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15.

Ich bitte um Entschuldigung, daß ich so spät vorspreche,« sagte der Graf, »aber ich war, wie Sie wissen, einige Tage verreist und werde morgen in aller Frühe auf dem Wege nach der Residenz sein; da wollte ich mich denn doch wenigstens in der Zwischenzeit nach Ihrem Befinden erkundigen.«

Der Graf versuchte, das Alles in einem leichten Ton zu sagen, ohne daß ihm dies recht gelungen wäre. Die Anwesenheit des Pastors, der sich bei seiner Ankunft so schnell entfernte, hatten sein Gemüth mit der Sorge erfüllt, Rose und der Vater möchten schon erfahren haben, was er ihnen mitzutheilen gekommen war, – nicht leichten Herzens gekommen war; und das Benehmen Rose's und des alten Herrn schien diesen Verdacht zu bestätigen. Rose hatte, ohne ein Wort zu sprechen, nur eben ihre Hand in die eine gelegt; Herr von Weißenbach hatte seine allerstattlichste Verbeugung gemacht und ihn mit der allerhöflichsten Handbewegung zum Niedersitzen eingeladen. Niemand erkundigte sich, wo er gewesen war. Man sprach von dem Wetter und daß der Herbst nun wirklich da sei; dann sagte Herr von Weißenbach:

»Ich habe noch für mich und meine Tochter für das prächtige Geschenk zu danken, das wohlerhalten in unsere Hände gekommen ist. Ich sage: in unsere Hände, denn, aufrichtig, Herr Graf, ich bin gewiß nicht minder von demselben entzückt wie meine Tochter, und da hat sie es denn, als ein gutes Kind, die sie ist, mir, so zu sagen, abgetreten.«

»Wenn meine Absicht, Ihnen Beiden eine kleine Freude zu machen, erreicht ist, so kann es mir nur doppelt angenehm sein,« erwiderte der Graf, sich gegen Vater und Tochter verbeugend.

»Dennoch,« sagte Herr von Weißenbach, »hätte ich es, offen gestanden, lieber gesehen, wenn Sie nicht den Muth gehabt hätten, sich von einer so ehrwürdigen Reliquie zu trennen.«

»Ich konnte derselben keine größere Verehrung beweisen, als wenn ich sie in Ihre Hände legte,« sagte der Graf.

Herrn von Weißenbach's Stirn färbte sich roth; er war durchaus nicht in der Stimmung, bloße Höflichkeiten mit seinem Gaste auszuwechseln; und hatte nun das beschämende Gefühl, daß sein jüngerer Gegner ihm an Gewandtheit überlegen sei. Seine Stimmung wurde dadurch keineswegs gemildert; er fand es sehr unbequem und beleidigend, in Rose's Gegenwart eine Lection in der Höflichkeit zu erhalten. Er sagte:

»Sie wissen, ich liebe das moderne Repräsentativ-System nicht; ich bin aus der alten Schule, deren erster Grundsatz es war: selbst ist der Mann.«

»Wenn die Schule nicht mehr existiert, so kann es nur daran liegen, daß nicht alle Schüler ihr gleiche Ehre gemacht haben,« erwiderte der Graf.

Herr von Weißenbach stand auf und machte ein paar ungeduldige Schritte, als würde es ihm zu eng im Zimmer. Der Graf blickte nach Rosen hinüber; sie hatte die Augenwimpern gesenkt, ihre Wangen waren leis geröthet; ihr Busen verrieth durch sein stärkeres Wogen die innere Erregung

Einen Augenblick herrschte in den Gemache eine Stille, die nur von den ungleichmäßigen Schritten des alten Herrn und von dem Geräusch des Pastor-Wagens, der eben davon fuhr, unterbrochen wurde. Da ließ sich draußen auf dem Flur eine tiefe grobe Stimme vernehmen, die nach Herrn von Weißenbach fragte. Wenzel's mürrische Zurückweisung schien unberücksichtigt zu bleiben; die grobe Stimme wurde noch lauter und dringender. Herr von Weißenbach, der sich in der Nähe der Thür befand, ging mit einer Aeußerung des Unmuths hinaus, ohne die Thür wieder vollständig hinter sich zu schließen.

