Carl Spitteler
Conrad der Leutnant
Carl Spitteler

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Auf der Terrasse angelangt, sah er unter dem Volk einen Tisch voll Uniformen glänzen. Bei diesem Anblick ward ihm wohl ums Herz, innig und dankbar wohl, als ob ihn jemand aus einem tiefen Nebelsumpf, in dem er bis zum Halse steckte, in trockenen Sonnenschein gehoben hätte. Ehre, Ansehen und Freundschaft grüßten ihn aus den goldenen Knöpfen, aus den blinkenden Säbeln, und darüber wölbte sich wie ein verklärter Himmel ein großer, schwungvoller Gedankenbogen, der von Genf bis Schaffhausen und von Basel bis Chiasso reichte.

Während er so mit leuchtenden Augen frei und stramm auf den Offizierstisch zusteuerte, stiefelte ihm der Oberst lebhaft entgegen, ein mächtiges Freudenhallo anstimmend, umarmte ihn und tappte ihm auf die Schultern. Da er die übrigen Offiziere nicht kannte, erfolgte eine förmliche Vorstellung. Man tauschte militärische Grüße, hierauf einen biedern Handschlag, und auf das ausdrückliche Geheiß des Obersten nahm Conrad an seiner Seite Platz.

Der «Pfauen»-Wirt hatte sich inzwischen beiseite gedrückt, doch der Oberst forderte ihn mit kordialem Spektakel zur Stelle. «Heda, alter Brummbär», lachte er, «was soll denn das bedeuten, daß Ihr auskneift wie ein pulverscheuer Rekrutengaul? Seid Ihr vielleicht zu stolz, um mit unserer Gesellschaft vorliebzunehmen? Freilich, wenn einer solch einen Prachtkerl zum Sohn hat, darf er schon stolz sein! Geht doch mir selber das Herz auf, wenn ich ihn sehe.» Hiermit patschte er Conrad auf die Knie wie ein verliebter Onkel. Der Alte, beschämt durch die begeisterte Belobung des verworfenen Sohnes, schnupfte und knurrte, schließlich schleppte er sich gleichwohl zögernd herbei.

«Was glotzt ihr denn einander an wie zwei Dächse um einen Knochen? Auf!» befahl der Oberst. «Vorwärts! stellt euch beide nebeneinander.»

Da half nichts. Sie mußten friedlich nebeneinander stehen, den Abscheu niederzwängend und die Stirn glättend. Kaum, daß sie vermieden, sich zu berühren. Aber den Blick richteten sie nach verschiedenen Seiten.

Der Oberst verglich die beiden, vergnügt und beifällig. «Nun, was meint ihr, Kinder?» wandte er sich zu den Kameraden, «wenn wir lauter Mannschaften von diesem Schlage hätten? Donnerwetter, das gäbe eine Truppe! Hm? Was meint ihr? Da lernt man's glauben, daß sie die Pferde mitsamt den Reitern kopfüber schmissen, die alten Eidgenossen!»

Hierauf nahm er den Alten besonders vor. «Ja, ja, mein Teuerster, die Söhne, die Söhne, die Söhne! Das ist unsere Zukunft, das sind unsere Totengräber.»

Bei diesen Worten nahm er die goldberänderte Mütze vom Kopf und strich fröhlich mit der Hand über seinen weißen Schädel.

Der «Pfauen»-Wirt, ob dieser Todesmahnung, wechselte die Farbe, vom Blau bis zum Violett, Conrad aber, er konnte nicht anders, spürte Mitleid mit dem Vater.

«Mit dem Begraben, Herr Oberst», wandte er ein, «hat es noch gute Weile, sowohl mit Ihnen wie mit meinem Vater.»

«Ta, ta, ta!» machte der Oberst. «Patati, patata! In unserm Alter, mein Lieber, muß jeder stündlich darauf gefaßt sein, das Gewehr abzugeben! Nicht wahr, Herr ‹Pfauen›-Wirt? – Nun, die Hauptsache ist, daß man wenigstens jemand auf der Welt hat, der einem die Augen zudrückt, der einem ein wohlwollendes Andenken bewahrt, der einem die Altersbresten mit dankbarer Liebe und Anhänglichkeit verwinden hilft.»

