Carl Spitteler
Conrad der Leutnant
Carl Spitteler

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Aber von dem Anschauen des farbenstrotzenden Hügels geriet er allmählich ins Sinnen und vom Sinnen ins Träumen. Ein Bild stieg vor ihm auf. Eine Festhütte unten am Hügel in der Au, worin er die gesamte Mannschaft seiner Batterie freihielt, Offiziere und Gemeine, und zwar großartig, mit einem ausgesuchten Essen, wie man noch keines im Lande erlebte, mit der Konstanzer Musik dazu und Überraschungen für die Offiziere beim Nachtisch und Geschenken für die Soldaten, daß es für jeden einzelnen zeitlebens eine Erinnerung bleiben sollte. Das Bild bestand längere Zeit, deutlich und klar. Dann begann es zu schwanken, und ein anderes trat hervor: An der Stelle, wo gegenwärtig der alte häßliche Tanzsaal sich breitmachte, baute er ein Häuschen, nur ganz bescheiden in Riegelfachwerk, kein «Stil» und Balkone und Badezimmer und Zentralheizung, aber freundlich und wohnlich, mit frohmütigen Zimmern, mindestens drei Meter hoch, und einer geräumigen taghellen Küche, und Wandschränken, soviel nur angingen, und einer breiten, bequemen Laube, damit man im Freien essen kann. Maurer standen auf den Gerüsten, anstellige Welsche aus dem untern Tessin, singend wie die Lerchen, vom Morgen bis zum Abend. Unten hantierten die Maler an den grünen Fensterläden, Wasserdeutsche aus dem Norden in Jägersamt und Schlapphüten – er meinte, er röche die Farbe. Anna guckte ihm über die linke Schulter, der Doktor über die rechte. «Was in aller Welt baust du denn eigentlich da?» knurrte der Doktor in seiner überlegenen Besserwisserei. Denn, seine Wissenschaft in Ehren, und durchaus nicht das mindeste gegen den zukünftigen Schwager, aber sonderlich begabt war er nun einmal nicht, der Doktor, das hätte er selber zugestehen müssen, wenn er nicht ein bißchen zu beschränkt dazu gewesen wäre. Und die Schwester antwortete aus ihren schönen klugen Augen: «Jedenfalls etwas Unpraktisches.» Man ist ja immer «unpraktisch», im Urteil der Weiber. Er aber zog gelassen eine Urkunde aus der Tasche und reichte sie den beiden hin. Da rieselten der Schwester die Freudentränen in den offenen Mund, so daß sie ihm nicht einmal gleich zu danken vermochte. Und der Doktor drückte ihm unaufhörlich die Hand: «Aber Conrad, Conrad, was denkst du auch? Das können wir ja unmöglich annehmen.»

Ein Maikäfer purzelte kopfüber auf den Tisch, zappelnd, um sich aufzurichten. Nachdem er ihn gewissenshalber, wiewohl widerstrebend, vernichtet, knüpften seine Gedanken wieder vorne an. Eigentlich, grübelte er, in gewisser Hinsicht war es beinahe schade, daß Cathri einsprang. Er hätte doch erfahren mögen, ob der Alte den Hieb übers Gewissen brachte. Zwar, an sich betrachtet, eine Staatsleistung war es, so ruhig und einfach, mit dieser überlegenen Sicherheit, dem wahnsinnigen Wüterich gegenüber, der zu allem fähig war, während Schwester und Mutter mit ohnmächtigem Flennen tatenlos zuschauten. Und der Ton, mit dem sie das gesagt hatte! Überhaupt ihre Stimme! Zwar nicht eigentlich, was man eine sympathische Stimme nennt, obschon ja der Ton dem Ohr äußerst wohlgefällig klang: hart und kalt, als ob man einen Degen aus einer Samtscheide zückte. Indessen, eine Stimme, die einem Rettung in der Not gebracht, die hat halt einen besondern Kern! Ihm ward zumute, als hätte er in jenem Augenblick mit Cathri eine Verwandtschaft eingegangen, und zwar eine innige. Oder nein, nicht Verwandtschaft, denn was sind Verwandte? Menschen, die einem das Leben verbittern, mit dem Anspruch, das als einen Beweis der Liebe zu verdanken. Freundschaft vielmehr. Beim Kuckuck, warum auch sollte man nicht mit jemand, der einem zusagt und der einem Gutes getan, plötzlich Freundschaft schließen? Freundschaft ist doch kein Mostapfel, daß sie nur allmählich reifte! Plötzlich lächelte er vor sich hin, als ob er in etwas Leckeres gebissen hätte. Es war ihm nämlich eingefallen, daß Cathri eine ledige Jungfrau war und er ein heiratsfähiger Bursch, woraus sich verlockende Möglichkeitsbilder entwickelten, denen er träumerisch nachhing.