»Was wollen Sie?« hörten die im Zimmer den alten Herrn fragen.

Die grobe Stimme mäßigte sich so weit, daß man nur einzelne Worte von dem, was sie sagte, verstehen konnte.

Der Graf hatte sich, sobald Herr von Weißenbach das Zimmer verlassen, mit Lebhaftigkeit zu Rose gewandt, die weder ihre Haltung, noch ihre Miene verändert hatte, nur daß vielleicht die Röthe der Wangen noch dunkler geworden war.

»Aber, mein Gott,« sagte er, »wollen denn auch Sie mich ungehört verdammen?«

»Wie käme ich dazu?« erwiderte Rose mit dumpfer, unsicherer Stimme, die sich vergeblich bemühte, gleichgiltig zu klingen; »ich erlaube mir kein Urtheil über Ihre Handlungen oder Entschlüsse.«

»Aber, Rose – aber, mein Fräulein, ich schmeichelte mir, Ihre Achtung und die Achtung Ihres Vaters zu besitzen; ich glaubte, daß – daß Sie mir wenigstens freundlich gesinnt wären. Weßhalb nun auf einmal diese Sprache, diese Kälte, an die ich – verzeihen Sie mir – von Ihnen so wenig gewöhnt bin.«

Rose blickte empor. In ihren großen blauen Augen lag ein Ausdruck, den der Graf bisher noch nicht darin gesehen hatte – ein Ausdruck strengen abweisenden Ernstes. Sie öffnete die Lippen, aber bevor sie ein Wort hervorbringen konnte, wurden die Stimmen der Redenden draußen auf dem Flur so laut, daß Rose bestürzt von ihrem Sitze sich erhob und der Graf unwillkürlich nach der Thür eilte. In demselben Momente trat aber auch Herr von Weißenbach wieder ein, die Thür mit Heftigkeit hinter sich zuwerfend. Seine Augen blitzten unter den buschigen Brauen, eine hohe Stirn war von Zorn geröthet. Er murmelte heftige Worte durch die zusammengekniffenen Lippen.

»Ich fürchte, Sie haben eine Unannehmlichkeit gehabt, Herr von Weißenbach« sagte der Graf.

