Carl Spitteler
Conrad der Leutnant
Carl Spitteler

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Conrad aber blieb zurück, um die Verwüstung zu prüfen, wie er sich weismachte, in Wahrheit deshalb, weil er das eroberte Schlachtfeld noch nicht verlassen mochte. Hier hatte er endlich geherrscht, hier zum ersten Male seines Lebens die häusliche Gewalt ausgeübt. Nun war leider sein Reich zu Ende. Schade! so früh! ehe es nur recht begonnen.

Überhaupt, er war noch nicht satt, der Hauptschlag fehlte, der Kampf war in den Frieden gekrochen wie der Rhein in den Sand. Freilich, sie hatte es ja herzlich gut gemeint, seine Schwester, und vernünftiger war es jedenfalls; nein, ganz gewiß. Und richtiger auch. Wo nicht, so befleckte ihn vielleicht gegenwärtig die Schuld und zerfleischte ihn die Reue. – Immerhin, es hätte ihm gut getan, nochmals gründlicher drauf. Das tapfere Handwerk löste ihm den Zorn, wusch ihm die Galle.

Himmel, wie sah es um ihn aus! Die Bühne zertrümmert, die Bänke geborsten, der Kronleuchter in Stücken, sogar den Ofen hatten sie geschändet! Wie die Wildschweine hatten sie gehaust! Gut, hatte er das nicht früher gesehen! Wer weiß, ob er ihnen so leicht Gnade gewährte!

Sehnsucht und Hoffnung lockten ihn ans Fenster, ob vielleicht noch ein Nachsatz anzubringen wäre. Doch Flucht und Verfolgung wälzten sich bereits tief den Rain hinab, unten in einen harmlosen Wettlauf ausartend. Nebenher im Gefilde ein dünner Schwarm Abgesprengter und töricht Umherrennender; oben am Rain unter einem Birnbaum ein verstecktes Nest, nach geriebener Hasenschlauheit die Verfolgung von hinten genießend – jenseits bei den Reben der Wagginger Fürsprech, harmlos dahinschreitend und leutselig grüßend, als ginge ihn die Geschichte nichts an, dann plötzlich mit riesigen Sekundanten-Sprüngen im Weinberg verschwindend – im Grase den steilsten Hang hinab das Lehrerlein, flink wie ein Gummiball, die Ellbogen gleich Schwingen rührend und mörderlich trompetend vor Freuden über sein neugewonnenes, junges, grünes Leben. Da war nichts mehr zu holen.

Während er also im Saal verzog, aufgewühlt und unbefriedigt, gleich der Dogge, der man die Schüssel vorzeitig weggenommen, traf das lamentierende Spektakeln des Vaters sein Ohr, fern, doch unverkennbar. Als ob eine Mine unter ihm geplatzt wäre, fuhr er in die Höhe. Und bei jedem neuen Laut der väterlichen Stimme, der zu ihm drang, juckte er empor.

«Jetzt entweder oder», knirschte er, «jetzt muß sich's entscheiden», und leidenschaftlich die Arme verwerfend, jagte er mit Gewaltsätzen ins Freie.

Ein rotgoldener Lichtjubel blendete sein Auge, jauchzendes Beifallrufen sein Ohr. Aber haarscharf, wie in Metall gebosselt, ragte aus dem Glanze Cathris Büste, als stände sie unmittelbar vor ihm. Er tat einen Seitensprung und schüttelte die Arme: «Heran nun mit Eurem Hans, wenn er es wagt!»

Diesmal entfloh sie, die Augen voll Schrecken, obgleich eine mehrfache Menschenwand sie vor ihm schützte. Doch das war nur so nebenbei. Auf das Haus jagte er nun zu, die Lippen geöffnet und die Sprache entfesselt, denn keine Überlegung drückte mehr auf den Kehldeckel.

