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23.

Die Prophezeihung des guten Arztes, daß der Vater, wenn die Krisis günstig ausfiele, als ein Anderer erwachen würde, war in einer merkwürdigen Weise eingetroffen. Wer ihn in der Nacht des Brandes gesehen hatte, hoch aufgerichtet dastehend, oder mit großen Schritten sich durch die Menge bewegend und mit lauter kräftiger Stimme Befehle ertheilend, würde ihn jetzt kaum wieder erkannt haben. Sein graues Haar war in den wenigen Wochen schneeweiß geworden; seine Züge hatten viel von dem herben und strengen Ausdruck verloren; selbst seine Stimme hatte einen weicheren Klang bekommen, und seine Gestalt, wie er jetzt, in den langen, pelzgefütterten Hausrock gehüllt, in dem Lehnstuhle an dem Kamine saß, sah bei weitem nicht so stattlich wie sonst, ja manchmal recht verfallen aus. Dagegen war sein Gemüth nicht mehr wie ehemals von leidenschaftlichen Wogen zerwühlt; die Zornesader, die sonst bei der kleinsten Veranlassung schwoll, war jetzt wie weggelöscht von der weißen, hohen Stirn; die ganze Gutheit und Liebenswürdigkeit seiner Natur trat in einer Weise hervor, die Alle, welche ihm, wie der brave Doktor, früher weniger nahe gestanden hatten, mit Bewunderung erfüllte, und Rose oft bis zu Thränen rührte.

Seine geistige Kraft hatte sich schnell wieder eingefunden; ja diese Flamme schien jetzt mit einem helleren und reineren Lichte zu brennen. Merkwürdigerweise hatte er sehr wenig zu fragen, denn er hatte durch alle Träume und Delirien seiner Krankheit die Erinnerung der Wirklichkeit mit der Zähigkeit seiner Natur festgehalten, und die Antworten seiner Umgebung auf eine zum Theil in wunderlichster Form vorgebrachten Fragen ganz gut zu combinieren gewußt. Das einzige wirklich Neue war ihm der Sturz des Ministeriums und die Abwendung der Gefahr, in der er in der letzten Zeit geschwebt hatte. Indessen machte auch dies einen geringeren Eindruck auf ihn, als Rose vermuthet hatte. »Ich war auf das Schlimmste gefaßt, weil ich das Schlimmste wollte; und was das Ministerium betrifft, so muß wohl die beste Sache unterliegen, wenn sie so schlecht verfochten wird; geschweige denn eine, die, wie ich jetzt wohl ehe, keineswegs ganz lauter ist.«

Eines Tages brachten die Blätter die Nachricht, daß Se. Hochwürden der Pfarrer von Lengsfeld, der gefeierte Redner auf der letzten allgemeinen Synode, als Consistorialrath in den großen Nachbarstaat gerufen sei, und demnächst in seine neuen Verhältnisse eintreten werde. Rose, welche dem Vater jetzt jeden Tag die Zeitung vorlas, hatte diese Notiz mit etwas unsicherer Stimme vorgetragen, aber der Vater, als wüßte er, was in ihren Gedanken vorging, lächelte und sagte: »Ich wünschte, Rose, das wäre zwei Jahre früher geschehen; ich würde dann freilich manche Parthie Piquet weniger gespielt, aber mir auch die Demüthigung erspart haben, mich von einem Charlatan, und noch dazu von einem so plumpen, so lange nasführen zu lassen. Er hat mir geschmeichelt und immer nur geschmeichelt, und ich thörichter alter Mann habe das Alles für baare Münze genommen. Hernach hat er das Blatt umgewandt, und mit mir gesprochen, wie mit einem hülflosen Bettler. Er hat sich auch um Dich keinen Dank verdient, Röschen.«

Rose hielt nicht es für angemessen, das Thema weiter zu verfolgen, oder gar den Vater mit dem Inhalte der letzten Zusammenkunft, welche sie mit dem Pastor gehabt hatte, bekannt zu machen. Während sie noch immer in einiger Verlegenheit in der Zeitung nach einem weniger verfänglichen Thema blätterte, horchte der Vater schweigend dem leisen Schlage der alten Uhr. Ein mildes Lächeln zog über sein Gesicht und mit sanfter leiser Stimme sagte er:

»Die Uhr ist der Repräsentant der Zeit, und die Zeit ist unser Aller Lehrerin. Ich habe aus dem Tic-tac Tic-tac der Uhr da mehr gelernt, als aus allen Büchern, die ich in meinem Leben gelesen habe; – ich wollte freilich, ich hätte mehr gelesen! – ja aus meinem Leben selbst. Es hatte mich nicht Weisheit und Geduld gelehrt, und daß Alles seine Zeit hat.«

Er stützte das Haupt auf die Hand und fuhr fort:

»Wir würden glücklicher sein, Rose, wenn wir das nie vergessen wollten. Es ist ein anderer Ausdruck für das Gesetz der Vergänglichkeit, dem Alles und wir Alle unterworfen sind. Reiche werden zertrümmert, Völker schwinden dahin, die Geschlechter der Menschen drängen sich, wie die Wellen eines Baches. Alles vergeht. Und doch, Rose, giebt es einen Halt in dieser Flucht der Zeit und der Erscheinungen; einen Anker, der nicht bricht, ein Licht, das nicht erlischt, – das ist die Liebe, Rose. Ich habe versucht, mein Herz von Dir abzuwenden – es ist mir nicht gelungen; ich habe sterben wollen, und bin am Leben geblieben. Leben und Dich lieben, mein gutes, edles Kind – ich sehe jetzt, daß es für mich Eines und dasselbe ist.«

Rose kniete neben dem Vater hin und legte ihren Kopf an seine Brust. Er streichelte zärtlich das weiche, lockige Haar und sagte: »Ja, ja, mein Röschen, ich bin ein alter Mann, der seine Verluste nicht mehr ersetzen kann; ich muß mit dem Wenigen, das mir bleibt, haushälterisch sein. Mich freut jetzt nur am Menschen das, was sie zusammenhält und immer wieder zusammentreibt: die Menschenliebe, die herzliche, opferfreudige Theilnahme. Als an jenem Abend die Nachbarn auf meinen Hof strömten, und, wie eine große Schaar von Brüdern, Einer dem Andern und Alle mir halfen; als ich sah, daß arme Tagelöhner, die nichts auf der weiten Gotteswelt zu verlieren hatten, und am anderen Morgen in aller Frühe wieder in die harte, undankbare Frohnde mußten, die lange rauhe Herbstnacht hindurch die schwieligen Hände regten, als arbeiteten sie um ihr Leben – da habe ich mir geschworen, von nun abzuthun allen Stolz und allen Hochmuth und in den Menschen nur meine Brüder zu sehen. Nein, Röschen, nimm sie nur wieder fort, die Zeitungen! Mögen sie es unter sich ausmachen; ich habe lange genug: Kreuziget, kreuziget! Hosianah, hosianah! geschrieen, um in mich zu gehen und ruhig den bunten, lärmenden Schwarm an mir vorüberziehen zu lassen.«

Von dem Grafen hatte er zu Rose in den ersten Tagen nicht gesprochen und Rose hatte schon viel über die schicklichste Weise nachgesonnen, wie sie den Vater mit dem Umstand bekannt machen könne, daß der Graf schon seit Wochen in ihrem Hause sei, und bei dem kalten, stürmisch-regnerischen Wetter, das selbst die kleine Fahrt nach Lengsfeld unmöglich machte, auch noch Wochenlang werde bleiben müssen. Wie freudig überrascht war sie deshalb, als jetzt der Vater seinen Mund zu ihrem Ohr neigend, sagte: »Wir pflegten uns sonst, was uns beschäftigte, mitzutheilen. Warum erzählst Du mir nicht, wie Du mit dem Kinde fortkommt und wie es dem Grafen geht?«