Nun war die Reihe, sich zu schämen, an dem Sohne. Er errötete, senkte den Kopf und schwieg.

Jetzt aber sprang ihm der Vater bei: «Es gibt ja freilich mitunter kleine Mißverständnisse», brummte er ausweichend.

So suchten sie beide nach außen den Schein des Friedens zu retten, der Ehre und dem Ansehen der Familie zuliebe. Allein auf die Länge war die Stellung nicht haltbar. Auf der einen Seite der Oberst, der sie in seiner Einfalt zusammenschweißte, auf der andern ihre krampfhaften Bemühungen, sich weder zu berühren noch anzublicken, und herum die beobachtenden Offiziere. Deshalb spähten sie bänglich nach einem erlösenden Zwischenfall.

Conrad entdeckte ihn: «Verzeihen Sie, Herr Oberst», ersuchte er höflich, «ich sehe die Feuerwehr von Waldishofen anrücken, zwanzig Mann hoch, und ich als der Herrlisdörfer Feuerhauptmann...»

«Versteht sich, versteht sich, mein Lieber», erlaubte der Oberst. «Ohnehin müssen wir ja unsererseits ebenfalls auf den Heimweg bedacht sein. Die Pferde sind längst gesattelt, wir haben einzig Ihretwegen noch ein wenig verzogen. – Und diese Messe stammt auch nicht von Cherubini», fügte er lachend hinzu, nach dem Tanzsaal deutend, wo eben ein infernales Gejohl anging.

Es folgte ein kurzer Abschied, mit Sporenklirren und Absatzzusammenklappen; die Offiziere brachen auf, der Vater verzog sich, und Conrad schickte sich an, seine Feuermänner zu empfangen, welche schon, vom Anblick der stattlichen Cathri angelockt, nach der Matte abbogen.

Unterwegs jedoch holte ihn Anna eifrig ein, mit geschäftiger Eile und geheimnisvoller Miene. Redselig meldete sie: «Ein wunderhübsches Fräulein steht im Hausgang mit ihrer Mama und frägt nach dir. Sie haben deine Bekanntschaft in Frauenfeld gemacht, an einem Ball. Sie hätten sich leider auf ihrem Ausflug verspätet und müßten auf den Zug, sonst würden sie dich nicht so unhöflich in den Hausgang bestellen; aber so, ohne wenigstens einen flüchtigen Gruß am ‹Pfauen› vorbeizugehen, hätten sie doch nicht übers Herz gebracht, und sie hofften, du werdest sie entschuldigen.»

Über Conrads Gesicht flog ein Strahl der Freude. «Ah, ich weiß!» rief er lebhaft und wollte mit der Schwester aufbrechen, die Damen zu begrüßen.

Da gewahrte er Cathri jenseits des Mäuerleins, kaum drei Meter entfernt, steif wie eine Säule und die funkelnden Augen drohend auf ihn gerichtet. Ohne Zweifel hatte sie den Bericht der Schwester mitangehört und erriet, was auf dem Spiele stand.

«Ich glaube fast, sie zählen ein wenig darauf, daß du sie an den Bahnhof begleitest», fuhr Anna fort, im Begriff, ihn mitzunehmen.

Allein er war stehengeblieben. Eigentlich wäre er zwar gerne zu den Damen gegangen und mit ihnen an den Bahnhof – denn liebliche Erinnerungen wachten mit klaren, schönen Morgenaugen auf –, allein Cathris strenge Miene sprach zu ihm: «Jetzt wird sich's erweisen; jetzt hast du's in der Hand. Je nachdem du entschließest, werde ich beschließen.»

Während er noch zweifelte, zwischen Furcht und Gelüsten, teufelte drinnen im Tanzsaal ein Charivari wie am Jahrmarkt, wenn eine Menagerie brennt.

Da gesellte sich zur Furcht die Scham. Wie stand er nun da, vor dem wählerischen Geschmack seiner feinfühligen Tänzerin, die ihn als schmucken Offizier kennengelernt hatte! Einfach als Bauernwirt, ja klipp und klar Bauernwirt, sonst nichts. Das andere, der ritterliche Soldatenrock, nahm sich dagegen wie eine zeitweilige Verkleidung aus. Eine heiße, peinliche Röte überlief ihn.