«Und nun, Vater, habe ich mit dir ein Wörtchen zu reden. Lange genug habe ich geschwiegen, jetzt aber muß es heraus, und zwar so, daß es alle Welt vernimmt. Das Leben, sag' ich dir, das Leben, wie ich es bisher ausgestanden, hat von heute an ein Ende. Ich will nicht länger den unmündigen Buben vorstellen, den man schilt, zankt, abkanzelt, den mißhandelten Knecht, an dem man seine üblen Launen ausläßt; ich begehre eine Stellung im Hause, wie sie dem Sohne gebührt, einen Winkel im Heimwesen, wo ich frei nach eigenem Ermessen schalte, wo mir niemand dazwischenredet, wo ich keinem Menschen Rechenschaft schuldig bin, kurz, wo ich befehle.»

«Befiehl, befiehl», eiferte der Alte, «du bist ja jetzt der Herr, wie es scheint, ich bin längst abgesetzt.»

«Entweder du behältst das Geschäft und ich baure, oder ich übernehme die Wirtschaft und du das Land.»

«Nimm's doch, nimm's», flennte der Alte, «wenn du doch meinen Tod nicht abwarten kannst. Nimm's alles.»

«Ich verlange keineswegs alles, ich will bloß meinen billigen Teil, damit man mir mit Achtung begegne, damit ich Frieden habe, damit ich meines Lebens froh sein und lachen kann, damit ich nicht meine Mahlzeit mit Ärger hinunterwürgen muß. Entweder du ziehst mit der Mutter in den oberen Stock und ich wohne unten, oder umgekehrt, du unten und ich oben.»

«Ich kann ja meinetwegen mit der Mutter im Stall bei den Pferden wohnen, das kommt dich billiger zu stehen. Ohnehin brauchen wir ja nichts weiter mehr als ein Bündel Stroh zum Sterben.»

«Mit solchen schändlichen, lästerlichen Redensarten ist mir nicht gedient. Ich heische einen vernünftigen, verpflichtenden Bescheid. Und zwar einen sofortigen. Willst du, oder willst du nicht?»

Ein beistimmendes Gemurmel der Menge unterstützte seine Forderung, so daß der Alte sich einer einhelligen öffentlichen Meinung gegenüber sah. Er jagte einen giftigen Blick unter das Volk, fletschte knurrend die violetten Lippen, spuckte mehrmals aus und verzog sich dann ohne Antwort ins Innere der Stube.

Da verrückte dem Jungen wahnsinnige Leidenschaft den Verstand. «Gut denn», schleuderte er dem Vater nach, «so geh' ich fort von heim, und niemand erblickt mich wieder. Und zwar augenblicklich, nur daß ich keine Stunde länger in diesem ungerechten, lieblosen Hause verbleiben muß.»

Ein empörter Aufruhr mißbilligte den Bescheid. Einige suchten ihn zu begütigen, andere traten ins Haus, um dem Vater zuzureden. Anna, welche der bedrohliche Auftritt herbeigezogen hatte, fiel dem Bruder weinend an die Brust. «Conrad!» flehte sie.

Er riß sich los. «Leb wohl, Vater», rief er dröhnend, «du siehst mich nie mehr. Grüß mir die Mutter.»

Wieder brauste die Entrüstung. Wohin er sich auch wandte, ward er freundschaftlich gehemmt, umringt, zurückgedrängt.

Da, unversehens, stürzte der Vater wie ein wildes Tier ans Fenster. «Ja, ja, ja, ja denn!» brüllte er, mit Gebärden, als ob er etwas hinschmisse.

Wie Erlösung seufzte es aufatmend durch die Reihen, denn die aufregenden Ereignisse hatten alle Anwesenden der Familie angegliedert.

Nun näherte sich Conrad festen Schrittes dem Vater: «So ist's also dein wahrer, ernsthafter Wille?»

«Ja, ja, ja», wiederholte der Alte gereizt, den Nacken schüttelnd.

«Reicht euch die Hände», rief es aus dem Volke.

«Es sei», genehmigte Conrad, «gib mir die Hand darauf», und reichte die seinige dar. Der Alte sperrte sich, als ob er in ein Schlangennest greifen sollte. Endlich gewann er sich's doch ab, mit einem heftigen Ruck, der die dargebotene Rechte wegstieß, nachdem er sie kaum gepackt hatte.

