Carl Spitteler
Conrad der Leutnant
Carl Spitteler

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«Conrad, laß es gut sein, du hast für heute genug getan», rief ihm die Schwester nach, die aus seinem schleichenden Gehaben seine ursprüngliche Absicht erraten hatte, während ihr seine Umstimmung verhohlen blieb, weil ihr sein Gesicht entging.

Doch Cathri widerhielt ihr: «Der Herr Reber wird schon selbst am besten wissen, was er zu tun hat», entgegnete sie mit impertinentem Tone.

Also zog er seines krummen Weges und verschwand um die Hausecke.

 

Mittlerweile waren die Feuermänner, welche Conrad vermißten, von Cathri über den mutmaßlichen Grund seines Verschwindens verständigt worden, so daß sie die Köpfe streckten, um sich an der Abstrafung zu weiden; leichtsinnig gespannt, wie wer einem ergötzlichen Schauspiel entgegensieht. Da der Abend schon merklich düsterte, benutzte Leutolf den Feldstecher, um besser zu beobachten. Um aber den Vorteil seiner bevorzugten Gesichtsbedingungen nicht plumperweise allein zu genießen, teilte er das Ergebnis seiner Beobachtungen mit: «Dort, hinter dem Nußbaum bei der Scheune steckt er – er hat den Arm voll Kieslinge. Aber er ist unsicher, er sucht das Ziel. – Ein langer, schlottriger Schlingel, hat eine Schnauze wie eine Schnecke und Ohren wie ein Elefant. Ich müßte mich sehr täuschen, oder es ist der nämliche Halunke.» «Der Messerstecher?» «Der Matthiesen-Michel?» fragten empörte Stimmen.

«Zeig, gib her», heischte der Wachtmeister und nahm ihm den Feldstecher weg. «Das ist ja genau der nämliche glatte, schlüpfrige, bartlose Schuft!» schäumte er, mit den Füßen stampfend. Und zornig das Fernglas wegwerfend, fuhr er Leutolf aufgebracht an: «Da habt Ihr's jetzt mit Eurer diplomatischen Mäßigung. Was habt Ihr nun davon? Hätte man mich machen lassen – er stände jetzt nicht unter dem Nußbaum mit Kieselsteinen, er läge irgendwo, und es fehlte ihm etwas an den Knochen, daß ihn der Doktor wieder zusammenlöten müßte.»

«Er verliert nichts mit dem Warten», entgegnete Leutolf gelassen, «der Reber Conrad wird ihm schon verabfolgen, was er ihm schuldig ist; er zahlt ihm's jetzt gleich alles miteinander.»

Der Wachtmeister verwarf ärgerlich die Arme. «Ach was!» schalt er, «der Conrad ist nicht, was er sein könnte und wie ich ihn haben möchte. Muskeln wie ein Leu, Nerven wie Sprengpulver und ein Herz wie ein Jüngferchen. Im ersten Augenblick meint man, er wolle die ganze Welt windelweich schlagen, und kaum daß er die Obmacht hat, läßt er sie laufen. Solch eine heimtückische, boshafte Hyäne verdient keine Gnade; da ist Großmut nichts als Schwäche.»

Damit wandte er sich mißmutig um und verließ grollend die Kameraden, um abseits einsam hin und her zu stiefeln, mit unwilligem Maulen.

Inzwischen machte der Feldstecher die Runde; einzig Cathri lehnte ihn hochmütig ab. Sie brauche keine Augenkrücken, behauptete sie geringschätzig, sie sähe ohnehin in der Welt mehr, als ihr lieb wäre. Plötzlich frohlockte sie wie über ein fröhliches Wiedersehen: «Dem hab' ich im Tanzsaal zweimal die Hand ums Maul geschlagen», prahlte sie mit Genugtuung. «Es reut mich nur die Seife; hätte ich's vorausgesehen, ich hätte Handschuhe dazu angezogen.»