Jucunde erschien mit dem Wein, in einem Atem sich lästerlich anklagend und angelegentlich entschuldigend wegen der sträflichen Vernachlässigung, während sie ihm übereifrig einschenkte. Ehe sie wieder davoneilte, wand sie ihm hastig den Arm ums Gesicht, wie ein Naschwerk, um ihn zu vertrösten.

Er aber stieß angeekelt das fremde Fleisch beiseite und fuhr unbehindert in seinen lieblichen Träumereien fort, denn er hatte sich durch die Störung nur oberflächlich wecken lassen. Freilich, gesetzt den Fall, zum Beispiel, er möchte und sie willigte ein, so würde er natürlich Feuer und Flamme dagegen speien, der alte Drache, daran war nicht der mindeste Zweifel. Nun, um so besser, dann gerade erst recht! Hiermit war er wieder da angelangt, wohin er stets im Kreis zurückkehrte: bei ihm, dem Unvermeidlichen, dem Unausstehlichen, dem Feind seiner Beschaffenheit und Eigentümlichkeit, Feind seiner Wünsche, Pläne und Hoffnungen, Feind in allem und jedem, überall und immer.

Neuerdings packte ihn der Groll und krampfte sich seine Hand, aber diesmal um das Weinglas, das er mit einem einzigen Zuge leerte, trotz dem sauren gepanschten Krätzer. Darob wandelte sich der Groll in Zorn, und der Zorn stiftete ihn wieder zum Trinken an. Bald verwirrte sich sein Geist. Ein Taumel betäubte ihn, durch welchen er bloß noch das Hämmern des Blutes gegen die Schläfen spürte, verbunden mit dem leidenschaftlichen Gelüsten, irgend etwas Gewaltsames zu vollführen, und zwar lieber früher als später, am liebsten auf der Stelle.

 

Ein roher Lärm tobte durch den Hausgang, untermischt mit festlichen Jauchzern, und gleich einem Feuerläufer kam der Knecht aufgeregt um die Ecke gesprungen: «Die Niederwagginger sind da», meldete er mit wichtiger Miene.

«Jucunde, schnell! Flaschen und Gläser, soviel da sind!» gellte die Neuberin, hüpfend vor Freuden.

Zu spät. Schon ward das Gärtchen von einer Rotte ungeschlachten Volkes erobert, das sich stürmisch auf die Stühle warf, im Nu jedes Plätzchen besetzend. Der Rest wirbelte hin und her, nach Bedienung lärmend und Wein begehrend. Sessel wurden als Beute aus den Zimmern herbeigeschleppt, hoch über die Köpfe erhoben, Weinflaschen reihenweise nach Dachdeckerart von Hand zu Hand vermittelt, alles so tumultuarisch wie möglich, aber in Frieden und Eintracht. «Heute geht's den Oberwaggingern an den Kragen!» triumphierte eine Stimme. «Der Tanz im ‹Pfauen› wird wohl heute schwerlich bis Mitternacht währen», höhnte ein anderer. Beifallsgelächter erscholl, Fäuste wurden prahlerisch geballt, gespannte Muskeln vorgewiesen, Stöcke geschwungen. Hinter den Burschen aber erschien nachträglich ein verschämter Weibertrupp, das Getümmel vermehrend, festlich geputzte Jüngferchen, Feldblumensträuße vor dem flachen Busen. Schüchtern schoben sie sich in die Lücken des aufgeregten Mannsvolkes, glückselig inmitten der Püffe und Tritte. Keine Bedienung vermochte das menschliche Dickicht zu durchdringen. Wo immer die Neuberin oder Jucunde sich hervorwagten, ward ihnen mit handgreiflicher Zärtlichkeit dermaßen zugesetzt, daß sie schleunigst die Flucht ergriffen. Dabei hieben sie weidlich mit den Fäusten drein, die eine wie die andere, unter entrüstetem Quietschen und Belfern, übrigens mit dem vergnügtesten Gesichte der Welt. Sie genasen augenscheinlich in dem Höllenbreugel.

