Carl Spitteler
Conrad der Leutnant
Carl Spitteler

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Wiederholte Male während dieser Unterredung hatte Conrad beiseite treten müssen, um nicht von den Tischen gestoßen zu werden, welche das Gesinde aus dem Tanzsaal beförderte, ausgelassen schäkernd, unachtsam und rücksichtslos. «Platz für sieben Mann, es kommt ein halber», pflegten sie lachend zu befehlen, und jedermann ohne Unterschied mußte weichen. Daran hatte er zwar zunächst kein Ärgernis genommen, da das Gespräch seine Aufmerksamkeit abzog, aber jetzt stieß es ihm nachträglich auf. Und als er vollends den Portier gewahr wurde, wie er Brigitte mit Kies bewarf, nahm er den aufs Korn.

«Portier», befahl er schroff, «tragt diesen Stuhl da ins Eßzimmer.» Und da ihm weder Gehorsam noch Antwort zuteil wurde, verstärkte er den Ton: «Habt Ihr mich verstanden oder nicht?»

«Es wird wohl nicht so gewaltig pressieren», maulte der Portier, indem er neuerdings eine Handvoll vom Boden raffte.

Da wetterte ihm Conrad wie der Sturmwind entgegen: «Wenn ich etwas befehle, so pressiert es immer», erklärte er. Damit packte er ihn mit grausamen Fingern am Ohrläppchen wie mit einer Zange und zerrte ihn schonungslos an den Stuhl, daß ihm die prahlerische Mütze vom Kopfe taumelte. «Meinst, ich werde dich pressieren lehren? meinst, ich bringe es zustande?»

Jetzt gehorchte der Portier greinend. Doch unter der Haustüre angelangt, warf er den Stuhl von sich, fing an zu plärren und drehte sich mit einer rachedrohenden Grimasse nach dem Meister um, ehe er verschwand.

«Recht so», rief Cathri, vergnügt mit den Händen klatschend, «genau wie unser Hans.» Die Kellnerinnen indessen starrten Conrad scheu an, als sähen sie ihn zum ersten Male. Eine Weile standen sie wie festgebannt, dann flüchteten sie jählings auseinander, bis sie allmählich neugierig zurückkehrten, um sich heuchlerisch etwas zu schaffen zu machen, wobei sie bald ängstlich nach dem Hause lauerten, bald verstohlen den Blick zu Conrad erhoben. So oft eine bei ihm vorbei mußte, wich sie ihm in einem großen Bogen aus.

«Jetzt aber beißt die Zähne zusammen, Herr Reber», warnte Cathri aufgeräumt, «Ihr könnt Euch auf ein Donnerwetter gefaßt machen.»

Zuerst hatte es nicht den Anschein, als ob sich die Weissagung erfüllen sollte, so daß die Kellnerinnen nach und nach Mut schöpften und, ihre Furcht abstreitend, das Erlebnis ins Komische kehrten.

«Es hat ihm gehört, dem pressiert's ein andermal schneller.»

Josephine hob die Portiermütze vom Boden, schlug sie vom Staub rein, stülpte sie sich als Siegeszeichen auf den Kopf und parodierte damit herum.

Da klappte das Wohnstubenfenster auf, und der Kopf des Vaters erschien darin, nach Conrad gerichtet. «Es scheint, du verlangst, daß man dir noch die Rute verabfolge wie einem kleinen Kinde», schrie er.

Conrad schnellte auf den Absätzen herum. «Es soll das ein einziger Mensch auf der ganzen Welt versuchen», schrie er zurück, mit einer Stimme, die über die Dächer schallte.

Siehe, da bewegten sich in der Schlafstube der Mutter die Vorhänge. Das wirkte auf ihn wie ein Mirakel, so daß er sich augenblicklich bezwang. Der Vater seinerseits, nachdem er umsonst auf eine Herausforderung gewartet hatte, zog endlich langsam den Kopf wieder einwärts. Das Klappfenster schloß sich geräuschvoll, dann ward alles wieder stumm.

Cathri aber machte sich an Conrad heran. «Im Ernst, Herr Reber», redete sie ihm zu, «ich wiederhole es zum drittenmal: flieht!»

«Jetzt nicht mehr», knirschte er. «Jetzt erst recht nicht. Fliehen? Nein, fliehen, das ist nicht meine Art.»

Helene warf ihm im Vorübergehen heimlich das Wort zu: «Herr Reber, der Kutscher läßt Euch melden, ob Ihr auch wüßtet, daß er die Lissi für den Herrn Regierungsrat Lauterbach anspannen müsse? Aber Ihr möchtet ihn doch ja um Gottes willen nicht verraten, daß er's Euch verraten hat.»