Nein, in den «Pfauen» von Herrlisdorf führt man kein zartsinniges, wohlerzogenes Stadtfräulein heim, dazu war sie ihm zu gut, zu wert. Und da eben jetzt auch die Offiziere sich entfernten, deutete seine Entmutigung das wie eine Bestätigung seiner Erniedrigung. Ein Bauer war er, ein Bauer blieb er, dieser Wahrheit galt es sich zu fügen. Und rasch entschlossen wie immer traf er die Wahl: «Es tut mir leid», entschied er, «allein ich muß durchaus meine Waldishofer in Empfang nehmen.»

«Jedenfalls wirst du ihnen wenigstens schnell einen guten Abend wünschen, selbstverständlich», warf die Schwester hitzig ein, mit erhobener Stimme.

Er schüttelte verneinend den Kopf und entfernte sich mit beschleunigtem Schritt, als besorge er, es möchte ihn gereuen. Und unwillkürlich nahm er dabei einen nachlässigeren Gang an als gewöhnlich.

«Aber das ist ja geradezu eine Unhöflichkeit, eine Beleidigung», rief sie ihm empört nach. Doch er verschloß die Ohren.

Cathri erwartete ihn an der Mauerecke. Ihr Auge schillerte falsch und noch etwas feindselig, im Nachklang der ausgestandenen Eifersucht. «Warum seid Ihr denn nicht gegangen, das feine Stadtfräulein zu begrüßen?» tadelte sie verdreht, mit heuchlerischem Vorwurf.

«Des Menschen Seele ist doch ein verwickeltes Ding», dachte er. Nämlich auf der Oberfläche fand er Unbefangenheit genug, um sich über diese kleine weibliche Verlogenheit in Cathris Mund zu wundern, denn er hatte gemeint, Grobheit wäre eine Bürgschaft für Wahrhaftigkeit; während er gleichzeitig inwendig die Brust voll Wärme spürte, ohne Vorbehalt noch Abzug. «Weil ich vorziehe, mich mit meinem guten Geiste zu unterhalten», antwortete er, mit bebendem Tone, denn die Notwendigkeit der Wahl hatte ihn ergriffen.

Da schenkte sie ihm einen sonnigen Freundschaftsblick: «Ich danke», bemerkte sie schlicht. Sie blieb noch ein Weilchen nachdenklich vor ihm stehen, hin und wieder zu ihm emporschauend, halb prüfend, halb liebend. Und als sie ihn verließ, berührte sie verstohlen seine Hand.

Kaum war sie fort, so schlenderte eben das Fräulein mit ihrer Mama dicht hinter ihm vorüber, dem Rebberg zu, begleitet von Anna. Obschon er ihr zufällig den Rücken kehrte, hatte ihn doch der unbestimmte Schein ihrer geschmeidigen Gestalt und ihres leichten Schrittes flüchtig getroffen, zugleich mit dem farbigen Eindruck ihrer Kleidung, hell und fröhlich, aber weich und gedämpft wie ein Moll-Akkord.

Das übrige ergänzte seine aufgeregte Erinnerung. Gewaltsam beharrte er auf dem Fleck und hütete sich, daß er sich nicht rührte, damit er sie nicht sehe. Erst nachdem er vollkommen sicher war, daß sie sich weit entfernt hatte, atmete er auf, mit dem erhebenden Gefühl, auf etwas verzichtet zu haben, worauf er sich keinen Anspruch erlauben sollte und durfte.

Endlich, als er Anna einsam zurückkommen sah, nahte er erleichtert seinen Waldishofern.

 

Sie empfingen ihn mit ehrerbietiger Vertraulichkeit, zwar sich erhebend, aber zugleich die Hand vorstreckend und das Glas zum Willkomm darbietend. Er tat manchem Bescheid und drückte jedem die Hand, sorgsam darauf bedacht, daß er auch nicht einen einzigen übergehe. Als aber die Reihe an den Wachtmeister gelangte, war es mit seiner Freiheit vorbei. Denn der nahm ihn mit seiner gewalttätigen Herzlichkeit für sich allein in Beschlag und gab ihn nicht mehr los, umarmte ihn, preßte ihn an die Brust, paukte ihn auf den Rücken und fiel ihn unersättlich von neuem an, während er ihm seinen pechschwarzen Zimmermannsbart, der ihm von den Wangen bis ans Zwerchfell reichte, um das Gesicht rieb. «Conrad», gurgelte er unaufhörlich, indem er die wilden Augäpfel verdrehte wie ein schmachtender Grislybär.

