Carl Spitteler
Conrad der Leutnant
Carl Spitteler

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In diesem Augenblick klapperte feines Hufgetrampel, und als er sich nach dem Geräusch umsah, gewahrte er seine Offiziere, den Obersten Allegri an der Spitze, wie sie zuhauf das Kirschensträßchen hinabzogen, zu drei und drei hintereinander im tänzelnden Trabschritt, leicht und lebhaft. Mit Kennerblicken schaute er ihnen wohlgefällig nach. Die Pferde bogen, meisterhaft hinter den Zügeln versammelt, den Hals und das Kreuz in anmutigen Wellenlinien, die Reiter saßen knapp und stramm. Ein Baumpaar nach dem andern legten sie zurück im pochenden Takt der Hufe, welche die trockene Bahn mit melodischem Holzton hämmerten, während ab und zu ein Säbel, vom flachen Abendsonnenstrahl getroffen, jäh aufleuchtend wie ein Blendspiegel Flammenbündel entsandte.

«Eine treue Seele, Papa Allegri», dachte Conrad. «Harmlos wie ein Kind.» War das ein gehörnter Einfall, ihn und den Vater zusammenzuflechten, ohne die entfernteste Ahnung, wie schlimm es zwischen ihnen stand! Welch eine unmögliche Lage! Er bemühte sich, dieselbe nachträglich possierlich zu finden, doch tief innen bewegte ihn Rührung. Eine geraume Weile friedlich neben dem Vater gestanden zu haben, ohne etwas Böses von ihm zu erleiden, sich gegenseitig unterstützt, einander entschuldigt, vor den Fremden gedeckt zu haben – ein unerhörtes Vorkommnis. Gewiß, es war ja bloß im Zwange der Not geschehen, nach außen hin, der Leute wegen. Gleichviel, es ergriff ihn dennoch. Beinahe hätte er seinen Vater darum liebhaben können. Und wie wenig, wie wenig brauchte es doch, damit er es wirklich vermochte! Ein halbwegs freundliches Benehmen, ein Ton, der ihn nicht durch seine Roheit reizte, eine Anrede, die ihn nicht beleidigte. Mehr nicht. Und sollte denn das so unendlich schwierig sein?

Er seufzte tief, und sein Gesicht verfinsterte sich. Immerhin sah er nun wieder einen blassen, winzigen Hoffnungsschimmer. Es dünkte ihn hinfort nicht mehr so gänzlich unmöglich, daß sich alles noch leidlich fügen könnte, auch ohne die entsetzliche Mithilfe des Todes, einfach durch die Macht der Vernunft, mit Zusatz von einem magern, mikroskopischen Rest von Güte.

«Was ist Euch nur über die Leber gekrochen, Herr Reber?» erkundigte sich Cathri, von seinem rätselhaften Ernst beunruhigt. «Ihr seid ja auf einmal ganz traurig.»

Conrad schüttelte den Kopf. «Ich bin nicht traurig», entgegnete er schwermütig, «nur glücklich.»

«He, was ist mit dir, Conrad, ich glaube fast gar, du dichtest?» spottete der Feuerleutnant. Da schämte er sich und gesellte sich zu seinen Kameraden.

Bei der Wendung aber sah er unten im Tal die Offiziere ehrerbietig vor jemand aufgestellt in respektvoller Entfernung, die Hand an der Mütze, wie zur Manöverkritik. Und in dem jemand erkannte er sein Fräulein, seine Tänzerin, mit ihrer Mama.

Der Anschein traf ihn wie ein Wespenstachel in die Augen, so daß er sich geschwind abkehrte, den Schmerz verbeißend.

 

Das weinselige Geheul im Saal hatte sich mittlerweile von den Pausen in die Tänze hinübergeschleppt, die Musik lähmend und bald auch stillestellend, nicht durch die Macht der Stimmen, sondern durch die Zähigkeit des Mißklangs, die allmählich jeden Rhythmus entmutigte. Statt der wackelnden Paare taumelten jetzt krakeelende Häuflein über die Bildfläche, welche, um ihre träge flackernde Kühnheit anzumachen, die Fäuste durch die Fenster wiesen oder das Publikum hänselten oder mit heiserem «Haraus» die Welt in die Schranken forderten. Nachdem der Umzug sich eine Weile vergnügt hatte, beliebte eine Abwechslung: die lebenden Bilder verschwanden, dafür kamen aus dem unsichtbaren Innern Speisebrocken geflogen: Käserinden, Schinkenfett, Wurstzipfel, zuerst spärlich, gleichsam zur Andeutung, später aber als üppiger Mannaregen, endlich mitsamt den Tellern, welche unten klirrend zerschellten.

