Carl Spitteler
Conrad der Leutnant
Carl Spitteler

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Die Base jedoch vermochte ihre Niederlage nicht zu verwinden. Nach öfteren unartikulierten Anläufen platzte sie gegen Conrad los: «Du gehörst scheint's auch zu den vielen, es braucht bloß ein paar ziegelrote Bäcklein, so verdrehen sie schon verliebt die Augen, wie das Huhn vor einem Mistkäfer. Nach dem innern Wert natürlich, nach der Tugend, darnach frägt keiner.»

Jetzt brauste Conrad auf «Und du», erwiderte er, «du gehörst auch zu den vielen, die da meinen, die Tugend einer Frau beweise sich durch einen Kropf.»

Die unbändige Lachsalve, die diesem Ausspruch folgte, und die feuchten Augen der Base belehrten ihn, daß er genauer getroffen, als er gezielt hatte, und gerne hätte er das grausame Wort zurückgeholt. Wirklich, er hatte es nicht bedacht, daß die Base selber einen dicken Hals hatte, und jetzt tat ihm sein Ausfall bitter leid. Eifrig suchte er nach einem Mittel, ihn wieder gutzumachen. Inzwischen hatte sie das Schnupftuch hervorgekrabbelt, und während sie sich die Augen wischte, stammelte sie: «Schweig nur, schweig, Conrad. Es gab eine Zeit, da war ich dir nicht zu häßlich, mitsamt meinem Kropf.»

«Die Zeit ist noch lange nicht vorüber», beteuerte er herzlich, «du bist mir auch jetzt durchaus nicht zu häßlich.»

Doch ohne auf diese Brücke einzulenken, klagte sie opferleidig weiter: «Waren das schöne Zeiten, damals, als du noch ein kleines Büblein warst.»

«Liebste, beste Base, was kann denn ich dafür, daß ich kein kleines Büblein mehr bin? Übrigens in dieser Beziehung hältst du es genau wie meine Mutter. Beständig spielt man mir's wie einen Verrat ins Gesicht, daß ich nachgerade ein Mann geworden bin. Zum Teufel, ich kann doch nicht euch zu Gefallen zeitlebens mit einer Saugflasche umherwandeln; oder was verlangt ihr denn eigentlich von mir?»

Als hätte er nichts gesagt, spann sie ihren grauen Faden fort, mit beschuldigendem Seufzen: «Du lieber Gott, wie manches Mal bist du mir auf dem Schoß gesessen.»

Dieser unaufhaltsame Quark von Dummheit und Ungerechtigkeit reizte ihn wieder.

«Wenn's nur daran fehlt», erwiderte er ärgerlich, «dem wäre ja abzuhelfen, das heißt, wofern es wirklich im Ernst dein Wunsch ist, daß ich mich auf deinen Schoß setze.»

Diesmal blieb jedoch das Lachen der Mädchen aus, welche vielmehr ernst und verlegen vor sich niederschauten, und als er sich verwundert nach der Ursache umsah, erblickte er neben sich die Mutter am Tisch sitzend, krankenbleich und schwach, den Kopf in Tücher gehüllt.

Er erblaßte, darauf ermannte er sich. «Guten Tag, Mutter, wie geht es dir?» fragte er teilnehmend, mit kleinlauter Stimme.

Ein schmerzliches Zucken um ihre blutleeren Lippen und ein anklagender Blick waren die Antwort.

«Wie es dir gehe, habe ich dich gefragt», wiederholte er empfindlich.

Kaum hörbar hauchte sie, das Gesicht wegwendend: «Es geht, wie es gehen kann.»

«Es kann verschiedentlich gehen», entgegnete er. «Aber wie es gegenwärtig dir gehe, hätte ich gerne erfahren mögen.» Seine Stimme bebte, denn es empörte sich etwas in ihm, das er mühsam niederkämpfte.

Und abermals drückte Schweigen über der Mahlzeit, doch diesmal nicht mehr das Schweigen des Verdrusses, sondern der Bangigkeit. Bloß die Mutter und die Base tauschten ab und zu kurze Bemerkungen, mit Ausschluß der übrigen, als speisten sie allein.

«Wie die Grillen lärmen», lispelte die Mutter, schmerzhaft die Stirnmuskeln runzelnd und die Tücher ängstlich übers Ohr ziehend mit ihren dünnen, bleichen Leidensfingern.

Die Base ergänzte zustimmend: «Die Amseln in Hutzlisbühl haben auch bereits schon um vier Uhr morgens wüst getan.»