Rose stotterte erröthend eine verwirrte Antwort. Der Vater küßte sie auf die Stirn: »Geh, mein Röschen, ich lasse ihm gute Besserung wünschen und sag' ihm in meinem Namen, daß ich es mir zur Ehre schätze, den Mann, dessen aufopferndem Muthe ich die Rettung meines Hauses verdanke, in meinem Hause zum Gast zu haben.«

Es war das erste Mal seit acht Tagen, daß Rose wieder das Zimmer des Grafen betrat. Sie hatte, so lange es nothwendig war, ihn gepflegt und über ihn gewacht, wie über einen Nächsten, der der Hülfe bedurfte, und wie über einen Geliebten, dessen Leben ihr theurer war, als das eigene. Sie würde, wenn sie frei den Gefühlen ihres Herzens hätte folgen können, auch selbst, als die erste und schlimmste Gefahr vorüber war, diese Pflege fortgesetzt haben; aber die Rücksicht auf den Vater, dessen Zustand die größte Schonung erforderte, machte es unmöglich. Mußte doch Rose anfänglich noch erwarten, daß der Vater die Hand, die auch den Grafen pflegte, mit Abscheu von sich stoßen würde.

Der Graf versuchte, als Rose eintrat, sich aus dem Lehnstuhl, in welchem er gesessen hatte, zu erheben; aber seine Schwäche war so groß, daß er alsbald wieder zurücksank. Rose, trat eilend auf ihn zu; er ergriff mit der gesunden Hand (den rechten Arm trug er in der Binde) ihre Hand und zog sie an seine Lippen und drückte sie auf seine Augen, aus denen Thränen quollen.

»Verzeihen Sie diese Schwäche, Rose;« sagte er, »aber ich habe mich so unendlich nach Ihnen gesehnt. So oft ich Ihren leichten Schritt hörte oder Ihre liebe sanfte Stimme, dachte ich: sie kommt, kommt zu dir; aber immer war es eine Täuschung. Ich glaubte: ich sollte Ihnen nie dafür danken, daß Sie, wie mein guter Engel, über mich gewacht haben, als ich hier hülflos lag, wie ein Kind. Ich habe es wohl gewußt, daß Sie bei mir waren; durch alle meine Schmerzen und meine Raserei habe ich stets Ihre holde Nähe gespürt. Warum haben Sie Ihren Schützling verstoßen? Aber nein, Rose, ich will Ihnen keine Vorwürfe machen und aufs Neue den Undankbaren, Eigensinnigen, Rechthaberischen spielen. Habe ich Ihnen doch so viel, so viel zu danken!«

»Wie ich Ihnen;« sagte Rose.

»Nicht wie Sie mir«, erwiderte der Graf, »ich habe jetzt Zeit genug zum Nachdenken gehabt, und ich weiß kaum, wie es zugeht, aber es erscheint mir jetzt Manches in einem ganz anderem Lichte. Nur Sie nicht, Sie Einzige, Hohe, Unvergleichliche, und selbst Sie. Ich liebte Sie von der Stunde, wo meine Augen Sie zuerst erblickten, jetzt bete ich Sie an. Sie haben mich die rechte Liebe gelehrt, die wahre Liebe, die langmüthig und freundlich ist, die sich nicht ungeberdig stellt, die sich nicht erbittern läßt und nicht blos das ihre sucht. Hätte ich, wenn meine Liebe diese wahre Liebe gewesen wäre, an jenem letzten Abend im halben Zorne von Ihnen scheiden können? Sie, die Sie die Liebe selber sind, in meinem Herzen engherzig, gefühllos nennen können? Ich dachte mir was Großes damit, daß ich that, was ich meine Pflicht nannte. Als ob das nicht Jeder müßte; als ob es auch nur ein Verdienst wäre, seine Pflicht zu thun, wenn man dabei die Pflichten, welche die andern haben, nicht gelten läßt. Das habe ich Ihnen gegenüber nicht gethan. Ich habe es nicht begriffen, daß Sie mich lieben könnten, und doch in diesem unseligen Streit bei Ihrem alten Vater stehen müßten; nicht begriffen, daß der Liebereichthum eines Herzens, wie das Ihre, mit einem andern Maßstab gemessen sein will, oder überhaupt nicht gemessen werden kann, weil er unermeßlich ist. Ich war eifersüchtig auf die Liebe, mit der Sie an Ihrem Vater hingen, wie ich auf das Mitleid eifersüchtig gewesen sein würde, das Sie sich eines verlassenen Proletarierkindes erbarmen heißt. Ich war ein Thor, ich bin es nicht mehr; ich wünsche nur, Ihnen beweisen zu können, daß ich es nicht mehr bin. Ich hatte keine Hoffnung: das Haus Ihres Vaters jemals wieder zu betreten. Nun ist es doch geschehen, gegen seinen, gegen meinen Willen. Wenn mein Verstand sie begreifen könnte, so würde ich sagen: eine höhere Macht hat uns wieder zusammengeführt. Wie dem aber auch sei, Rose, eine höhere Macht giebt es, an die ich glaube von ganzer Seele, wenn meine Seele auch nicht groß genug ist, sie zu fassen, das ist die Liebe, die Liebe, die wie eine unendliche Kraft von Ihnen ausstrahlt, die Liebe, die ich in Ihnen in schönster Wahrheit leibhaftig vor mir sehe.«