Conrad hatte keine Zeit gefunden, sich vor dem ungestümen Menschenschwall zurückzuziehen; infolgedessen sah er sich auf seinem Platz festgepreßt, so daß ihm nichts übrig blieb, als sich so schmal wie möglich zu zwängen. Das ertrug er zwar ergeben, wie man ein Naturereignis erträgt, allein in der übelsten Laune. Plötzlich juckte er auf und sträußte die Ohren. Nämlich die Worte «Pfauen», «Kellnerinnen», «karessieren» hatten ihn getroffen. Und wie er den Kopf danach wandte, gewahrte er einen langen Lümmel mit einem schiefen Karpfenmaul und abstehenden Ohren, schlüpfrig wie ein Regenwurm, dem er's etwa zutraute. In der Tat, der verdrehte zischelnd die lüsternen Augen. Schon wollte er sich angewidert abwenden, da glaubte er zu hören: «die schöne Anna vom ‹Pfauen›». Nein wahrhaftig, da sagte er's noch einmal, ganz deutlich, der Wicht: «die schöne Anna vom ‹Pfauen›».

«Ihr dort! Nehmt den Namen meiner Schwester nicht in Euer schmutziges Maul», herrschte Conrad hochfahrend, so rauh und beleidigend, daß er selbst davor erstaunte; ein Ton wie eine Ohrfeige.

Der Regenwurm kehrte sich zögernd herum, nicht einmal sonderlich verwundert, betrachtete den Gegner geraume Weile mit lauerndem Blick, dann erwiderte er mit flauer Stimme: «Man sagt ja durchaus nichts Schlimmes von Euerer Schwester, nicht im mindesten, im Gegenteil.»

Hiermit wähnte Conrad den Fall erledigt. Indessen der andere ließ ihn mit seinem tückischen Blicke nicht mehr los: «Es darf ja einer sogar den Namen Gottes aussprechen», munkelte er, «da wird der Name der Jungfer Reber wohl auch noch erlaubt sein. Schließlich ist sie ja doch nur ein Mensch wie wir. Oder was denn sonst?»

Und immer von neuem setzte er verbissen an, während Conrad sich verächtlich abkehrte, aber doch heimlich hinhorchte, wie ein Tiger, der gereizt wird und sich einstweilen noch beherrscht.

«Ein Maul braucht deshalb noch lange nicht schmutzig zu sein, weil es Schwarzbrot ißt statt Weißbrot. Es gibt Mäuler, die Hühnchen fressen und sind doch schmutzig.» Und ferner: «Wenn einer schon reich ist und ein Rößlein im Stall hat und eine Uniform im Schrank, so hat er deswegen nicht nötig, solch einen hochmütigen Ton mit dem Volke anzuschlagen wie mit einem unsinnigen Stück Vieh.» Dann wieder nach einer Weile: «Er kommandiert auch nicht immer so laut, der Herr Leutnant. Daheim im ‹Pfauen›, dem Vater gegenüber, redet er einen sanfteren Violinschlüssel, vorausgesetzt, daß er überhaupt zu reden wagt.»

Ein höllischer Pfiff durch die Finger schrillte Alarm. «die Oberwagginger!» scholl es wie Kriegsruf.

