Carl Spitteler
Conrad der Leutnant
Carl Spitteler

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Als Conrad sich nach seinen Kameraden umblickte, hatte sich die Szene verwandelt. Wo eben noch eine hitzige Faustschlacht gewütet hatte, herrschte jetzt ein ungefährliches Zungengefecht; statt einer gärenden Gesamtmasse brodelten viele vereinzelte Grüppchen, von denen jedes mit keifenden oder abwehrenden Jüngferchen umringt war, die sich um den Frieden abmühten wie die Engel um eine arme Seele. Reservemannschaft, die sich weiß Gott wie und woher eingefunden, stand ihnen werktätig bei, die Unbändigen überwältigend, die Zurückstrebenden abhaltend, die Zweifelnden aus dem Feld stoßend. Die Feuerleute waren verschwunden. Wohin? Ohne Zweifel in den Saal, denn dort tobte der Kampf wie der Teufel im Weihwasser.

Richtig, da kamen schon die Wagginger, von unsichtbaren Händen geschleudert, das Treppchen herabgeflogen, einer um den andern, in rascher Folge wie Päckchen auf der Frachtpostniederlage. Die drei ersten purzelten und standen wieder auf, der vierte kugelte kopfüber, ohne Schaden zu nehmen, der fünfte aber blieb ächzend liegen, so daß der Doktor mit langen Sprüngen zur Stelle eilte.

Da übermannte Conrad der Zorn, der gerechte Zorn der Entrüstung über die unnötige Roheit, und nachdem er blitzschnell den Platz gekreuzt, stemmte er mit grimmiger Kraft seinen Leib als Mauer entgegen, die Überwältigten im Sturz aufhaltend und als Sturmböcke gegen die Sieger zurückrammend. Dadurch stockte zunächst die Bewegung, indem die Bauern, von drinnen geworfen und draußen an Conrad brandend, zwischen zwei Kräften litten, so daß sie von dem Hin- und Widerprall wie von einem Hebel gehoben wurden; aber sobald es Conrad gelungen war, den rechten Türpfosten zu fassen, gewann sein Widerstand stetig die Obermacht, und wie er den linken Pfosten ebenfalls hatte, wälzte er mit plötzlichem Ruck und Druck die Menschenlawine vor sich hin, einwärts in den Saal zurück. Der Wachtmeister war der erste, den er erhaschte. Den packte er an der Gurgel und schüttelte ihn, um ihn Gesittung zu lehren. Jener ließ das lammsfromm geschehen, die Augen in verliebter Freundschaft rollend und das bärtige Gesicht in stummer Dulderklage gegen den Hauptmann kehrend. Darauf jedoch, als Conrad eben die Hand ausstreckte, um einen zweiten Wüterich zu fassen, traf ihn der Anblick der fremden Horde, die in dem schmucken Tanzsaal randalierte, wie Hornvieh im Stall, achtlos die Möbel umstürzend, Scheiben und Spiegel zerschmeißend. Jählings machte der Unwille über den Übergriff des Freundes der Erbitterung gegen den Eindringling Platz, der Erbitterung des Eigentümers über den frechen Hausfriedensbruch. Denn hier zwischen den heimatlichen Wänden fühlte er sich als Stellvertreter seines Vaters, mit edler Hintansetzung ihres sonstigen Zerwürfnisses.

«Ruhe!» befahl er mit angestrengter Lungenkraft in den Lärm hinein. «Der ‹Pfauen› von Herrlisdorf ist keine Kneipe; hier wird nicht gerauft!» Und da die Schlacht unentwegt weiter wirbelte, als hätte irgendein verschüchtertes Gemeindenachtwächterlein gemökt und nicht er, der «Pfauen»-Wirtssohn selber, Ruhe befohlen, ergriff ihn eine wilde Wut, wobei ihm ein unartikulierter Schrei entfuhr, welcher in dem Lärm ungehört unterging. Der Lärm aber war so bestialisch, dermaßen ohr- und vernunftbeleidigend, daß seine Wut in Raserei ausartete. Wie ein wildes Tier brüllte er zunächst den wüsten Schlachthaufen an, teils um ihn zu überschreien, teils um nicht zu ersticken.