Conrad biß sich auf die Lippen und starrte mit großen Augen nach der Zimmerdecke. «Die Amseln wüst getan», wiederholte er mechanisch, «Amseln, die wüst getan haben. ‹Amsel› – und wüst tun.» Plötzlich übermannte ihn ein unbändiges Gelächter, das seinen ganzen Körper schüttelte.

Da griff die Base wieder zum Schnupftuch, die Mutter aber maß ihren Sohn mit einem langen Blick des Kummers und der Verzweiflung.

Dieser Blick schlug sein Lachen nieder, statt dessen meldete sich in seinem Herzen ein finsterer Grimm.

Eine beträchtliche Weile hielt er noch an sich, endlich aber, wie sich immer und ewig kein Laut mehr hervorwagte, weder an diesem noch an jenem Tisch, überschäumte er.

«Man sollte meinen, man befände sich an einem Leichenschmaus», knirschte er, Messer und Gabel wegwerfend.

«Nicht jedermann ist beständig zum Lachen und Gaukeln aufgelegt wie du», bemerkte die Mutter strafend.

Ob diesem Vorwurf verlor er vollends die Selbstbeherrschung.

Mit schallender Stimme rief er durchs Zimmer, wie der Pfarrer durch die Kirche: «Und ich meinesteils behaupte, es ist nicht recht, es ist nicht erlaubt, es ist eine unverzeihliche Frivolität, wenn das Unglück ein Haus verschont, wenn man nichts Wichtiges zu klagen hat, wenn einem nichts Ernstliches fehlt, wenn alle am Leben und soweit gesund sind, und keine Sorgen, und zu essen genug – und man gebärdet sich, als ob der Tod eingeschlagen hätte. Das ist nicht recht, das ist ein Undank, das heißt die Schonung, die einem das Schicksal gewährt, nicht verdienen!»

Da war Anna hinter ihm, er wußte nicht wie, und rüttelte ihm heftig den Arm. «Conrad», schalt sie gedämpft, «bist du von Sinnen?»

«Nein, ich bin nicht von Sinnen», rief er noch lauter, «sondern ich sage eine vernünftige ernste Wahrheit und sage sie noch einmal. Das Glück besitzen und die Maske des Unglücks vorlegen, aus eitler Jammersucht und Wehwichtigkeit, das ist nicht recht, das ist ein Frevel, das ist eine Vermessenheit, das heißt geradezu das Unglück herausfordern.»

Jetzt erhob sich die Mutter, die Hände auf den Tisch stützend, und wankte zur Tür hinaus.

Die Base aber meinte die Erbschaft ihres Kummers antreten zu sollen und übersetzte das in ihre griesgrämige Art, indem sie mit scheelen Blicken jede frohe Regung totschoß. Und da die Mädchen, allmählich entschüchtert, leise zu plaudern begannen: «Maul halten!» bellte sie. Und später, als Lisabeth einen gewaltigen Braten an den Gesindetisch hinübertrug, fuchtelte sie entsetzt mit den Händen: «Behüt uns Gott im Himmel», begegnete sie sich, «was für ein unmenschlicher Kalbsbraten! Zu meiner Zeit, da war das Gesindevolk pudelnarrenfroh, wenn es ein mageres Stückchen Suppenfleisch gab.»

Als hätte eine Bombe eingeschlagen, schnellten die Aufwärterinnen von ihren Sitzen, die Teller: wegstoßend, krebsrot vor Zorn, pustend, pfupfend, aufbegehrend. «Wenn's Euch reut», plärrte Brigitte, «wenn Ihr's uns mißgönnt, so freßt's selber, wir rühren nichts an.»

Bei diesem Anblick überlief der Base die Galle. «Abhocken», grölte sie. Und dem Befehl gab sie durch das Beispiel Nachdruck, indem sie den Rumpf vom Stuhl erhob und hart niederfallen ließ. Gleichzeitig klopfte sie mit dem Messerheft wie mit einem Hammer auf den Tisch.

Unwillkürlich gehorchten die Mädchen, obschon zögernd und murrend. Den Braten jedoch berührten sie gleichwohl nicht, sondern steckten die Hände meuterisch unter die Schürze.

Da humpelte ihnen die Base entgegen, packte die Bratenschüssel und gab ihr einen schleudernden Ruck. «Fressen!» schnob sie, «nachdem's doch einmal da ist! bevor's kalt wird.»