«Wo?» brüllten Dutzende von weinheisern Kehlen.

«Haraus!» krächzten andere, und wie ein Rudel Hirsche brach die vollzählige Dorfmacht durch den Hag, um des Feindes ansichtig zu werden. Was im Wege stand, wurde rücksichtslos zu Boden gerannt, Tische mitsamt dem Geräte, Stühle zugleich mit den daraufsitzenden Zechern, einerlei wer oder was.

Solange Conrad nur zufällig Stöße mit abbekam, hielt er an sich. Höchstens, wenn sie ihm über die Füße stampften, warf er die nächsten kurzerhand über den Haufen, verteidigungshalber, was diese auch keineswegs wichtig krumm nahmen, sondern sich gleichmütig wieder auflasen, als wären sie über einen Schemel gestrauchelt. Höchstens daß ihm einer oder der andere flüchtig die Faust wies. Einer entschuldigte sich sogar: «Ja so! Uha! Nichts für ungut, Herr», stammelte er verträglich, mit linkischem Gruß.

Ein Hieb jedoch traf ihn so spitzig, so ausdrucksvoll, so beredt in den Rücken, daß er Absichtlichkeit witterte, und wie er sich blitzschnell herumwarf, überraschte er hinter sich den Regenwurm, der keine Frist mehr hatte, eine harmlose Miene zurechtzulegen, sondern, sich ertappt fühlend, die Flucht ergriff, im Gewühl untertauchend, die Arme zum Schutz über den Kopf gekreuzt wie ein Schulbube. Er flugs ihm nach, mitten durch den Haufen, den er gewaltsam teilte. Am Gartenpförtchen hatte er ihn, packte ihn am Kragen und schmiß ihn mit einem Fußtritt auf die Straße. Es war sonst nicht seine Gewohnheit, der Fußtritt. Allein diesmal überkam es ihn wie eine Offenbarung; diesem mußte er einen Fußtritt verabfolgen, seiner Schwester zu Ehren und dem schiefen Maul zuliebe. Nachher spürte er sofort eine wohltuende Zufriedenheit, so daß er ruhig den Aufmarsch der feindlichen Bauernheere besichtigen mochte, als Zuschauer.

Die Niederwagginger waren bereits sämtlich draußen auf der Straße, gefolgt von dem Weibertrupp, der teils abmahnend, teils mit neugieriger Abenteuerlust sich anhängte, alle ohne Ausnahme mit erhöhtem Respekt vor den gewalttätigen Knaben. Erst hielten diese Kriegsrat. «Punkt sechs schlagen wir los, nicht früher und nicht später», lief es durch die Reihen. Dann nahmen sie die Jungfern in die Mitte und schlossen die Glieder; hierauf drückten sie die Hüte tief über die Stirn und schritten mit geducktem Kopf scheinheilig fürbaß, dem Dorfe entgegen. Vor ihnen her in geraumer Entfernung, seitwärts im Kornfeld zur Linken der Kirschenallee, zog die Oberwagginger Dorfschaft mit ihren Weibern, ebenfalls in scheinfrommer Verfassung. Beide Haufen beobachteten einander, sorgsam darüber wachend, daß der Abstand zwischen ihnen sich weder erweitere noch verkürze. Von Zeit zu Zeit schnellte ein Kopf aus der Nachhut empor, wie ein Hahn, der krähen will, schickte rasch dem Feind ein fistelndes «Haraus» entgegen und versteckte sich hurtig wieder im Knäuel. So rückten die beiden Truppen allgemach vor, den Rain hinan, dem «Pfauen» entgegen.

Conrad triumphierte; nämlich die Nuß enthielt für ihn einen süßen Kern. Hatte er denn nicht dem Vater wohlmeinend vom Tanz abgeraten? Und was für einen Lohn hatte er für seinen guten Rat geerntet? Wohl denn, so möge er's haben. Und ein dämonischer Wunsch nistete sich in sein Herz, der Wunsch, daß Blut fließen möge, der Wunsch des mißhandelten Propheten.


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