Carl Spitteler
Conrad der Leutnant
Carl Spitteler

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Er lenkte zum Dorf hinaus, planlos dem Weg folgend, den Rain hinab durch die Kirschenallee nach der Eisenbahn, wo er den Schienenübergang gesperrt fand. «Ihr mögt noch bequem hinüber, Herr Reber», knurrte freundlich der Bahnwärter und hob die Schranken. Jenseits des Geleises aber kam ihm Conrad zuvor, indem er mit dem Pferde schlank über den Balken setzte, in zwiefältigem Ruck, jäh in die Höhe, zurückhaltend hinab. Dann strebte er weiter, zwischen Station und Stations-Pintenwirtschaft hindurch. Von rechts her warf ihm der Stationsvorsteher einen launigen Gruß nach, den er im selben Stil erwiderte: «Glückliche Reise, Herr Batteriekommandant.»

«Viel Vergnügen, Herr Betriebsdirektor.»

Gegenüber, zur Linken, vor der Pinte, stand die Neuberin, die Schankwirtin, ein Büblein auf dem Arm, das ihn mit übermäßigen Augen bewundernd anstarrte.

«Hast du's gesehen?» lachte sie dem Kinde in die Augen, das sie wie ein Spreuerkissen schüttelte, um seinen Geist aufzurütteln: «Hast du's gesehen, das Rößlein, wie er mit ihm über den Balken sprang, der Herr ‹Pfauen›-Wirt?»

«Hü! hü!» lallte das Büblein, aufjuckend, dann ließ es ein widerspenstiges Geschrei los, denn die Neuberin fraß ihm vor Wonne das Gesicht. Hinter dem Gartenhag aber, unter dem blühenden Kastanienbaum, lungerte die Jucunde, die sogenannte Nichte der Neuberin, mit ihrem unsinnigen Strubel, endlos, weglos und verirrlich wie ein Urwald. Sie machte Augen wie Pflugrädlein, rührte sich jedoch nicht, außer daß sie an den Fingernägeln kaute. Einen brandzündigroten Rock trug sie heute zur Schau, aber natürlich wie immer ohne Gestalt noch Gürtel, sondern bauschig wie ein Schlafrock. Es fehlten zur Hauderin nur die bloßen Füße.

Er vermied geflissentlich, die eine oder die andere zu grüßen, sondern trieb abgewandten Blickes vorüber. Endlich vorn auf der Landstraße angekommen, in welche sein Weg mündete, schlug er einen Trab an, in der Richtung nach dem Kurbad. Bald indessen verkürzte er die Zügel. Denn seine Gedanken waren daheim geblieben, und die holten ihn nun wie mit langen Hacken ein. Wozu auch vorwärts trotten? Irgendwohin begehrte er nicht; und nachdem er bewiesen, daß über die Lissi er allein zu verfügen habe, war sein Zweck erfüllt. Die Hauptsache aber war: die Gefahr, die seiner zu Hause wartete, zog ihn an. Er spürte: was ein rechter Mann ist, schiebt die Schwierigkeiten nicht in die Zukunft und weicht dem Kampf nicht aus, sondern stellt ihn. Er kehrte also um, den zurückgelegten Weg eilends wieder auflesend, so daß er in wenigen Minuten abermals den Bahnübergang erreichte. Diesmal war soeben ein Zug eingefahren, ein zweiter von unübersehbarer Länge hielt auf der Talseite vor der Signalstange, auf das Zeichen zur Einfahrt harrend. Da schöpfte er einen ansehnlichen Vorrat Geduld, verlängerte die Zügel und wartete vor dem Schlagbaum, wobei die Lissi mit schmunzelnden Nüstern neugierig nach dem Wagenfenster schnupperte, als wollte sie sagen: «Kann mir vielleicht einer von euch ein Schnupftuch leihen?» Es war ein Wagen zweiter Klasse. Gelangweilte Gesichter stierten ihm daraus entgegen, stumm und mürrisch, als ob sie nächstens bellen wollten. Nein, ganz unparteiisch, die Lissi hatte entschieden ein menschlicheres Gesicht. Nebenan aus der dritten Klasse lärmte Fußstampfen, Gejohl und Blechmusik. Köpfe bockten durch die Fenster aus und ein, mit heftigen, überschüssigen, unzweckmäßigen Bewegungen; verdutzte Rudel schossen die Treppe auf und nieder, wobei sich Zusammenstöße ergaben. Allmählich aber hefteten sich alle Blicke auf ihn, den einsam ragenden Reiter, um die zehntausendjährige Neuigkeit zu bestaunen, daß ein Zweibein auf einem Vierbein sitzt. Da er jedoch nicht aufgelegt war, sich von dem müßigen Reisevolk wie ein Jahrmarktswunder anglotzen zu lassen, drehte er sein Pferd um, das Hinterteil dem Wagen zugekehrt.