Der Graf hatte diese letzten Worte mit einer von Rührung zitternden Stimme gesprochen. Er schwieg einen Augenblick und sagte dann lächelnd:

»Ich habe in dieser Zeit oft an eine Episode meines Lebens denken müssen, von der ich selten spreche, weil diese Erinnerung zu den Kleinodien meines Herzens gehört, die man nur den liebsten Freunden zeigen darf. Aus Gewohnheit habe ich selbst gegen Sie, wo ich es durfte, die kleine Geschichte nicht erwähnt. – Ich hatte in Algerien, bei Gelegenheit einer Jagdpartie, einen edlen Scheikh, ohne es zu wollen und ohne es zu wissen, auf das tödtlichste beleidigt. Der Tod war mir gewiß, wenn ich in seine Hände fiel. Ich fiel in seine Hände, – ein fieberkranker Mann, der, auf einem Zuge durch die Wüste, schon einen halben Tag halb besinnungslos auf dem Pferde gehangen und am Abend von den Begleitern, die sich nicht zu rathen und zu helfen wußten, vor dem Zelte eines unbekannten Kabylen abgeladen wurde. Vier Wochen lang ras'te ich im Fieber, gepflegt, gewartet mit aufopfernder Sorgfalt in der Höhle des Löwen, der mich zermalmt haben würde, wäre ich ihm unter freiem Himmel begegnet. Erst als ich genesen war, entdeckte er sich mir und entließ mich nicht, ohne mir eines seiner besten Pferde – dasselbe, das Sie so oft bewundert haben, Rose, – zum Geschenk zu machen. – Es ist ein schönes und wahres Wort Lessing's: ›daß alle Länder gute Menschen tragen‹; und, Rose, ich meine, daß dies nicht blos für alle Länder, sondern auch für alle Stände, ja für alle Parteien, religiöse und politische, gilt. Der Kampf ist nicht zu vermeiden; aber man sollte einem Gegner, den man ehrlich weiß, vor dem Kampfe und jedenfalls nach dem Kampfe die Hand drücken. Ich möchte Ihrem Vater die Hand drücken, Rose, bevor ich sein Haus verlasse.«

»Das sollen Sie«, sagte Rose und ein hoffnungsfreudiges Lächeln umspielte ihren reizenden Mund; »aber, ehe Sie aus unserm Hause gehen, müssen Sie gesund werden, und damit Sie gesund werden, müssen Sie allein bleiben. Der Doctor sagt: Einsamkeit und Langeweile seien die besten Krankenwärterinnen.«

Auf der Schwelle blieb sie noch einmal stehen und nickte ihm zu. Als sie das Zimmer verlassen, war es dem Grafen, als habe sich plötzlich der Himmel verfinstert.



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