»O, nichts, nichts von Bedeutung,« sagte der alte Herr, sich auf einem Seitentische ein Glas Wasser einschenkend, von dem er aber nur einige Tropfen trank; »es ist thöricht, daß man sich über dergleichen Unverschämtheiten noch ärgert; man sollte sich doch endlich daran gewöhnt haben. So etwas gehört nun einmal zum Charakter der Zeit. Urtheilen Sie selbst, Herr Graf! Da haben wir hier in Weißenbach ein Individuum, dessen Eltern, Großeltern und so fort seit Menschengedenken im Dienst meiner Familie gewesen sind. Sie haben Alle, so weit meine Erinnerung reicht, nicht viel getaugt; aber wir haben uns ihrer angenommen, wie man sich derer annimmt, die auf unserm Grund und Boden geboren und groß geworden sind. Am wenigsten aber hat dies Individuum getaugt, das uns Alles, ja, ich möchte sagen, sein Leben selbst verdankt, denn er wäre verhungert, als seine Eltern im Elend starben, wenn wir uns seiner nicht angenommen hätten. Mein Vater hat ihn groß füttern lassen, hat ihn in die Schule geschickt, hernach habe ich ihn hier in diesem meinem Hause Jahre lang gehabt als Schreiber und Buchhalter, bis ich ihn als Wirth in den Gasthof setzte, der meiner Familie gehörte, so gut wie gehörte, denn der Gasthof trug Lasten aller Art. Ich habe ihm den Zins erlassen, Jahre und Jahre lang, und nun, – was ist das Ende von der Geschichte? Achtzehnhundertachtundvierzig stand dieser selbe Mensch an der Spitze aller Schwindelköpfe und Taugenichtse der ganzen Umgegend; am einundzwanzigsten März achtzehnhundertachtundvierzig ist er mit seiner Bande hier auf den Hof gezogen gekommen und hat gedroht, mir den rothen Hahn aufs Dach zu setzen, wenn ich nicht sofort allen Gerechtsamen, die auf dem Gute hafteten, in Bausch und Bogen schriftlich entsagte. Meine einzige Antwort war natürlich, daß ich die Büchse dort aus dem Schrank riß, und den, der noch in der nächsten Minute auf dem Hof zu sehen wäre, niederzuschießen drohte. Da stürzten sie zum Thor hinaus wie die Schaafe. Hernach kam die Zinsablösung, und derselbe Mensch, den ich großgefüttert hatte, wurde für eine Summe, die ich ihm, wer weiß wie oft, geschenkt, freier Eigenthümer, wie sie's nennen. Seitdem hat er, wie recht und billig, nicht die Mütze vor mir oder meiner Rose gerückt; und jetzt – jetzt hat dieser Mensch die Frechheit, betrunken – denn sonst hätte er nicht den Muth dazu – in mein Haus zu kommen, mich zu fragen, nein – von mir zu fordern, daß ich ihm die Scheune hier auf meinem Hof verpachten soll, weil ihm von dem Korn, das er neben dem Wege in einem Schober aufgestellt hat, zu viel gestohlen würde! Was denn ich mit der Scheune wolle, da ich ja doch Nichts hineinzuthun habe; er wolle sie mir auch gut bezahlen, auf ein Thaler fünf oder zehn komme es ihm nicht an und dabei klimperte er mit dem Gelde in der Tasche! Tod und Hölle! Muß man sich das gefallen lassen? Ist man so alt geworden, um sich von solchem Gesindel insultieren zu lassen, das man früher schließen und ins Loch stecken ließ? Und wer ist schuld an all' dieser Misère? ich frage Sie, Herr Graf, wer ist schuld? Die sind schuld, welche, kein göttliches und menschliches Recht achtend, das gute Alte mit der Wurzel zu vertilgen sich bemühen; doppelt und dreifach schuld, wenn die Bande des Bluts, die Heiligkeit der Ueberlieferung, die Ehrfurcht des Angedenkens ihrer Ahnen, – wenn Alles, Alles, was sonst dem Menschen das Herz warm hält und ihm im Leben einen Halt giebt – ihn darüber belehren sollte, daß, wer der Tradition eines Standes untreu wird, sich selbst untreu wird, und daß Untreue sich bestraft, früher oder später, im Leben oder im Tode.«

Der Graf war bei den letzten Worten, die Herr von Weißenbach mit erhöhter Stimme und ganz offenbar in direkter Beziehung auf ihn gesprochen hatte, sehr blaß geworden. Er warf einen Blick auf Rose, als erwarte er, daß sie jetzt wenigstens den Versuch machen werde, ihm in seiner peinlichen Lage zu Hülfe zu kommen, aber wieder waren ihre Augen niedergeschlagen und ihre beredten Lippen, denen es sonst nie an einer feinen Wendung, an einem beschwichtigenden, vermittelnden Wort fehlte, waren fest geschlossen. Der Graf fühlte, wie bei diesem Anblick der Zorn heiß in seinem Herzen aufkochte; aber mit einer gewaltigen Anstrengung kämpfte er seine Bewegung nieder und antwortete so ruhig, als er vermochte:

»Wenn die Ehrfurcht vor dem Ueberlieferten, – von der Vergangenheit, die doch auch einmal Gegenwart war, – eine so große Tugend ist, Herr von Weißenbach, so, glaube ich, daß Sie der Tugend der Gerechtigkeit keine minder hohe Stelle zusprechen werden. Ich habe meinen Vater nie, meine Mutter kaum gekannt; mag sein, daß ich so nicht gelernt habe, mich freudig einem vor allem Nachdenken und über alles Nachdenken hinaus Verehrten, wie einer ehrwürdigen, wenn auch unbegriffenen Gottheit zu beugen. Ich habe mir das oft als Herzlosigkeit und Stumpfsinn ausgelegt, und, um diesem Skepticismus, dessen gefährliche Seite mir nicht entging, das Gleichgewicht zu halten, mich früh bemüht, billig zu sein; Vorurtheile und vorgefaßte Meinungen in mir zu bekämpfen; wo ich nicht, wie Andere, ohne Weiteres verehren konnte, mindestens nicht ohne Weiteres, wie Andere, ein Verdammungsurtheil auszusprechen; vor Allem aber, da ich mich, wie ich nun einmal war, so schwer auf Andere stützen konnte, wenigstens mir selbst treu zu sein. Bedenken Sie nun selbst, Herr von Weißenbach, wie schmerzlich mir der Vorwurf, den Sie mir so eben gemacht haben, sein muß. Ja, Herr von Weißenbach, wenn ich nicht heute Abend schon in der Absicht gekommen wäre, Ihnen über mich, über meine Denkweise eine Aufklärung zu geben, die ich Ihnen vielleicht längst schon hätte geben sollen, jetzt, jetzt müßte ich es thun, und Sie müssen mich anhören, denn Sie sind zu edel gesinnt, um Ihrem Gegner anders gegenüber zu stehen, als mit gleichen Waffen, gleicher Sonne und gleichem Wind.«

Der Graf hatte sich in der Aufregung, die er immer mühsamer beherrschte, je länger er sprach, erhoben. Die Hand, mit der er sich auf die Lehne des Stuhles stützte, bebte, wie eine tiefe Stimme, als er also fortfuhr:

»Ich bin aus einer freiwilligen Verbannung, die, wie ich fürchte, weniger muthig, als hochmüthig war, hierher zurückgekehrt in das Land meiner Geburt, ein müder Wanderer, der sich längst schon seines nutzlosen Umherschweifens, seiner Thatenlosigkeit geschämt hatte; zurückgekehrt, nicht in der bestimmten Absicht, aber mit dem heimlichen Wunsche, dieser Thatlosigkeit endlich ein Ende zu machen, endlich einmal aus dem leeren Aether abstracter Speculationen über Menschenglück und Bürger wohl herauszukommen und wieder festen Fuß auf der Erde zu fassen. Wenn mich nun diese Erde alsbald mit einer Kraft, die ich nie für möglich gehalten, fest hielt, wenn mir dieses Thal, in das ich als Fremdling gekommen, so schnell zur Heimath wurde, wenn diese Luft, die ich hier athmete, mich so wunderbar erquickte und das Rauschen des Windes durch unsere Wälder mich wie Wiegengesang anmuthete – so verdanke ich das vor allen Dingen dem Empfang, der mir von Ihnen zu Theil wurde, der Aufnahme, die ich in Ihrem Hause fand. Ich habe kein Vaterhaus gehabt; ich habe nicht gewußt, was es heißt, vor einem Vater zu stehen; habe nicht gewußt, was es heißt, die Hand einer Schwester in seiner Hand zu halten. Daß ich dieser Seligkeit jetzt theilhaftig zu werden glaubte, wessen Schuld – wenn es anders eine Schuld ist, einen Armen reich zu machen – ist es, als Ihre eigene, die Schuld Ihre Güte, Ihrer Freundlichkeit? Ich wärmte mich in dieser neuen Sonne; ich war glücklich, wie ich es nie gewesen, nie geahnt hatte, jemals werden zu können. Ja – ich muß es aussprechen, so schwer es mir auch gerade in diesem Augenblicke wird – ich hatte bald noch kühnere Hoffnungen; ich träumte von einem Tage, wo ich meinen väterlichen Freund mit noch größerem Rechte würde Vater nennen; wo ich sie, deren schwesterliche Neigung ich mir schon erworben zu haben glaubte, mit einem noch theuereren Namen würde begrüßen können. Ich darf dies Alles nicht verschweigen, damit Sie das, was ich noch zu sagen habe, besser verstehen, ja, damit Sie es überhaupt nur verstehen.«

Der Graf war an den Kamin getreten – etwas weiter fort von der Stelle, wo Rose und ihr Vater saßen; seine Augen ruhten jetzt auf Beiden, während er vorher Rose anzublicken vermieden hatte.