«Conrad», rief ihn eine bekannte Stimme aus einem der hintersten Wagen an: «Bist du heute abend gegen sechs Uhr daheim?»

Es war Leutolf, der Leutnant der Waldishofer Feuerwehr. Sein silberner Helm mit dem purpurroten Haarbusch glitzerte weithin; neben ihm kamen messingene Helme in großer Zahl zum Vorschein.

«Warum?» fragte Conrad zurück.

«Wir machen nämlich einen Ausflug nach Rubisthal, zu Ehren der Spritzenmusterung, und denken auf dem Rückweg im ‹Pfauen› einzukehren.»

«Ja», beschied er nach einigem Zögern, da er keinen vernünftigen Grund hatte, nein zu sagen. Auch mochte er die Waldishofer als wackere, pflichttreue Leute besonders wohl leiden.

Aus der vorderen Hälfte des Zuges, nahe der Lokomotive, winkte unablässig ein Taschentuch, bis ihm endlich die Ahnung aufdämmerte, das flatternde Fähnchen könnte möglicherweise ihm gelten. Wie er dann Front danach machte, erkannte er die Base.

«Leb wohl, Conrad!» schrie sie ihm zu, mit überschnappender Stimme. «Mach dich lustig! Und bessere dich! – Du nimmst dich gut aus auf deinem Rößlein. – Ja, reiten und soldäteln und dergleichen brotlose Künste, das muß man dir lassen, die verstehst du aus dem ff. Hingegen mit dem Pflug zu Acker fahren, gelt, das ist dir zu gemein, zu schmutzig?»

So von weitem erschien ihm jetzt die Base lieblich und traut, so daß ihm ganz heimatlich ums Herz ward. Und da sich eben der Zug mühsam in Bewegung setzte, rief er zurück, mit der Hand winkend: «Komm bald wieder. Ich zähle darauf»

«Zählen macht Kopfweh!» grölte sie.

Der Zug geriet inzwischen ins Laufen. «Also du kommst?» schloß er ab: «Du hast mir's versprochen?»

«Wir wollen dann sehen, wenn's finster ist», gackerte sie aus Leibeskräften. Und mit äußerster Anstrengung, den Oberkörper aus dem Fenster biegend, schrie sie: «Paß jetzt nur auf, daß es diesmal nicht wieder ein Unglück gibt.»

Dann reichten ihre Stimmen nicht mehr. Nun winkten sie sich zu, solange sie einander zu unterscheiden vermochten, sogar noch ein Weilchen länger, ledig der Richtung nach. Allmählich verschwand die Base mit dem enteilenden Zug in den verschwimmenden Wagen, einen freundlichen Schimmer zurücklassend, wie ein Sternchen, dessen Namen man kennt.

Allein nun auch den andern Zug geduldig abzuwarten, der jetzt umständlich herbeischlich, mit einer Miene, als wollte er sich auf ewig vor der Station niederlassen, nein, soweit reichte seine Langmut nicht. Er begab sich daher einige Pferdelängen von dem Bahngeleise weg, um die Zeit durch Bewegung zu betrügen.

