Carl Spitteler
Conrad der Leutnant
Carl Spitteler

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Er wählte den Pfad durch die Matte, um abzukürzen, dann auf halbem Wege verlangsamte er den Schritt, um später einzutreffen. Denn man sollte nicht etwa meinen, er hätte Eile, sich auf Befehl einzustellen.

«Hier muß mir eine Hecke hin», murmelte er stirnrunzelnd, als er das Gras neben dem Weg zertreten sah.

Schließlich langte er trotz allem Zögern doch an, beinahe gegen seinen Willen.

Ein paar abenteuerlich geschniegelte Radler, von Cathri bedient, hatten sich unterhalb der Mauerbrüstung in die Wiese vorgeschoben, von wo sie eine schallende Fröhlichkeit von sich gaben, um die Aufmerksamkeit an sich zu ziehen.

Sonderbar, fast ungehörig mutete es ihn an, daß er von allen Menschen gerade Cathri zuerst wieder sah. Er hatte, einfältigerweise, angenommen, sie würde zuletzt erscheinen wie die Hauptspielerin im Theaterstück. Mit leichtem Kopfnicken schritt er, an der Gruppe vorüber, seines Weges weiter nach dem Ende der Mauer hinan. Dabei widerfuhr ihm aber, daß er dem Vater ins Gesicht blickte, der, kaum zehn Meter in der Luftlinie entfernt, zufällig von der Mauerbrüstung herunterschaute. Der Alte schloß mit bösem Seitenblicke die Augen wie eine Eule am Mittag. Da verspürte er wieder den gewohnten feindseligen Schlag, eine Art Rückstoß, wie von einem schweren Geschütz. Weg war mit einem Mal sein löblicher Vorsatz. Es ging nicht; es ging einfach nicht.

Also kehrte er um und schlug sich in die Nähe der Radler, ständlings und ohne sich anzulehnen, unter einen mächtigen Birnbaum. Dort winkte er der Bernerin ein Zeichen mit dem Kinn.

Diensteifrig eilte sie herbei: «Ihr habt Euch keine langen Ferien gegönnt, Herr Reber», grüßte sie ihm entgegen.

Er ging auf diese Bemerkung nicht ein. «Cathri, wir sind Euch alle zu großem Dank verpflichtet», begann er feierlich und ein wenig befangen.

«Wofür?»

«Nun, heute morgen. Ihr wißt ja. – Zwischen mir und dem Vater. – Tut doch nicht, als ob Ihr nichts wüßtet! – Mit dem Peitschenstock. – Ihr habt uns möglicherweise vor einem schweren Unglück bewahrt.»

«Ach so? Das?» lachte sie gleichgültig.«Ein Idyll aus der ‹Schweizerfamilie› war es freilich nicht.»

«Wirklich, ich habe Euren Mut bewundert.»

Sie lachte wieder. «Man muß es halt mit den Männern halten wie mit den bissigen Hunden: nur ja keine Furcht vor ihnen zeigen.»

Er aber blieb ernst. «Ihr mögt Euere Tat verkleinern», versetzte er, «ich aber betrachte Euch von jenem Augenblick an als meinen guten Geist.»

«Geist hat mir bisher noch niemand nachgesagt», scherzte sie ausweichend. Aber sein Spruch schien sie doch zu freuen.

Helene schwebte heran. «Cathri, die Jungfer Reber läßt Euch sagen, Ihr müßtet in den Tanzsaal; Josephine bediene von nun an in der Wiese.»

Die beiden sahen befremdet auf

«Warum?» fragten sie fast gleichzeitig, wie zwei Kutschenpferdchen, wo eins höchstens um Zollbreite dem andern voraus ist.

Helene zuckte die Achseln. «So ist mir halt befohlen worden; mehr weiß ich nicht.» Aber ihre schwärmerischen Augen schillerten schadenfroh. Da schauten Cathri und Conrad einander verständnisvoll an, mit einem ausdrucksvollen Doppelblick, welcher sagte: «Ich begreife, und du?» – «Ich ebenfalls.» – «Es soll ihr aber doch nicht gelingen, uns zu entzweien, gelt?» – «Im Gegenteil, jetzt halten wir um so fester zusammen.» So vereinigte sie der Trennungsbefehl enger, als wenn sie einen langen Winter sämtliche Hochzeiten des Kantons miteinander durchgetanzt hätten. Hierauf begab sich Cathri vergnügt nach dem Tanzsaal.

Helene jedoch zauderte, als ob ihr nachträglich etwas einfiele: «War das vielleicht Euere Braut, Herr Reber?» heuchelte sie, «die Jungfrau, mit welcher Ihr im Stationsgärtchen zusammensaßet?»