Leutolf, der Feuerleutnant, erlöste ihn endlich, nicht ohne Mühe, von dem Freundschaftswüterich. «Was für ein geheimes Liebchen hattest du denn eigentlich heute nachmittag im Zuge sitzen, daß du Hören und Sehen vergaßest? Wir riefen uns im Vorbeifahren beinahe die Lunge nach dir aus, allein du hattest Augen und Aufmerksamkeit offenbar an einen wichtigeren Gegenstand zu vergeben.»

«Das geheime Liebchen hat weiße Haare und ist zweiundsiebzigjährig», belehrte Conrad, und ein gutes Lächeln schlich ihm über Herz und Mund, als er der Hexenbase gedachte.

Leutolf hatte sich inzwischen in seinen Arm gehängt und drehte ihn jetzt mit sich in halber Wendung um: «Was für eine unmenschliche Masse Volkes wieder einmal bei euch im ‹Pfauen› ist!» rief er bewundernd, mit Augenzwinkern.

«Und was für ein wundervoller Abend», ergänzte Conrad ablenkend.

«Glückspilz!» fuhr Leutolf fort, Conrads Arm schüttelnd, «wenn's bei dir einmal ans Erben geht!» Dabei pfiff er mit den Lippen.

«Pfui!» wehrte Conrad, aufrichtig beleidigt.

«Erben ist keine Sünde», versetzte der Feuerleutnant unbeirrt. «Und dem Anschein nach spinnt er keinen langen Faden mehr, dein Alter. – Hast du denn aber auch für ein appetitliches Frauchen gesorgt?» Und da eben Cathri vorübereilte, mit Flaschen und Gläsern beladen, stupfte er den Freund mit der Schulter: «Ist das etwa diejenige, welche?» munkelte er.

Conrad überlegte; die Frage schien ihm ungehörig, die Antwort schwierig. «Ich bin selber noch unschlüssig», erklärte er endlich mißmutig.

«Verdammt schön ist sie, unverantwortlich schön, unmöglich schön sogar», meinte der Waldishofer. «Aber hat sie denn auch Bildung?»

«Ich habe ja ebenfalls keine.»

«Du und keine Bildung? Artillerieoffizier und ehemaliger Industrieschüler und immer mit den ersten Preisen! Faxen! – Also ist es diejenige, welche, da du dich bereits über solch einen Hauptmangel hinwegsetzest. – Ich hatte erst einen Augenblick eine andere im Verdacht, eine, die besser zu dir paßte und die sich auffallend nach dir umsah. Aber, da du ihr so beharrlich den Rücken kehrtest, fällt meine Vermutung dahin.» Dann nach dem wüsten Gejohl im Tanzsaal horchend: «Was hast du denn da für einen absonderlichen Harmonieverein aufgelesen? Soll das etwa den Furienchor aus dem ‹Orpheus› vorstellen? Die singen ja wie kastrierte Lämmergeier.»

«Oder wie mondsüchtige Seehunde», meinte der Wachtmeister. Und indem jeder, des Beifalls zum voraus sicher, einen neuen Vergleich aus dem zoologischen Garten zum besten gab, lauschten sie belustigt dem schauerlichen Geheul.

«Den heisern Fistelstimmen nach zu urteilen, sollte man fast glauben, es wären die Wagginger», riet eine Stimme.

Und da Conrad nickte, erhob sich die Frage: «Die Oberwagginger oder die Niederwagginger?»

«Beide», gestand Conrad verstimmt.

Der Feuerleutnant schaute ihn bedenklich an: «Die Ober- und Niederwagginger zusammen? Acht Tage nach den Wahlen? Das könnte schief ablaufen.»

«Wohl möglich», bestätigte Conrad.

Der Wachtmeister aber klemmte ihm den Arm: «Nun, wenn's etwa dazu kommen sollte, gesetzt den Fall», erläuterte er, «so weißt du, daß du auf uns zählen kannst.» Und um dem Versprechen Nachdruck zu erteilen, ließ er einige Püffe in die Nieren folgen.

«Selbstverständlich!» bekräftigte die Schar.


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