Plötzlich, wie er neben dem Pintengärtchen anlangte, beim Anblick der roten Kastaniensträuße über der bräunlichen Thujahecke, beizte ihm die großäugige Jucunde, die er hier geschaut hatte, wie gewürzter Speisebrodem in die Vorstellung. Zwar, man mied sonst die Stationswirtschaft, der Jucunde wegen; und er nicht minder als jeder andere, ebenfalls der Jucunde wegen. Doch heute beherrschte ihn einmal der Trotz, so daß er, was sich ihm als verboten aufspielte, um so nachdrücklicher tun mußte.

Er schwenkte also vor die Schenke mit dem bestimmten Vorsatz, jeden, der ihm das später aufmutzen wollte, derb abzufertigen, sprang ab und übergab das Pferd dem beflissen herbeistoffelnden Knecht: «Führt das Tierchen in den Stall», gebot er; «und daß Ihr's keinem andern Menschen ausliefert, wer es auch sei. Verstanden?»

 

Schmunzelnd trippelte die Neuberin herbei, mit überschwenglichen Freudenbezeugungen ihn bewillkommnend, ein breitspuriges Gerede von unverhoffter Ehre anhebend.

«Und so weiter, trallala!» unterbrach er sie.

«Jucunde!» belferte sie freudig in den Hausgang, «Jucunde, rate einmal, wer uns die Ehre schenkt! – Die wird die Augen aufsperren! Wenn Ihr nur wüßtet, wie sie Euch nachschaut im geheimen, jedesmal, wenn Ihr vorbereitet! Das einfältige Affending, als ob das jemals zusammenpaßte, der stolze Herrensohn aus dem ‹Pfauen› und die verachtete Jucunde von der Station! Jucunde! Jucunde! Wo hast du nur deine Ohren?!» Einstweilen nahm sie das Büblein vom Boden auf, das ihr an der Schürze hing. «Siehst du, das ist jetzt der schöne Herr, der mit dem Rößlein über den Balken sprang. Betrachte ihn genau, denn wer weiß, wie lange es währt, bis du wieder einmal das Glück hast, ihn von so nahem zu sehen. – Er heißt auch Conrad, wie Ihr», fügte sie zu seiner Empfehlung hinzu.

«Ein hübsches Büblein», geruhte er leutselig. «Und was für prächtige Samtaugen es hat! Wem gehört es? Es gleicht fast ein wenig der Jucunde.

Die Wirtin verzog ein Schalksgesicht, verlegen, pfiffig und belustigt. «Es gleicht ihr leider nur allzusehr», platzte sie endlich lachend heraus.

Inzwischen bequemte sich Jucunde selber heran, weich und schwer, mit berufsmäßiger Wohldienermiene. Sobald sie aber den «Pfauen»-Wirtssohn erkannte, blieb sie mit sperroffenem Munde stehen, und zwei große Tränen rollten ihr über die Backen.

«So sei doch manierlich, du alberne Wachtel», schalt die Neuberin. «So grüß doch den Herrn Reber, so führ ihn ins Gärtchen und zeig ihm den Weg.»

Jetzt strahlte Jucunde mit der ganzen Breite ihres gutmütigen Gesichts und schritt voraus ins Gärtchen, beständig sich umschauend, ob er auch wirklich leibhaft folge. Und da ihr immer neue Tränen nachrieselten, wischte sie lachend den Arm über Mund und Nase.

«Ihr müßt nichts für ungut nehmen, Herr Reber», entschuldigte sie sich, «ich bin halt ein gar unglaublich einfältiges Geschöpf. Wollt Ihr im Hüttchen Platz nehmen? oder in der Laube? oder vielleicht dort in der Ecke unter dem Kastanienbaum?» Dabei scheuchte sie händeklatschend ein Huhn weg, das auf einem der Tische lustwandelte.

Er wählte die freie Mitte, wo der Kastanienbaum noch knapp mit seinem Schatten reichte und wo er zugleich den «Pfauen» im Auge hatte, der vom Hügel herunterschaute wie eine Burg von einer Schanze.

«Roten oder Weißen?» fragte Jucunde glückselig. «Roten wahrscheinlich.»