«Hurra! da kommt er, der Conrad»,jubelte eine Stimme, «seht ihn, im Saatfeld, wie er um die Scheune schleicht.»

«Er will ihn von hinten fassen.» – «Bravo, Conrad!» – «Jetzt kann er ihm nicht mehr aus den Händen.» – «Stille doch! ruhig! zum Teufel! Absitzen! Von den Tischen herunter! Ihr verratet ja sonst den Braten!» – «Jetzt, jetzt, Conrad, drauf, pack ihn an der Gurgel!» – «Worauf wartet er nur?» – «Er hält an – es ist unbegreiflich.» – «Er fuchtelt mit den Armen, als ob er mit jemandem disputierte, und ist doch allein. Hat er denn plötzlich den Verstand verloren?» – «Er war schon hier so wunderlich.» – «Es muß ihm jemand Mißgünstiger etwas Dummes ins Ohr geschwatzt haben, das an ihm frißt», urteilte Cathri mit hartem Ton, stirnrunzelnd und einen feindseligen Blick nach der Eßstube sendend.

«Ja, natürlich, jetzt ist es zu spät! Jetzt hat ihn der andere entdeckt. – Er läßt den Stein fahren. Es ist zum Rasendwerden.» – «Warum steckt ihr aber auch alle die Köpfe zusammen wie eine Schafherde?» – «Gleichviel! Entrinnen kann er ihm doch nicht.» – «Endlich, endlich, Gott sei Dank! Hurra! Er hat ihn.» – «Hau ihn! streck ihn zu Boden!» – «Halt, was ist das? Er verliert den Helm.» – «Aber der andere purzelt auf den Boden.» – «Ja, aber er steht wieder auf» – «Warum läßt er ihn denn wieder aufstehn?» – «Wahrhaftig, nein, es ist nicht zum Ansehn! Weiß Gott, er läßt ihn laufen!» – «Punktum! Fertig! eine gefehlte Geschichte.»

«Was hab' ich gesagt?» polterte der Wachtmeister. «Hab' ich jetzt recht gehabt oder nicht?»

Und ärgerlich, als ob sie übervorteilt worden wären, setzten sie sich wieder zum Trunke, geräuschvoll anstoßend, um zu vergessen und zu verwinden.

Cathri aber blieb aufmerksam beobachtend auf dem Flecke stehen. Nach einer Weile bemerkte sie: «Es gefällt mir etwas nicht.»

«Warum? Wieso? Er kommt ja zurück! Er ist ja bereits auf der Straße.»

«Ja, aber, er hält sich so sonderbar.»

«Ihr habt ja selbst gesagt, es plage ihn etwas inwendig?»

«Es ist nicht das. Wenn er nur nicht am Ende einen bösen Hieb oder etwas dergleichen abbekommen hat!»

«Warum nicht gar! Dazu hätte er im Tanzsaal bessere Gelegenheit gehabt! Der starke Conrad Reber, und einen bösen Hieb! von einem einzigen! und noch dazu von was für einem! Übrigens, das wird er uns alles gleich selber am besten erklären, seht, da ist er ja schon an der Hausecke.»

«Jesus, Gott und Vater», schrie Cathri, «wo habt ihr eure Augen? Er ist ja bleich wie ein Leintuch!» Und die Vorstehenden gewaltsam beiseite stoßend, hastete sie ihm mit Riesensprüngen entgegen.

In diesem Augenblick schaute Anna aus dem Eßzimmer, warf einen Blick auf Cathri, einen zweiten nach dem Bruder, erblaßte und schwang sich mit einem einzigen Sprung auf die Erde.

«Conrad, was fehlt dir?» jammerte sie, ihn angstvoll umklammernd. «Sag's, sag's mir, der Schwester.» Zugleich stieß sie die herbeieilende Bernerin beiseite.

Conrads Lippen zitterten: «Ich bin gestochen», flüsterte er.

Da entfuhr ihr ein markerschütternder Schrei, der alles Volk aufschreckte. Nur die Musik dudelte weiter.