Mißbilligende Rufe, klägliche wie entrüstete, protestierten gegen solchen schmutzigen Proviant, man flüchtete insgemein aus dem Bereich der klebrigen Geschosse; worauf der Alte, zornig die Hände verwerfend, nach dem Saal emporeiferte, jedoch ohne Frucht und Nutzen.

Unvermutet stockte das Gejohle. Über einem babylonischen Wirrwarr schnatternder Stimmen ward ein Redegefecht laut, gemischt mit bellenden Flüchen, dann folgte ein Getöse stampfender Tritte. Durch eines der Fenster gewahrte man einen schwankenden Klumpen von Körpern, in einer Dunstwolke von Atem und Schweiß. Faustbewehrte Arme fuchtelten in der Luft, wurden vom Ziel abgedrängt, strebten hartnäckig zurück, bis sie endlich den begehrten Feindeskopf erreichten, welchen sie dann überzeugt droschen, übrigens, dem Anscheine nach, ohne sonderliche Wirkung. Schier verwunderlich aber dünkte es Conrad, an welchem Merkmal der einzelne in dem Gewimmel einen liberalen Schädel von einem konservativen auseinanderzulesen vermochte. – Der Klumpen kam und ging und kehrte wieder, verweilte, häufte und türmte sich. Gleichzeitig klaffte die Tür, den schwarzen Schlund öffnend, aus welchem kreischende Jungfern flüchteten, mit den Händen in der Luft kletternd und Helfio zeternd. Doch kaum draußen, zwängten sie sich wieder hinein, mit ihrem Gellen den Lärm vermehrend.

«Da hast du die Bescherung!» höhnte Conrad dem Vater zu.

«Bemühe nur du dich keineswegs», fauchte dieser, außer sich vor Ärger, daß die Wahrheit sich unterfing, ihm unrecht zu geben. «Laß du dich nicht im mindesten bei deiner Jucunde stören.»

Da steckte Conrad wohlgemut die Hände in die Hosen, zum Zeichen seiner Teilnahmlosigkeit.

«Hier täte eine Feuerspritze gut», spaßte der Wachtmeister. «Mit dem vollen Strahl mitten hinein», und lachte schallend ob dem ergötzlichen Gedankenbild.

«Ich danke für die Überschwemmung», entgegnete Conrad. «Feuerwehr auf dem Damm, im Balken der Schwamm.»

«Dein Alter ist der Lage nicht gewachsen», bemerkte Leutolf, «er verliert ja vollständig den Kopf. Mag er noch so hirnwütig von einem Fenster zum andern tanzen, das kümmert die keinen Flohstich.»

Conrad nickte. «Mir kann's nur recht sein, wenn sein maßloser Allmachtsdünkel einmal ein tüchtiges Loch bekommt.»

«Da wird halt nichts anderes übrigbleiben, als du mußt auf den Posten.»

«Erst muß er mich darum bitten: diese Genugtuung ist er mir schuldig.»

«Wie du meinst. Nur daß du's weißt, wir sind bei der Hand. Also wenn's Zeit ist, so gib uns einen Merks. – Den Helm ab! den Rock aus! und die Hemdärmel herauf!» befahl er vertraulich seiner Mannschaft. Bei diesem Anblick eilten von da und dort kampfesmutige Burschen herbei, die Feuerwehr zu verstärken, junge Bauern aus dem Dorf, auch von den Gästen dieser und jener, so daß sich Conrad an der Spitze eines erlesenen Gewalthaufens sah, der sich zwar einstweilen enthielt, aber die Ungeduld einzugreifen nur mühsam zügelte.