Allein er war vorbereitet. «Was jene ist, geht Euch nichts an. Hingegen, was Ihr seid, das will ich Euch sagen! Eine recht mittelmäßige Kellnerin seid Ihr. Ja, guckt mich nur an, das seid Ihr. Eine gute Kellnerin erkennt man daran, daß sie sechs Augen und vier Ohren hat. Dort ruft man nach Senf, und keine zwei Schritte von uns winkt Euch einer verzweifelte Zeichen, wie ein Ertrinkender, und Ihr merkt von alledem nichts.»

«Das geht mich nichts an», erwiderte sie ungehalten, «ich bediene oben, nicht hier.»

«Ihr könnt von Glück sagen, daß nicht ich im ‹Pfauen› regiere, sondern einstweilen noch der Vater. Denn wenn ich einmal Meister bin und eine Kellnerin entschuldigt sich damit, daß sie an einem andern Platz bediene, so gebe ich ihr den Lohn,»

Verblüfft schlich sie von dannen.

«Das war Nummer eins», zählte er.

Nun trippelte Josephine herbei, schnippisch und fürwitzig. Die Äuglein glänzend vor schelmischer Spitzbüberei. Allein, wie sie die abgetakelte Miene Helenens gewahrte, erachtete sie den Boden nicht für geheuer, rüstete schleunigst ab und drückte sich neben Conrad vorbei an ihren Arbeitsposten, ohne ihre kleine Weiberbosheit abzuschießen.

«Wo bleibt Nummer zwei?» dachte er und wartete. Allein er wartete vergeblich; wenigstens einstweilen.

 

Über ihm, jenseits der Mauerkrone der Terrasse, ging es zu wie in einer Volksszene auf dem Theater. Eine grüne Bühne voll Menschen und kein Leben. Eine Menge von Köpfen, behutete und barhäuptige, bärtige und glatte, männliche und weibliche, lugten über die Rampe, wie abgeschnitten und zum Verkauf ausgestellt. Und alle, ohne Unterschied, Stadtvolk wie Landvolk, schnitten wichtige Gesichter, um für bedeutend zu gelten. Es fehlte zur vollendeten Stumpfheit bloß noch ein Jägerchor. Obgleich sie sämtlich zu schweigen schienen, erhob sich doch aus ihrer Mitte ein Getöse wie von hundert schwatzenden Stimmen. Dazwischen schossen die Kellnerinnen unwirsch kreuz und quer, verfolgt von den grimmigen Blicken des Alten, der ihnen, wenn er ihnen nahekam, was freilich bei seiner Schwerfälligkeit nur durch Wegelagerei gelang, verstohlen einen schimpflichen Ausputzer zuraunte, zwischen zwei süßlichen Lächeln an die Gäste. Die einen von ihnen wischten sich hastig die Augen, ehe sie ihre Ballettänzerfreundlichkeit wieder gewannen, andere maulten wütend vor sich hin. Helene drückte jedesmal beim Vorbeigehen einen neidischen Blick wegen der Radler gegen Josephine ab. Anna, welche im Gewühl besonnen der Ordnung wartete, sah oft zu ihm herunter, tat aber, als ob sie ihn nicht erkennte. Neben ihr auf einer Bank kauerte ihr Doktor in blauer Militäruniform, der sie unverwandt anstarrte. – So oft die Tanzmusik anhob, mit quiekenden Klarinetten, kreischend und hustend, hefteten sich sofort alle Blicke an die Fenster des Tanzsaales, ausdruckslos und träge. Beim Schmettern der Trompete verhielten sich die Stadtfrauen die Ohren.

Ob sie nicht ebenfalls lieber in die Matte herunterkommen wollten, riefen die Radler ihren Bekannten zu, mit übermäßigen Gebärden. Es sitze sich hier im saftigen Grase angenehmer und man werde weniger von dem Tanz-Gedudel belästigt.

Jene gehorchten geräuschvoll der Einladung, und als ob das ein maßgebendes Beispiel gewesen wäre, brach allsofort ein weiteres Häufchen von der Terrasse auf, um sich unten niederzulassen. Andere folgten wieder ihrem Vorbild, so daß der Umzug allmählich in eine förmliche Auswanderung ausartete. Ein Tisch nach dem anderen mit Dutzenden von Stühlen mußte in die Matte geschleppt, eine zweite, hierauf eine dritte Kellnerin Josephine zur Aushilfe beigeordnet werden.

Die Durchbrechung der hergebrachten Platzregel aber, mit ihrer Unordnung, mit ihren Zwischenfällen, wie sie Unvorhergesehenheit und Ratlosigkeit im Gefolge zu haben pflegen, bewirkte eine knabenhafte Ferienstimmung, so daß die Gesellschaft ihre lästige Leichenfeierlichkeit verabschiedete und sich freier Fröhlichkeit hingab. Während das Landvolk diese hauptsächlich durch steiferen Trunk betätigte, hielten sich die stubenmüden Städter mehr an die Geschenke der Natur. Vor allem die unscheinbare Quelle, die aus der Matte rieselte, beschäftigte die kleinen und großen Stadtkinder. Als ob das ein Jungbrunnen wäre, umstanden sie sehnsüchtig das flüssige Wunder, sinnend und träumend. Von den vielen Luftgebilden, die da von Herz und Hoffnung in den Frühling gebaut wurden, entstand eine ganze Phantasiestadt.