«Die Landwirtschaft oder das Geschäft?»

Der Alte keuchte; schließlich, mit einer letzten krampfhaften Überwindung, warf er die Hände über den Kopf.

«Alles!» preßte er polternd hervor und verschwand erschöpft.

«Ihr habt's vernommen, ihr seid Zeugen», sprach Conrad, nach dem Volke gewandt. Hierauf lehnte er sich mit beiden Armen auf den Sims und sprach in das Zimmer hinein: «Vater», sagte er feierlich, «Ihr sollt es nicht bereuen; das gelobe ich Euch mit heiligem Schwur. Ihr sollt von nun an einen treuen, dankbaren Sohn an mir haben, der es Euch und der Mutter an nichts wird fehlen lassen. Und so Gott will, wird fortan Friede und Frohsinn im ‹Pfauen› walten.»

Jetzt spürte er sich von seiner Schwester innig umarmt, die er tiefbewegt küßte.

Hernach blieb sein Geist gelähmt. Der nachträgliche Schreck über seine Vermessenheit ließ das Bewußtsein seines Erfolges noch nicht aufkommen. Auch die Umstehenden verharrten betäubt. Verlegenheit herrschte um und um, die Verlegenheit der Gedankenunzulänglichkeit angesichts einer plötzlichen folgenreichen Schicksalswendung. Gewohnheitshalber räumte das Gesinde den Erdboden vom überflüssigen Zeug, Matratzen, Kissen, Kleiderfetzen, Hüte und Scherben und was sonst noch nicht da her Gehörendes umherlag, in zweckmäßiger, doch unbewußter Arbeit. Unterwürfig, Dank und Glückwunsch im Auge, näherten sich die Musikanten, ließen jedoch, was sie sagen wollten, unausgesprochen. Die Waldishofer, die eben jetzt geräuschvoll von der Verfolgung zurückmarschierten, singend und prahlend, verstummten vor dem geheimnisvollen Schweigen.

«Conrad, was ist gegangen?» flüsterte Leutolf. Conrad gab keine Antwort, und da er den Doktor mit der abgespannten Miene eines von der Arbeit Ausruhenden um die Ecke biegen sah, eilte er diesem eifrig entgegen.

«Wie steht's?» erkundigte er sich besorgt. «Doch hoffentlich keine ernsten Verletzungen?»

Der Doktor kniff ein Auge zu und blinzelte mit dem andern herüber, ehe er geruhte, sich zu äußern. «Du kannst Gott danken, daß es so abgelaufen ist, oder vielmehr der Bernerin, daß sie Decken herbeibefahl. Es wäre sonst möglicherweise nicht so gnädig abgelaufen. Denen, die zum Fenster herauszogen, hat's keinem etwas getan, es gibt zum Glück manchmal solche Wunder; dagegen von den ersten, welche das Treppchen herabkamen, liegt einer in Behandlung.»

Dann verschluckte er die Stimme: «Ein gutartiger Oberschenkelbruch», munkelte er undeutlich mit geiziger Betonung.

Conrad war nicht im reinen, ob er sich nun über die «Gutartigkeit» Glück wünschen oder über den Oberschenkelbruch härmen solle.

«Wo liegt er?» fragte er einstweilen.

«Wir haben ihn vorläufig in der Scheune verbunden.»

«Wer pflegt ihn?»

«Die Lisabeth und die Brigitte.» Hiermit entfernte sich der Doktor, der Haustüre zu.

Danach ward es wieder stille, so stille, daß der Stundenschlag der Kirchturmsglocke, der jetzt zufällig tönte, wie ein wichtiges Ereignis wirkte. Automatisch zählte ein jeder nach: Eins – zwei – «sieben Uhr», lautete der Schluß. «Wie? schon sieben Uhr?» lief es erstaunt durch die Menge, obschon niemand wußte, warum er erstaunte.

Jedermann empfand, es müsse noch etwas dazu geschehen, sei es nun, um das Ergebnis zu ergänzen, sei es, um es wieder umzustoßen.

