten hätte er selbstverständlich zuwidergehandelt, dem Obersten Allegri jedoch, der ihm stets väterliche Gewogenheit bewiesen, mochte er unbedingt seine Ehrerbietung abstatten.

«Ist der Vater dabei?» fragte er.

«Ja», lautete die Antwort.

«Ich komme», brummte er finster und machte sich auf.

«Haltet Euch gut», rief ihm Cathri nach, spottend, aber doch in ernsthafter Meinung. «Nehmt Euch zusammen, daß Ihr nicht wieder die Erbsen verschüttet, denn ich komme nicht zum zweiten Mal am hellen Tage das ‹gute Gespenst› spielen.»

«Haltet mir den Daumen», spaßte er mit verzweifeltem Humor.


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