Und da er gleichgültig nickte, eilte sie dienstfertig von hinnen.

Er aber dehnte die Glieder und führte die Augen spazieren: Etliche Gäste, Stück sieben oder acht ungefähr, kauerten gelangweilt im Gärtchen. Neue sickerten herbei, teils vom Gartenpförtchen, teils vom Hausgang. Das Bahngeleise war geräumt. Demnach mußte der zweite Zug mittlerweile gleichfalls ausgefahren sein. Von der Station wallte in dichten Scharen Stadtvolk und Landvolk ameisengleich den Rain hinauf, dem «Pfauen» entgegen, offenbar den beiden Zügen entstiegen. Die Mehrzahl steuerte zur Linken die Kirschenallee hinan, andere quer durch die Wiese, auf dem Fußpfad, vereinzelte wenige auch rechts auf dem Karrenweg längs dem Rebberg. Eine Musikbande war darunter, die Instrumente, sorgsam in grüne Zeugfutterale gehüllt, unter dem Arm.

Wirklich, eine vorteilhaftere Aussicht auf den «Pfauen» ließ sich nicht denken. Wie auf einem Teller lag er vor ihm, majestätisch auf vorragender Höhe, stattlich in seiner weitläufigen Breite: links der Gasthof, in der Mitte die gemauerte Terrasse mit den kugelrunden Akazienbäumchen in Reih und Glied, die freilich um diese Jahreszeit noch gar dürftig belaubt waren, hinter der Terrasse der Tanzsaal, endlich zur Rechten, wo die Terrassenmauer auslief, der Holzschuppen und die Kegelbahn. Den luftigen Zwischenraum kreuzten Schwalben, steigend und fallend wie Steinwürfe, hoch oben in der Himmelskrone schwammen leichte Flockenwölklein.

Allein das alles sah er nur so beiläufig, weil er es schlechterdings nicht übersehen konnte. Etwas anderes suchte sein Blick dort oben, jemand, nach welchem sein Haß begehrte, und da der Blick nicht reichte – denn der Abstand war zu weit –, erreichten ihn seine Gedanken.

Also wirklich schlagen, mit dem Peitschenstock über den Kopf schlagen hatte er ihn wollen, der Unhold!

Bei dieser Erinnerung stieß seine Faust den Tisch heftig von sich, daß er torkelte. Beschämt rückte er ihn wieder zur Stelle. Nein, verbesserte er sich, vergriffen, an dem Vater vergriffen hätte er sich doch nicht; trotz allem; soweit kannte er sich immerhin noch selber. – Freilich, zur Notwehr, im Jähzorn, wenn der Schimpf brannte und die Wunde biß! – Und wofür? Bitte wofür? Was hatte er denn verbrochen? Es sollte doch ein einziger Mensch kommen und ihm sagen, was er Unrechtes getan hatte!

Seine Augen rollten, und seine Finger krampften sich, während er einen Falkenblick nach dem Gasthof schickte. Mit gekniffenen Brauen brütete er dann eine Weile geistesabwesend vor sich hin. «Mörder!» knirschte er unversehens. Und wie berauscht von dem blutigen Klang wiederholte er das Wort immer von neuem, zuerst in längern, dann in kürzeren Pausen. Endlich, beim sechsten Male, sprangen alle Fesseln der Gedanken. Unbedenklich stieß er jetzt mit glühendem Wunsche den Vater in die Grube wie mit einem Dolche. – Darauf seufzte er erleichtert. Welche Erlösung! Kein Zank, kein Verdruß mehr. Herr in Haus und Hof und Feld, geachtet und geehrt, geschätzt und gefürchtet. Niemand, der sich fortan unterstehen wird, ihm einen Verweis zu erteilen. Was ihm belieben wird, wird er befehlen, und was er befehlen wird, wird geschehen!

Und gierig ergriffen nun seine Blicke Besitz von dem väterlichen Eigentum, Stück um Stück, Acker für Acker, Baum für Baum, jubelnd und grimmig, wie der Habicht, der die Faust um die Lerche krallt.


 << zurück weiter >>