Da polterte des «Pfauen»-Wirts Stimme scheltend aus dem Innern der Stube: «Was steht ihr da und guckt die Backen hinab wie die Schafböcke! So laß doch wenigstens deinen Leuten einen Trunk aufwarten. Sie haben's wahrlich verdient.»

Conrad atmete auf. «Von welchem Wein?» fragte er in gehorsamem Ton.

«Was fragst du mich, Dilldapp? Du hast ja jetzt zu verfügen.» Und ein Bund Schlüssel flog Conrad vor die Füße.

 

Hiermit war der Bann gehoben und die Spannung gelöst.

Alles drängte sich zu Conrad heran, um ihm zu der erlangten Herrschaft Glück zu wünschen.

«Also, von nun an ‹Pfauen›-Wirt! Ich wünsche Euch Gesundheit und langes Leben, und daß es Euch wohl ergehe.» – «Und ich eine brave Frau ins Haus.» – «Und ich erlaube mir denn doch auch, Ihnen von Herzen zu gratulieren.» Eine Unzahl Hände schob sich vor, Hände von jeder Größe und Beschaffenheit, er wußte gar nicht, wohin zunächst greifen. Die eine schüttelte, die andere drückte und quetschte seine Rechte, einige zerrten ihm vor Freude beinahe die Schulter aus dem Gelenke, manche wieder legten nur schüchtern die Finger auf, die Gewährung des Grußes von ihm erwartend. Der Wachtmeister aber prügelte ihn vor Begeisterung.

«Meister», lächelten die Kellnerinnen, halb furchtsam, halb vertraulich, und ihr Auge bat um Verzeihung für Vergangenes, um Nachsicht für Zukünftiges.

Was tat Conrad? Er umarmte eine jede. Wahrhaftig, er umarmte sie. Und schämte sich nicht und es reute ihn nicht.

Josephine aber, im Begriff, ihm die Hand zu reichen, strahlend und lächelnd, warf sich plötzlich auf einen Stuhl und weinte wie ein Bächlein. «Ich mag's Euch halt so von Herzen gönnen», klagte sie und war gar nicht zu trösten.

Von allen Seiten jubelte in endloser Wiederholung, wie das Halleluja am kantonalen Gesangfest, sein Name; jenes Eigenwort, das von allen Wörtern der Sprache dem Menschen am süßesten klingt, wenn es aus dem Munde der Freundschaft tönt. Und sie waren ihm wirklich Freund, alle, ohne Unterschied, die ihn jetzt umzingelten, Bekannte wie Unbekannte; das las er am guten Klang, am warmen Blick. Woher kam ihm, dem gestern noch so Vereinsamten, nun plötzlich die viele Gunst? Wie ein glitzernder Komet mit einem leuchtenden Schweife flimmerte ihm die Ahnung auf, daß der Erfolg Ansehen schafft und daß der Ruhm Freunde hinter jedem Haselbusch zeugt.

Bewegt erwiderte er jede einzelne Huldigung, ohne Unterschied des Standes oder der Person.

Er war glücklich, was man so sagt, glücklich. Unwillkürlich strotzten seine Muskeln kräftiger. Ein Hochgefühl von überquellender Jugend und Gesundheit beseligte ihn, nicht anders, als ob die gestrenge Natur in Person ihn liebkoste. Wenn aber einer mit der Natur im Einklange steht, so steht es gut mit ihm. Er hätte in diesem Augenblick Tod und Teufel herausfordern mögen.

«Anna», raunte er der Schwester zu, ihr den Schlüsselbund überreichend, «laß vom Allerbesten bringen, Chianti, du weißt. Und zwar für alle den nämlichen. Und ja nicht damit geizen!»

«Herr und Meister», murmelte er, um sich schauend, um sich der Wirklichkeit zu versichern. Mehr vermochte er einstweilen nicht mit dem Geiste zu begreifen; denn die Bewegung war zu stark; außen tanzte die Welt, und inwendig hüpfte seine Seele.


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