In diesem Augenblick klingelte der Kronleuchter, getroffen, zersplittert von klobigen Holzwaffen, der neue, kostbare Kronleuchter, den der Vater im Dezember um schweres Geld angeschafft, zu Ehren des Offiziersvereinsballes – der klare Glaston durchzuckte seine Nerven wie die Zündnadel die Granate, und der entfesselte Haß schnellte seine Gelenke zum federnden Angriff; sprang dem Kronleuchter zu, rücksichtslos mitten durch das Gemengsel, Freund und Feind gleicherweise überrennend. Den ersten, den er ein Stuhlbein schwingen sah, unterlief er mit geducktem Nacken, und indem er ihm beim Überfall gleichzeitig die gespreizte Hand übers Gesicht schlug, den Daumen in den Mund und die Finger in die Augenhöhlen, wie er das vorzeiten seinem Vater abgesehen hatte, schmetterte er ihn durch die Wucht des jähen Anpralls nieder, daß jener im Sturz wie eine gefällte Tanne seine Hintermänner mit zu Boden riß. Hierauf, ohne sich weiter um diesen zu kümmern, schoß er sofort gegen einen andern, welcher mit einem zerbrochenen Musikpult fuchtelnd eben wieder einen Regen von Glassplittern vom Leuchter hieb. Diesem umschnürte er den Leib, hob ihn vom Boden, drückte ihn, mit der einen Hand die Brust und mit der andern den Hosenbund packend, gestreckten Arms in die Luft, wo er ihn mit radförmiger Bewegung windschief über dem Kopf schwenkte. Hierbei überraschte das blaue Himmelslicht, das aus dem offenen Fenster hereinflutete, sein Auge, und mit plötzlicher Eingebung beförderte er seinen Gegner kopfüber ins Freie samt dem Rahmen, an welchen jener sich gekrampft hatte.

«Röcke, Decken und Kissen herbei!» gellte draußen eine Stimme, die Stimme Cathris.

Einmal im Zuge, schickte Conrad einen zweiten durch die nämliche Öffnung, und später, von Leutolf und dem Wachtmeister unterstützt, einen dritten, vierten und fünften. Hernach aber geriet der Sieg ins Stocken, und es entbrannte ein erbitterter Strauß. Denn die Wagginger, von der Überraschung sich erholend, vom Anblick der Waldishofer ernüchtert und von der Gefahr der verwegenen Würfe geschreckt, sperrten sich verzweifelt, Front gegen den gemeinsamen Gegner. Keine unnützen Verwünschungen mehr; nichts als das Keuchen der Lungen, das Strampeln der Füße, das Klopfen der Fäuste.

Plötzlich juckte Leutolf, während er eben Conrad gegen einen Seitenhieb deckte, heftig rückwärts und befühlte seine Wange. Unmittelbar darauf krachten zwei Revolverschüsse, donnerten einzeln durch den Saal und rollten gemeinsam längs den brüllenden Wänden dahin, bis sie endlich in den Winkeln verhallten.

Da war es wie eine abgestellte Mühle, und bleiches Entsetzen vereinte Freund und Feind.

«Wer schießt da?» kam es endlich zaghaft aus dem Bauernheer.

«Ich», bekannte wutgrinsend der Wachtmeister, worauf ihm Leutolf gebieterisch den Revolver entrang.

«Man schießt nicht auf das Volk wie auf Rebhühner», protestierten die Wagginger.

«Man sticht nicht mit dem Messer», schäumte der Wachtmeister.

«Wir haben nicht gestochen.»

«Freilich habt ihr gestochen», versicherte der Wachtmeister und deutete auf Leutolfs Wange, die von einer haarscharfen roten Linie vom Auge bis zum Kinn gezeichnet war und reichlich blutete.

«Es ist nichts», beruhigte Leutolf lachend, als Conrad erschrocken nach dem Blute sah; «bloß die Haut geritzt. Aber am bösen Willen hat's nicht gefehlt! Und zwar auf dich war's gemünzt.»