«Was? Die Lissi?» brauste er auf «Ich glaube, Ihr redet im Fieber. Es hat bisher noch niemand gewagt, über die Lissi ohne meine ausdrückliche Einwilligung zu verfügen.»

«So schaut selber nach», erwiderte sie gedämpft. «Sie steht vor dem Haus, schüttelt den Kopf und scharrt mit den Füßen.»

«Das möchte ich denn doch erst mit meinen eigenen Augen bewahrheiten, ehe ich es glaube», rief er mit rollenden Augen und machte sich eilends auf, trotzig und entschlossen.

 

Richtig, da stand sein Rößlein leibhaftig zwischen den Landern, vor dem Einspänner, munter und wohlgemut, mit den Füßen scharrend und die Gebißstange kauend, daß der Schaum spritzte, und glotzte ihn unverschämt an, die treulose, als wäre alles richtig und in Ordnung.

«Benedikt», forschte er strenge, «wer hat Euch geheißen, die Lissi anspannen?»

«Euer Vater, der ‹Pfauen›-Wirt selber.»

«Gut. So spannt das Rößlein wieder aus und sattelt es. Ich will ausreiten.»

«Euer Vater ist mein Meister, und Ihr seid ebenfalls mein Meister. Ich habe nichts als einfach zu gehorchen. Befiehlt man mir anzuspannen, so spanne ich an, befiehlt man mir wieder auszuspannen, so spanne ich wieder aus. Aber wohlverstanden: die Verantwortung übernehme ich nicht, ich berufe mich auf Euch.»

«Selbstverständlich. Also ich gehe jetzt die Sporen und Reithosen anziehen. Ihr sorgt dafür, daß gesattelt ist, wenn ich zurückkomme.»

«Das wird bald richtig sein – vorausgesetzt, daß kein Hindernis dazwischentritt.»

Conrad faßte ihn scharf ins Auge: «Wenn ich etwas befohlen habe», bedeutete er nachdrücklich, «so tritt kein Hindernis dazwischen. Die Lissi ist mein. Ich habe sie gekauft, aus meinen langjährigen Ersparnissen; deshalb habe ich über sie zu verfügen und niemand anders.» Dann liebkoste er einen Augenblick seinen Gaul, gewohnheitshalber, ihm die Nase klemmend. Hierauf begab er sich ins Haus.

Im Hausgang versperrte ihm der Vater den Weg mit seinem massigen Körper, der zu beiden Seiten beinahe die Wand berührte.

«Verzeih, Vater», heischte Conrad höflich, doch bestimmt, «sei so gut und laß mich durch.» Damit drückte er sich behutsam an ihm vorüber.

«Wohin?» schnob ihn der Alte an, als er vorbei war.

«Ausreiten!»

«Du reitest nicht aus!» brüllte er ihm nach.

«Ich reite aus.» Und eilte die Treppe hinauf nach dem zweiten Stock in seine Mansardenkammer, verriegelte die Tür und zog sich gemächlich um, ohne sich im mindesten zu sputen. Knappe Lederhosen, gespornte Wadenstiefel, Samtwams und eine dunkelblaue Halsbinde, die er kunstgerecht zu einer losen Schleife schürzte. Hierauf prüfte er sich oberflächlich im Spiegel, ob er bestehe, ob nichts mangle und nichts gebreche, ringelte sein kleines Schnäuzchen, damit es keck in die Welt schaue, und stolzierte dann mit schallendem Gesang über die Schwelle. Denn der flotte, saubere Reiterstaat hatte ihm Leibesmut und Lebenslust aufgefrischt.

Vor der Mansardentür empfing ihn seine Schwester mit Schmeicheln und Bitten. «Conrad», flehte sie, «treib's nicht zum Äußersten. Tu's mir zuliebe. Was verschlägt es dir, ob du heute ausreitest oder ein anderes Mal?»

«Mich wundert's im Gegenteil», entgegnete er hitzig, «daß ich's von jemand anderen als von dir erfahren muß, wenn man mir heimtückisch die Lissi entzieht. Oder hältst du's vielleicht jetzt auch schon mit dem Vater?» Und während er sprach, schob er sie mit schonender Hand hurtig beiseite.

«Und der Herr Regierungsrat, der auf die Lissi wartet und dem man sie versprochen hat!» wandte sie vorwurfsvoll ein.

«Versprochen? Es kommt darauf an, wer. Ich nicht. Übrigens tut der Bläß oder der Scheck oder der Kohli genau denselben Dienst. Man braucht nicht aus lauter Bosheit, eigens mir zuleide, gerade die Lissi zu wählen.»

«Gelt!» versetzte sie beleidigt, «wenn dich Cathri darum gebeten hätte, du hättest gleich nachgegeben!»