Er fuhr fort: «Ich habe den Helm verloren. Er liegt unter dem Nußbaum. Er gehört dem Leutolf. Ich mag jetzt doch nicht essen, ich habe keinen Appetit mehr. Wo bleibt denn nur die Mutter? Ich wußte ja nicht, daß sie gemütskrank war. Sag ihr das. Der Vater ist ein Ungeheuer, ein herzloses, wildes Tier, ja, das ist er. So holt doch den Helm, er ist ja nicht mein, er gehört dem Leutolf. Ich konnte ihn leider nicht selber aufheben.»

«Herr Reber», grüßte Cathri weinerlich.

Er wandte den Kopf nach ihr, aber sein verstörter Blick irrte über ihr Gesicht wie über einen leblosen, fremden Gegenstand. Und abermals von Anna weggestoßen, trat sie beiseite, an die Mauer, beschämt, gekränkt, beleidigt.

Indessen war eine entsetzte Menschenmenge herbeigesprungen, unter ihnen, außer Atem, der Doktor: «Wo?» fragte er, indem er mit tastenden Händen über Conrads Körper reiste. Und sich zurückbiegend: «Musik aufhören!» zürnte er. «Musik aufhören!» tönte ein vielstufiges Echo.

«Weshalb aufhören?» beklagte sich Conrad leise. «Warum sind überhaupt so viele Menschen da? – Warum starren sie mir alle ins Gesicht? – Was will man denn eigentlich von mir? Der Doktor soll doch weg, er tut mir weh. Anna, komm, wir wollen zusammen ins Haus, ich möchte allein sein.»

Kaum hatte er das gesagt, so wurde er erdfahl und brach in sich zusammen, unter des Doktors Händen weg, wie ein Holzstoß über dem Feuer, erst in den Gelenken, dann platt auf den Boden.

Anna warf sich über ihn, unaufhörlich seinen Namen rufend, in den süßesten Schmelzlauten, flötend, lallend, gurrend, auf und ab, durch alle Tonlagen der Kehle und aus allen Kammern des Herzens.

Andächtig verstummte das Volk vor dem schauerlichen Wohlgesang.

Der Doktor aber fiel auf die Knie, riß sein Besteck aus der Tasche, das er auf die Erde breitete, prüfte dann aufmerksam den Puls, erst am Handgelenk, hierauf, Anna wegschiebend, auch am Herzen. Allmählich zog er eine bedenkliche Miene. Endlich stand er, seine Instrumente einsteckend, langsam auf. Und während alle Augen an seinem Munde hingen, murmelte er gedämpft, als ob er für sich allein spräche: «Hier wird wohl wenig mehr zu operieren sein.»

Anna hatte das Wort vernommen und verstanden. Ihr Gesicht ward schlaff, und lautlos sank sie hin. Doch ehe noch jemand sie zu stützen vermochte, war sie wieder aufgesprungen, die geisterhaften Augen nach dem Hause emporgerichtet.

«Habt Ihr jetzt, was Ihr wollt? Seid Ihr nun zufrieden?» gellte sie, als hätte sie's durch die Mauer schreien mögen. «Jetzt bereitet er Euch keinen Kummer mehr! jetzt gibt er niemand mehr den mindesten Anlaß zur Klage! jetzt ist er nicht mehr zu vornehm! jetzt will er nicht mehr alles besser wissen, jetzt lacht er nie mehr zur Unzeit, Euer vielgeschmähter Conrad, der arme, arme Conrad!» Und wieder fiel sie über den Leichnam, diesmal mit wildem Röcheln, wie ein junger Jaguar.

Eine einzige Silbe wandelte feierlich durch das Volk: «Tot.» Flüsternd in den vorderen Reihen, gedämpft im Hintergrund, jenseits mit empörten Protestrufen des Unglaubens.