Von draußen aber schrillte anhaltendes Angstgeschrei in den höchsten Tönen: «Wer ist getroffen? Ist jemand tot?»

«Wer ist getroffen?» wiederholten mehrere gleichzeitig im Saale.

Aller Blicke wanderten fragend im Kreise und begegneten allerorten andern fragenden Blicken.

«Niemand», versuchte schließlich ein schüchterner Ruf. «Niemand», bestätigte man von allen Seiten.

«Niemand», lautete die bestimmte Antwort nach außen. Da verstummte das Angstgeschrei, und ein frohlockendes Echo vertrieb die tröstliche Botschaft in die Ferne. Aber mancherlei Köpfe tauchten jetzt an den Fenstern auf, um den weitern Verlauf den Untenstehenden zu berichten.

Eine Weile verharrte noch die Menge im Saale betäubt. Endlich rückte der Oberwagginger Fürsprech in die Mitte, rundlich und süß, mit populärem Schmunzeln. Nachdem er sich verlegen die Hände gerieben, begann er salbungsvoll: «Da uns hiermit Gottes barmherziger Finger ersichtlich vor einem unabsehbaren Unglück bewahrt hat, sollte das nicht ein Wink sein, Frieden zu schließen? Ohnehin haben wir ja nicht den mindesten Span mit dem ehrenwerten Herrn Reber. Alles, was wir begehren, ist, daß man uns ruhig abziehen läßt, wie wir gekommen sind.»

«Und das Messer?» knirschte der Wachtmeister.

«Die Gesamtheit für die beklagenswerte Tat eines einzelnen haftbar machen zu wollen, wäre doch entschieden ein unbilliges Ansinnen.»

«So liefert uns den Messerstecher aus, nachher lassen wir euch laufen.»

«Da könnten wir mit ebensoviel Recht den Revolverschützen von euch verlangen.»

Die Waldishofer lachten spöttisch.

«Versucht's!» rief einer. Ein anderer: «Das ist anderlei, der Schuß war bloß die Antwort auf den Stich.»

Doch Conrad gebot Stille. «Es soll ihm kein Leid geschehen», beteuerte er, «vorausgesetzt, daß er sich freiwillig meldet.»

Der Fürsprech sah sich fragend um, doch keiner muckte.

«Die Taschen untersuchen», meinte ein Feuerwehrmann. Kaum hatte er das ausgesprochen, so glitten zahlreiche Stellmesser auf den Boden.

Hohnlachend schnellte Conrad empor.

«Da seht sie, die scheinheiligen Heuchler», schäumte er, auf die glitzernden Klingen deutend. «Auf denn! Waffen gegen Waffen! Behändige jeder, was er findet. Und dann drauf, diesmal ohne Erbarmen.»

Ein tumultuarisches Scharren unzähliger Tritte erfolgte, indem die beiden Heere sich hastig zur Sammlung zurückzogen, die Bauern, um den Angriff geschlossen zu erwarten, denn sie fühlten sich als die Schwächern, ob auch an Zahl ungefähr gleich, die Waldishofer, um sich zu bewehren und um einen überrennenden Ansturm zu gewinnen.

Da tönte von draußen die weiche, seelenvolle Stimme Annas: «Conrad, denke an unsere Mutter! Vergieße kein Blut und schone das deinige.»

Der Ton drang in den Aufruhr wie Orgelklang in eine zerrissene Seele.

«Conrad, sei gut», mahnte wiederum die Schwester.

Conrad war erschüttert. «Leutolf, entscheide du», sagte er dumpf, «du bist der Verwundete.»

Doch Leutolf schob ihm die Entscheidung zurück: «Dir galt der Stich, dir gebührt das Urteil.»

Conrad überlegte.

«Wohlan», verkündete er, «ich entbiete Frieden, unter der Bedingung, daß jeder einzelne klar und vernehmbar den Spruch hersagt: ‹Wer mit dem Messer sticht, ist ein feiger Schurke.› Jetzt könnt ihr's nehmen oder lassen.»