Links und rechts hatten die Neugierigsten sich auf die Tische gepflanzt, um über das Mäuerlein hinweg besser zu sehen. Sie genossen das Schauspiel schweigend, außer Cathri, welche gleich einem Kampfrichter ihr Urteil öffentlich kundgab. «Gott du meine Güte», klagte sie verächtlich, «was für eine gefehlte Bauersame! Weder Stimme noch Mark noch Muskel! Und auch nicht ein einziger rundum im Dorf, der sich erbarmt und herzhaft dazwischenfährt. Gott du meine Liebe! wenn unser Hans da wäre! Wie der den Saal ausfegte!» Dabei lachte sie hellauf vor Vergnügen.

«Maul zu!» schnauzte Conrad. Und nach einer Pause fügte er stirnrunzelnd, mit Nachdruck, bei: «Es gibt hierzulande Leute, die taugen so viel wie Euer Hans und vielleicht mehr!»

Auch auf der Terrasse verfolgte das Volk gespannt den Verlauf des Streites, indessen wegen der bedrohlicheren Nähe vorsichtig nach beiden Seiten sich zurückziehend, so daß die Mitte leer blieb. Was sie hauptsächlich auf den gefährlichen Platz bannte, war die geheime Hoffnung auf eine kleine Dosis Schadenfreude, nicht zu wenig, aber auch nicht zu viel. Allein wie nun der wüste Lärm ohne sichtbare Entscheidung gleichmäßig fortlief, meldete sich bald der Überdruß und mit dem Überdruß die Entrüstung: «Zahlen!» heischte ein Familienvater, umringt von nasenrümpfenden Frauenzimmern. Und wie ein Lauffeuer ertönte es nun von allen Seiten: «Zahlen, zahlen!»

«Sitzen bleiben! Wozu habt ihr sonst das Gesäß?» donnerte der Alte, außer sich über den drohenden Verlust, und während die Kellnerinnen wie von Sinnen umherrannten, um die Ausreißenden zum Bleiben zu beschwören, machte er Miene, das Treppchen zum Tanzsaal zu erklimmen, woran er jedoch von Anna und dem Doktor gehindert wurde, teils durch Zureden, teils mit sanfter Gewalt.

In der Tat hatte die Mehrzahl der Gäste sich erweichen lassen; sie standen zwar, den Hut auf dem Kopf, zum endgültigen Abzug bereit, beglichen auch vorläufig die Zeche, räumten jedoch nicht die Terrasse. Nur wenn der Tanzboden unheimlicher knackte, wenn die wankenden Wände sich gar zu unnatürlich bogen, krebsten sie hurtig ein paar Ellen weiter.

 

Plötzlich entleerte sich der Tanzsaal des gesamten Weibervolkes, welches atemlos vor Angst von dannen hastete, als folgte ihnen der Wolf auf den Fersen. Unmittelbar hinter ihnen brach eine ungeheuere Sturzwelle von Kämpfern mit krachendem Gepolter das Treppchen hinunter, sich überwälzend und augenblicklich in stürmischem Schwalle die weite Terrasse überflutend. Hiervon zerstob alles Volk in jäher Flucht, die Nächsten stumm vor Schreck, die Entfernteren mit kurzen Ausrufen der Bedrängnis; die meisten in der Richtung nach dem Dorfe, der Rest über das Mäuerlein. Die Vögel aber allzumal in den Bäumen, Finken und Meisen, den Lärm mißdeutend, sangen einen jauchzenden Wettstreit, daß ihnen fast die Kehle sprang.

Eins, zwei, drei war alles weithin zersprengt wie eine Schachtel Nähnadeln, so daß, als die Besinnung wiederkehrte, jeder sich an einer andern Stelle befand, als er vermutete. Man las sich zusammen, orientierte sich, man entdeckte sich neue Nachbarn. Hierauf erfolgte eine Sichtung: der zimperliche Teil der Gäste, darunter die Mehrzahl des Stadtvolkes und fast sämtliche Frauenzimmer, zogen ab, friedlicheren Wohnstätten zu, die übrigen, die standhielten, nahmen hinfort gemütlichen Anteil, als ob sie zur Sippe des «Pfauen» gehörten.

Bloß die unten in der Wiese hatten nicht gewankt. Doch jetzt schnellte Conrad mit weit geöffneten Armen vor. Nämlich Anna, vom Trieb der Selbstbewahrung überrascht, hatte ihren Vater kopflos preisgegeben und kam nun von der Mauer herab auf einen Tisch gesprungen, auf welchem sie flink wie ein Eichhörnchen bis zum Ende huschte, mit zusammengerafften Kleidern, übrigens ohne ein Gerät umzustoßen, dank ihren kleinen Füßen und feinen Augen. An der jenseitigen Kante des Tisches von des Bruders Armen aufgefangen, sah sie sich um und lachte nervös. Von oben schaute ihr der Doktor besorgt nach, ob sie nicht Schaden genommen.