«Was?» – «Wo?» – «Wer?» – «Der ‹Pfauen›-Wirt?» – «Nicht der Alte, sondern der Junge, der Conrad, der Leutnant.» – «Warum nicht gar!» – «Das ist nicht möglich; das kann ja nicht sein.» – «Das hat ja keinen Sinn.»

Und von atemlos herbeirennenden Leuten füllte sich die Terrasse bis ins Dorf. Die Kellnerinnen standen leise weinend im vordersten Kreise, die gefalteten Hände vor dem Gesicht, als ob sie die Augen schützen wollten, damit sie die schreckliche Wahrheit nicht sähen. «Was das nicht ist!» – «Ist's auch möglich?» – «Wenn ich nur das nie hätte erleben müssen!» – «Der arme Meister! Und so gut! So herzensgut! Jesus, Jesus!» – «Und wenn jetzt der Vater und die Mutter das sehen!»

Cathri, abseits an der Mauer, starrte geistesabwesend ins Leere, mit gerötetem Gesicht und bebenden Lippen.

«Oh, der Elende, der Schurke! – Der beste, bravste, gutmütigste Tropf auf Gottes Erdboden! – Und von solch einem elenden Wicht!»

Während sie sprach, stupfte sie unablässig mit dem Fuß an die Mauer, immer heftiger, in steigender Empörung. Und ihre Finger nestelten krampfhaft am Schürzenband, bis es entzweiriß.

In ihrer Nähe, ebenfalls an der Mauer, und von dem übrigen Volk gesondert, standen die Waldishofer gruppiert, in deren Mitte der Wachtmeister gedämpften Tones eifrig redete. Sooft Zuzügler sich herbei machten, wurde ihnen etwas zugeflüstert, dann tauschten sie finstere Blicke und einen kräftigen Handschlag wie zu einem Eide.

Offenbar bildete sich hier eine Verschwörung.

Eine Bewegung entstand, eine Gasse tat sich auf. Von bedauernden, mahnenden, zusprechenden Menschen gehemmt, die sich ihm in den Weg stellten, ihn hinderten, zurückhielten, wankte der alte «Pfauen»-Wirt ruckweise daher, wie eine von Ameisen überfallene Raupe, welche die Last ihrer Peiniger mit sich schleppt.

«Laßt mich», keuchte er, «laßt mich zu meinem Sohn! ich will zu meinem Sohn.»

Dazwischen lärmte er gegen den Tod, wie gegen ein Obergerichtsurteil, seine gerechte Sache bekräftigend, seine versöhnliche Gemütsart beteuernd.

«Ich begehre ja nichts mehr für mich! Er hat ja jetzt alles, was er will!» Als er aber durch die Menschengasse seiner Tochter über dem Leichnam ansichtig wurde, schüttelte er den Kopf wie ein Stier. «Muß er mir denn ewig und ewig nichts als Kummer verursachen!» brüllte er.

Da wandte ihm Anna langsam ihr Schmerzensantlitz zu, das welt- und toddurchdringende Liebestreue mit überirdischer Schönheit verklärte: «Sieh, Vater, das ist jetzt unser Conrad», sang sie mit sanftem Dulderton, während ihr Mund fürchterlich zuckte.

Jetzt zerrte er sich gewaltsam los und humpelte dem Leichnam zu. Er wollte sich niederwerfen; allein seine geschwollenen Gelenke versagten dem Willen. Nun tanzte er auf seinen dicken Klumpenbeinen vor dem Leichnam auf und ab wie ein angeschossener Elefant. Plötzlich stieß er den Doktor wütend vor die Brust. «Lebendig machen! Wieder lebendig machen!» grölte er.

Der Doktor hielt ihm eine priesterliche Miene entgegen. «Lebendig machen», sprach er feierlich, «das steht leider nicht in unserer Macht.»

Von der Mauer aber warf Cathri in schneidendem Ton herüber: «Ja, lebendig machen, das ist jetzt zu spät! Hättet Ihr's benutzt, als es Zeit war!»

Anna schnellte auf und zuckte gegen Cathri einen Blick, scharf wie eine Lanze.


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