Die Wagginger murrten, wußten jedoch keine triftige Einrede. Und da die Furcht ihnen überzeugend zusprach, nahmen sie endlich stillschweigend den schimpflichen Vertrag an.

«Es darf sich ja jeder, der sich unschuldig weiß, herzhaft zu dem Spruch bekennen», ermutigte der Fürsprech.

Die Waldishofer bildeten nun eine Gasse nach der Türe wie zum Spießrutenlaufen, durch welche die Wagginger einzeln dem Ausgang zuzogen, den verlangten Spruch stammelnd, mit erhobenen Händen auf ausdrückliches Geheiß. Wer sich übereilte, ward angehalten, wer unverständlich munkelte, mußte die unliebsamen Worte wiederholen. Sie maulten, als gingen sie unter dem Joch, während die Waldishofer sich mehr und mehr zu übermütigem Spott hinreißen ließen.

Plötzlich erscholl ein fröhliches Gelächter. Brigitte, von Amor betört, erschien hinter einem jungen bäurischen Schönbold, den sie am Rockschoß festhielt, um ihn ja nicht zu verlieren.

«Ei, seht die Verräterin!» drohte Conrad belustigt. Sie aber streckte fuchswütend die Zunge heraus, so ziemlich die einzige Art, sich ihrer zu bedienen, die ihr zu Gebote stand.

Als der Regenwurm sich vorbeidrückte, der letzten einer, las Conrad in seinen auskneifenden Blicken die Schuld.

«Sieh mir ins Auge, du Wicht, wenn du's wagst», befahl er verächtlich. Als jedoch der andere, ohne auszuschauen, den schleichenden Schritt beschleunigte, ließ er ihn gleichwohl ziehen.

Jetzt aber fuhr der Wachtmeister dem Regenwurm an die Gurgel: «Soll mich der Teufel holen», schrie er, «oder der Messerhalunke, den ich aufs Korn nahm, bist du!»

Allein Conrad wehrte energisch ab. «Habe ich allen Frieden entboten, so habe ich auch jedem einzelnen die Sicherheit verbürgt.» Und vereint mit Leutolf riß er den Wachtmeister zurück. Da war der Regenwurm gerettet, ob auch ein Igel von Fäusten ihn umstarrte, so daß er nur langsam tappend vorwärts gelangte und bei jeder Bewegung an einen harten Knöchel stieß; den Spruch der Selbstverdammung mußte er freilich zur Buße immer von neuem bekennen und sich daneben unrühmliche Titel, Personalschilderungen sowie Anleihen aus seinem Lebenslauf gefallen lassen.

«Es ist der Matthiesen-Michel von Niederwaggingen, mehr braucht man nicht zu sagen, damit jedermann sofort weiß, es ist von allen schlechten Hunden der schlechteste Hund.»

«Er hat bereits ein Menschenleben auf dem Gewissen; wäre er damals nicht zu jung gewesen, er säße jetzt auf Lebenszeit im Zuchthaus.»

«Das ist noch nicht einmal das Schlimmste! Das Geld, das er seiner Mutter mit dem Messer abzwang!»

«Das Erbteilchen, um das er seine hilflose, blödsinnige Schwester betrogen hat!»

«Genug!» schloß Conrad und geleitete den Matthiesen-Michel an die Türe, indem er den Schlotternden unter dem Arm faßte und mit seinem Körper deckte.

Hernach wurde den wenigen übrigen der Spruch erlassen.

«Hält sich etwa noch einer verborgen?» meinte Conrad, im Saal umherspähend.

Da krabbelte der kleine Oberwagginger Schullehrer unter der Bühne hervor und setzte, ein klägliches Notgeschrei anstimmend, recta über den Fenstersims.

«Und wir?» fragten die Musikanten mit säuerlichem Humor. «Müssen wir ebenfalls beichten?» Conrad lächelte, worauf sie mit ihren Instrumenten hurtig abzottelten, wumselnd wie die Heinzelmännchen.

«Nach!» mahnte Leutolf. «Sprengt sie ins Tal!» Und frohlockend schoß das Rudel der Sieger ins Freie.


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