«Und die Handschuhe!» rief sie ihm nach, «die Handschuhe! Du wirst doch nicht ohne Handschuhe ausreiten wollen!»

Im mittleren Stock zitterte die Mutter unter der Schlafstubentür: «Willst du mich vollends unter die Erde bringen?» hauchte sie.

«O nein», erwiderte er kalt, indem er vorüberschritt, «bloß selber ein bißchen leben, nachdem ich doch einmal auf der Welt bin, und nicht durch meine Schuld. Das heißt, vorausgesetzt, daß man das überhaupt noch ein Leben nennen kann, wenn man einem jede Lebenslust verleidet, jede Freude verdirbt, jedes Lachen, jede freie Bewegung, jedes harmlose Wort zum Verbrechen stempelt.»

Auf dem Weg nach dem Telephonstübchen, wo er die Reitpeitsche hangen hatte, hörte er den Vater in der Wohnstube toben. «Ich bring' ihn um. Ich schlage ihn tot wie einen tollen Hund.»

«Das gäbe eine Beschäftigung für den Staatsanwalt», rief Conrad.

Ob er schon wußte, daß der Vater das Wort nicht vernehmen konnte, gewährte es ihm doch Genugtuung, es laut zu rufen.

Wie er nach Behändigung der Reitpeitsche sporenklirrend auf den Platz trat, der Lissi entgegen, welche, vom Kutscher gehalten, gesattelt und gezäumt bereitstand, folgten ihm unbeholfene, schlurfende Schritte, ein Schatten überholte ihn, er hörte einen mühseligen Atem röcheln, und mit einem schnellen Seitenblick erkannte er den Vater, mit einer Geißel bewaffnet, aber verkehrt, den Griff nach oben, die Faust um die Mitte des Stockes geklammert.

Da musterte er mit absichtlicher Umständlichkeit Zügel und Bügel, untersuchte das Gebiß und prüfte mit untergeschobener Flachhand den Sattelgurt, beobachtete jedoch bei alledem jede Bewegung des Vaters. «Den Sattelriemen eine Nummer fester schnallen, Benedikt; er schlottert.»

Und während der Kutscher dem Gebot nachkam, sprach er der Lissi freundschaftlich zu, welche aufmerksam die Ohren spitzte und sie hierauf eines nach dem andern zurücklegte.

Einiges Volk hatte sich auf dem Platz gesammelt, um das zierliche, schmuck aufgezäumte Tierchen zu begaffen. Vom Hause her aber drang unterdrücktes Flehen jammernder Frauenstimmen.

«Vater, versündige dich nicht! Denk an Gott und den Heiland!»

«Conrad, wie kannst du das vor uns und deinem Gewissen verantworten!»

Ratlose Gestalten, in sinnloser Angst die Hände verwerfend, huschten unentschlossen vorwärts und rückwärts, mit dem schüchternen Bestreben, sich zwischen Vater und Sohn einzuschieben. Darob wurde jedoch die Lissi unruhig, begann zu tanzen und machte Miene, zu steigen und auszuschlagen.

«Weg von dem Rößlein, in des Teufels Namen, mit dem verfluchten Weibervolk», schnauzte der Kutscher in seiner Not, da er das Tierchen kaum mehr bemeisterte.

In dem Augenblick, als Conrad sich anschickte, dem Kutscher die Zügel abzunehmen, stellte sich der Alte mit gespreizten Beinen fester, holte mit weitem Arm aus und hob den Geißelstock. Halb erstickte Schreckensschreie ertönten, das Pferdchen entsetzte sich mit jähem Sprung im Halbbogen um seine Achse; der Kutscher, die Füße stemmend, fluchte den ganzen Kalender herunter, Conrad aber bohrte dem Vater einen feindseligen Blick in die wutentzündeten Augen.

Da trat Cathri ruhig mit langen Schritten vor und legte die Hand auf den Arm des «Pfauen»-Wirts. «Herr Reber», sprach sie gelassen, mit lautem, nachdrücklichem Ton, «der Gaul verträgt die Peitsche nicht. Der ist ohnehin feurig genug. Gebt die Geißel lieber mir.» Und nahm ihm den Geißelstock sanft aus der Hand, einfach und zuversichtlich, als verstände sich das von selber.

Der Alte aber war so verblüfft, daß es geschehen war, ehe er mit sich eins geworden, ob er es dulde oder wehre.

Unterdessen hatte sich Conrad behend und leicht in den Sattel geschwungen, trotz seiner Größe, und ritt nun, Cathri einen militärischen Gruß mit verbindlichem Lächeln bietend, in förderndem Schritt von dannen.

Hinter sich aber vernahm er den empörten Ruf seiner Schwester: «Es sieht nachgerade schon völlig danach aus, als ob Cathri im ‹Pfauen› regierte.»


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