So geriet Conrad ohne sein Zutun an die Spitze einer Geschäftsherrschaft. Es bildeten sich zwei Lager, ein oberes, wo der Vater schaltete, und ein niederes, dem Sohn untertan. Dort ließ sich vorwiegend das behäbigere Alter nieder, hier die laute Jugend. Da aber die frischen Ankömmlinge mit Vorliebe nach der Wiese abschwenkten, teils der Abwechslung und Ausnahme wegen, teils weil dort bewegteres Leben winkte, schwoll das untere Lager stetig an, während das obere schwand. «Wie ein Vorzeichen», dachte Conrad.

Mißgünstig beobachtete der Alte den Zuwachs des gegnerischen Regiments, und bei jedem neuen Platztausch rollten seine Augen: «Man sollte fast meinen, es verzapfe einer unten bessern Wein als oben», brüllte er, «und stammt doch aus dem nämlichen Faß.»

«Es angelt ja niemand nach ihnen», rief Conrad zurück, «und mit Gewalt kann ich sie doch nicht zurücktreiben.»

Bei alledem machte jedoch keiner dem andern sein Volk abspenstig; dazu waren sie beide zu geschult und zu klug. Im Gegenteil, sie halfen sich aus und spielten sich in die Hände. Mit der Zeit, als der Raum unten allmählich anfing knapp zu werden, füllte sich's auch oben wieder, so daß schließlich ein ebenmäßiger Ausgleich stattfand.

Wie sie nun so gemeinschaftlich einheitlicher Arbeit pflogen, jeder auf seinem Posten, rückte der innere Herzensgegensatz bis auf weiteres in den Hintergrund. Eine Art Achtung voreinander gewann die Oberhand. Mitunter, nachdem der Alte einen prüfenden Blick in die Matte geschickt hatte, grunzte er unverständliche Worte vor sich hin, was bei ihm Zufriedenheit besagen wollte. Conrad seinerseits mußte zugeben, daß des Vaters fürchterliche Blicke musterhafte Ordnung hielten.

Hierüber regte sich sein Gewissen.

«Josephine», befahl er, «Josephine, seid so gut und geht zum Vater. Ich ließe ihm sagen, es setze heut abend Streit im Tanzsaal, ich wisse es ganz bestimmt.» Josephine ging und kam zurück.

«Was hat er geantwortet?»

«Nichts, nur so geschnarcht.»

«So geht noch einmal; ich lasse ihn eindringlich ersuchen, meine Warnung nicht auf die leichte Achsel zu nehmen. Es sei eine abgekartete Sache; ich hätte es von den Waggingern selber gehört.»

Abermals ging und kam Josephine.

«Es sei gut», berichtete sie, «er habe es bereits das erste Mal begriffen. Man brauche ihm etwas nicht zweimal zu sagen, da er gottlob weder taub noch töricht wäre.»

«Dann basta! Fertig! Zum dritten Mal sage ich ihm's nicht.»

Doch nach einer Weile beunruhigte ihn seine Verantwortlichkeit gleichwohl wieder. «Josephine», bat er, «sagt dem Vater, es tue mir aufrichtig leid, zum dritten Mal darauf zurückzukommen; allein es lasse mir in Gottes Namen keine Ruhe. Um sechs Uhr gehe es los. Nach meiner Meinung müßte man für ein paar Dutzend handfester Burschen sorgen.»

Diesmal kehrte Josephine laut schluchzend zurück. «Euer Vater ist ein Ungeheuer. So lasse ich mich nicht behandeln!»

«Was hat er gesagt?»

«Ein ausgeschämtes, niederträchtiges Mensch hat er mich genannt!»

«Das habt Ihr allerdings nicht verdient, Ihr am allerwenigsten. Nehmt meine Entschuldigung statt der seinigen. Es tut mir also leid. Aber ich meine, was er Euch für einen Bescheid für mich mitgegeben hat?»

Heftig platzte sie heraus: «Ihr brauchtet Euch nicht um umgelegte Eier zu kümmern. Er wisse schon selber, was ihm zu tun obliege, und brauche keinen Lehrmeister. Übrigens, wenn Ihr denn so ein Hasenfuß wäret, so könntet Ihr Euch ja unter Jucundens Unterrock verstecken.»

«Oho!» knirschte Conrad, vom Boden aufjuckend und die Fäuste ballend. Darauf stampfte er zornig auf und ab. «Tod und Teufel sollen mich holen», schwur er, «wenn ich heute abend einen Finger rühre.» Dieser Schwur schaffte ihm zunächst wieder Frieden, aber einen finstern Höllenfrieden.


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