Böse Blicke aus glühenden Gesichtern flammten ihr zurück. Josephine zischte Verwünschungen; Brigitte fletschte die Zähne; Helene und Bertha weinten vor Ärger. Keine rührte einen Finger. Außer Cathri, die überhaupt gemächlich sitzen geblieben war. «Was mich betrifft», erklärte sie trocken, «ich esse ruhig.»

Der Base versagte der Witz. Schlagen, das sah sie immerhin ein, schlagen konnte sie die kräftig ausgewachsenen Jüngferchen nicht wohl, war es ja auch nicht gewohnt, ein lebendiges Geschöpf zu schlagen. Und doch schien ihr das der einzige richtige Trumpf. Einen anderen fand sie nicht. Ohnmächtig, ratlos stand sie da, und ihre boshaft schillernden Blicke trübte der Jammer; gleich einer ausgelebten Viper, die zum ersten Male ihr Gift wirkungslos sieht. Wie hatte sie vormalen Zucht im «Pfauen» geübt! Wenn eine Magd gedrillt werden sollte, wenn eine Köchin nicht parieren wollte, wenn man unbändige Gäste voraussah, flugs holte man die Base Ursula von Hutzlisbühl. – Und jetzt mußte sie sich von diesen Rotznasen offene Auflehnung bieten lassen! Die Bresten des Alters kannte sie längst und überwand sie heldenmütig, jetzt aber spürte sie zum ersten Male des Alters Elend. Als sie schließlich wieder ihrem Platz entgegenhinkte, war es der Rückzug nach einer verlorenen Entscheidungsschlacht. Sie spürte: ihr Regiment war aus. Und da sie sich mit dieser Tatsache nicht vertragen konnte, strebte sie fort, fort nach Hause, je eher, desto lieber, zu ihren drei Katzen, zu ihrem Zichorienkaffee, zu ihrem gefügigen Waisenmädchen.

Conrad empfing sie mit einer wohlvorbereiteten Rüge, nicht zu scharf und nicht zu stumpf, kühl und gemessen: «Du, Base», sagte er, «unsere Verwandtschaft in Ehren und allen schuldigen Dank für deine uneigennützige Hilfe – aber daß du uns die bewährtesten, wägsten Kellnerinnen mir nichts, dir nichts vergelsterst, ohne den mindesten Grund und Anlaß, das ist wohl schwerlich die Meinung meiner Eltern!»

«So geh doch! geh nur!» kollerte sie, «geh, geh, nimm sie um den Hals und schmatze sie ab, deine lieben, lieben Kellnerinnen. Geh! worauf wartest du? Ich will dich nicht hindern. Ich räume das Feld. Bin doch ohnehin längst schon überflüssig, seit der gnädige Herr Leutnant, wie es scheint, jetzt hier im Hause kommandiert.»

«Ich verlange keineswegs, daß du das Feld räumest», erklärte er, «im Gegenteil, wir sind dir dankbar, daß du uns mit deiner Erfahrung zur Hand gehst, und wissen deine wertvolle Unterstützung zu schätzen. Nur sehe ich die Notwendigkeit nicht ein, warum du uns deswegen die Kellnerinnen verunglimpfen müßtest.»

Doch sie steifte sich störrisch auf ihren Einfall. «Ich gehe ja, ich gehe. Brauchst dich nicht zu ereifern. Ich gehe ja bereits. Meine kleine Reisetasche ist bald gepackt.»

Wirklich, wahrhaftig, sie wackelte nach der Tür. Da ward ihm jählings angst, ihm, dem erwachsenen, starken Manne, dem selbstbewußten stimmfähigen Bürger und Soldaten, angst vor der kleinen, krummen, baufälligen Base, schrecklich, fürchterlich angst, wie einem armen Schulbuben, wenn sich der Lehrer aufmacht, um ihn bei den Eltern zu vorzeigen.

Er stand auf und ging ihr verschüchtert nach: «Base», bettelte er demütig.

«Ach was», kläffte sie, «Entenhörner und Schneckenflügel! Der Ulihansjakob hat zum Sonntag gesagt: wo ist der Samstag?» Und unaufhaltsam zottelte sie aus dem Zimmer, mit überstürzter Hast, als ob sie verfolgt würde.

Die Mädchen aber erteilten ihr einen üblen Abschied: «Glück zur Abreise! komm niemals wieder!» – «Boshafte Hexe.» – «Erlöse uns von allem Bösen» und dergleichen mehr.

Doch Conrad verwies ihnen das mit einer kurzen Handbewegung. Er hatte sie halt trotz allem doch lieb, die Hexenbase, denn sie war vorzeiten sehr, sehr gut gegen ihn gewesen.


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