Der Alte, nunmehr der Hindernisse ledig, gedachte seine Freiheit zu nützen, um mit seiner oft bewährten Leibeskraft sein Ansehen und seine Herrschaft herzustellen. Doch kaum hatte er sich in das Getümmel gestürzt, so rollte er schon, vom zufälligen Widerprall geworfen, schwerfällig auf den Boden, richtete sich unbeholfen wieder auf, verschwand abermals im Gewühl und kollerte zum zweiten Mal dahin.

«Jesus, der Vater! Helft dem Vater!» kreischte Anna, und schon hatte sie die Mauer übersetzt mit Schwung und Sprung, man sah nicht, wie.

«Meine Flinte!» hörte man den Alten in ohnmächtiger Wut keuchen. «Portier, die Jagdflinte, daß ich sie zusammenknalle wie Kramsvögel.»

Jetzt musterte Conrad seine Gesellen: «Gilt's?» fragte er, und seine Augen flammten.

«Los!» brauste die Antwort, und mutig stürmte die junge Schar um die Mauer, in Reih und Rotte wie beim Turnlauf.

Conrad, den Seinigen voraus, warf ihnen im Lauf Ermahnungen und Verhaltungsmaßregeln zu: «Immer mehrere zugleich einen einzelnen besonders aufs Korn nehmen, abtrennen und aus dem Haufen fördern, nicht wildlings jeder auf eigene Faust. Wir kommen ja nicht als Feinde, sondern als überlegene Friedensstifter, und dazu brauchen wir Ordnung und Besonnenheit. Was am Boden liegt, nicht anrühren! und vor allem keinen Streich, der nicht unbedingt nötig ist.»

Wie sie am Holzschopfe vorbeikamen, griff der Wachtmeister heimlich nach einem Sparren. Doch Cathri überholte ihn in fieberhafter Hast: «Nichts da», wehrte sie, sich an seinen Arm hängend, mit der Autorität der Vernunft: «Holz im Stolz, der Teufel wollt's.»

Conrad wandte sich um: «Keine Knüttel», verbot er strafend, «bist du verrückt?»

«Keine Knüttel», scholl die Losung.

Dann, am Ziel angelangt: «Erst heim mit dem Vater», mahnte Conrad. «Fort, aus dem Krieg mit ihm, ins Haus, die Türe verrammelt.»

Und während die Hauptmacht ungesäumt in den Streit schwenkte, jagte er mit der Vorhut dem Alten entgegen.

Ihm warf sich Anna in den Weg, mit schützenden Armen, wie Schultheiß Wengi, denn sie mißdeutete den hitzigen Ansturm.

«Ei, ei!» machte Conrad, «solche Satansabsichten leihst du mir?»

Da gab sie demütig Raum, beschämt und zerknirscht.

Conrad bemächtigte sich indessen des Alten, schonend, aber fest: «Komm heim, Vater», mahnte er begütigend, «solcherlei Hantierung taugt nichts mehr für dich», und suchte ihn wegzuschieben. Allein der Alte, wie er die gewaltsame Hand spürte, sträubte sich und widerstemmte, als ob er zur Hinrichtung geschleppt würde.

«Also geht man mit mir um!» stöhnte er. «Könnt ihr denn nicht warten, bis ich vollends auf dem Schragen liege? Wollt ihr mich bei lebendigem Leibe begraben?»

«Auf die Schultern!» verfügte Conrad. Da hoben sie ihn auf und trugen ihn geschwind in den Hausgang. «Anna, hüt ihn, daß er keinen Unfug stiftet», rief er, «schaff die Flinte weg; laß ihn nicht durchs Fenster.» Hiermit schupfte er die Schwester nach, schmetterte die Türe zu und schickte sich an, sie zu verriegeln. Allein die Türe schloß von innen. Da pflanzte er zwei Mann als Wachen davor, zu denen der Doktor eilte.

«Ich könnte nötig werden», murmelte er kopfschüttelnd. «Außen oder innen; niemand weiß, wo und wem.»


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