»Des Menschen Geist ist wie das Auge eines Leibes. Ein allzu helles Licht blendet ihn. So war es auch mit mir. In dem Ueberschwang des Glückes, das auf mich herabströmte, vergaß ich, daß ich aus der Fremde nicht zurückgekommen war, um wiederum nur mir selbst zu leben. Aber in dem Maße, als ich mir meines Glückes bewußt wurde, brach sich bei mir die Ueberzeugung Bahn, daß ein Glück, welches man sich nicht verdient hat, kein Glück sei; daß es nicht sein Glück verdienen heiße, wenn man sich feige und thatlos aus dem Kampfe des Lebens, in welchem Andere Gut und Blut und Alles aufs Spiel setzen, so weit als möglich zurückzieht. Und ferner sagte ich mir, daß dieser Kampf des Lebens doch schließlich Niemanden verschont, und daß, wer in der Stunde der Entscheidung nicht mit seiner ganzen Kraft für seine Ueberzeugung einstehen kann, schimpflich unterliegen muß. Ich empfand mit einem Male die ganze Schwere meiner Schuld, Ihnen so nahe getreten zu sein, ohne mich Ihnen zu zeigen, wie ich mich selbst sehe, wie ich mich selbst kenne. Ich fühlte, daß ich Ihnen ein volles, ein unumwundenes Bekenntniß meiner Grundsätze schuldig sei. Aber auch das schien mir noch nicht genug. Ich glaubte, meine Ehre und die Achtung, die ich vor Ihnen habe, erforderten es, schon jetzt aus freien Stücken einen Schritt zu thun, wie ich ihn vielleicht später, wenn ich nicht die Achtung vor mir selbst verlieren sollte, thun müßte. Eine Gelegenheit zu einem solchen Schritt war mir schon seit lange geboten. Ich war kaum hierher zurückgekehrt, und das Gerücht, daß ich in Zukunft auf meinen Gütern leben würde, hatte sich kaum verbreitet, als sich die Opposition in unserem Landtage, die, wie es scheint, nicht vergessen hatte, warum ich vor zehn Jahren aus dem Militairdienst geschieden war, sich an mich wandte und mich aufforderte, in ihre Reihen einzutreten. Unser Ländchen ist nicht so groß, daß die Rolle eines Politikers den Ehrgeiz befriedigen könnte; aber klein, wie es ist, ist es ein Glied des großen Ganzen, und die Interessen, die gerade jetzt auf dem Spiele stehen, sind für unsere Verhältnisse von entscheidender Wichtigkeit. Das Programm, das mir vorgelegt wurde, konnte ich mit gutem Gewissen unterschreiben, denn es enthält in Wahrheit nur einen geringen Theil dessen, wovon ich mit Sicherheit hoffe, daß es auf dem Programm der liberalen Partei ganz Deutschlands in nicht allzuferner Zukunft stehen wird. Ich habe es unterschrieben; in dem Fichtenauer Kreise ist seit gestern, wo ich mich selbst an Ort und Stelle den Wählern vorgestellt habe, meine Wahl gesichert. Wenn Sie mich jetzt noch fragen, warum ich diesen Schritt gethan, warum ich ihn jetzt gethan habe – so wissen Sie auch nicht, wie schwer mir dieser Schritt geworden ist, und wie schwer, Ihnen alles Dies zu sagen.«

Der Graf hatte sich bei den letzten Worten auf den Sims des Kamins gebeugt und seine Stirn mit der Hand bedeckt; er verharrte in dieser Stellung, als wollte er sich Zeit lassen, seine Bewegung zu bemeistern. Ein paar Minuten herrschte tiefe Stille in dem Zimmer. Rose hatte, als der Graf schwieg, nur einmal schnell mit angstvollen Blicken auf den Grafen und auf den Vater gesehen, dann hatte sie wieder die Augenlider gesenkt; Herr von Weißenbach saß auf dem Sopha mit gerunzelter Stirn und zusammengezogenen Brauen. Jetzt erhob er sich, ging ein paar Mal auf und ab, blieb dann zwischen Rose und dem Grafen stehen und sagte:

»Ich danke Ihnen, Herr Graf, für Ihre Mittheilungen, wenn es auch, wie Sie ja schon selbst andeuteten, wünschenswerther gewesen wäre, Sie hätten uns dieselben weniger lange vorenthalten. Indessen, wie dem auch sei, Sie haben, indem Sie uns mit einem Einblick in Ihre Gesinnungen beehrten, Ihre Pflicht erfüllt, Sie haben als Mann gesprochen und so will ich Ihnen antworten. Zuerst bitte ich Sie wegen dessen, was ich vorhin sagte, um Verzeihung. Sie sind sich treu gewesen, sind es sich auch in diesem Augenblick; Sie sind stolz darauf, daß Sie es sind, daß Sie den Muth haben, es auf Kosten Ihres Herzens, Ihrer Empfindungen zu sein. Wohl! Sie können unmöglich von mir, von uns weniger erwarten; unmöglich erwarten, daß ein Mann, der über dreißig Jahre, das heißt: mehr als ein Menschenalter vor Ihnen voraushat, sich an dem Abend seines Lebens, auf der Schwelle des Grabes vielleicht, zu Ansichten bekennen soll, die er sein Leben lang gehaßt und bekämpft hat. Ich bin, so scheint es, in diesem Kampfe unterlegen; ich habe in demselben mein Vermögen verloren, meine Gesundheit und Freudigkeit eingebüßt; ich bin ein alter, und – ich spreche es ungern aus – ein armer Mann, der, wer weiß es, vielleicht noch um das Letzte, was ihm blieb, um seinen guten Namen vor der Welt gebracht werden wird. Ist es auch nur denkbar, daß ich zu allen diesen Opfern noch das meiner Gesinnung bringe? Und darauf käme es doch hinaus, oder unser Leben, ich meine das Verhältniß zwischen Ihnen zu mir, und mir zu Ihnen, würde eine einzige große – Lüge sein. Die ist unser nicht würdig. Ich bin Ihnen die volle Wahrheit schuldig. Wären Sie mir von Haus aus ein Fremder, wären Sie aus bürgerlichem Stande, und hätten Sie die Gesinnungen, die Sie haben, ich würde Sie immerhin nicht zu meinem Vertrauten machen, würde Ihnen nie freiwillig einen Platz, der meinem Herzen noch näher ist, einräumen; dennoch könnte ich Ihnen mit einer gewissen Gleichgültigkeit, mit dem Gefühl, daß dies so sein muß und gar nicht anders sein kann, gegenübertreten. Aber, ich gestehe, der Gedanke, daß der Sohn meines liebsten Freundes, daß Jemand, den ich als unmündiges Kind über die Taufe gehalten habe, daß der Abkömmling eines uralten, durch die Reinheit eines Stammbaumes und seiner Gesinnungen berühmten Geschlechts, sich auf die Seite derer stellt, in denen ich von jeher meine natürlichen Feinde gesehen habe – das regt mir das Blut in den Adern auf, das raubt mir fast die Ruhe, die mir mein Alter zur Pflicht macht. Von diesem Augenblick an muß jede Gemeinschaft zwischen uns aufhören; das brauche ich Ihnen nicht zu sagen, denn das fühlen Sie, das wissen Sie so gut, wie ich. Was Jeder von uns verliert, muß eben Jeder tragen, wie er kann. Möglich, ja wahrscheinlich, daß für uns Alle jetzt eine schwere Zeit heranbricht, daß Keiner von uns wieder so glücklich wird, wie er war, ehe wir uns kennen lernten – auch das müssen wir hinnehmen, wie ein Unvermeidliches. Die Schrift befiehlt uns, das Auge auszureißen, das uns ärgert; Jemanden, den wir unter anderen Umständen sehr geliebt hätten, von uns zu stoßen, ist vielleicht nicht minder schmerzlich; und doch muß Beides geschehen, wenn wir nicht an Leib und Seele zu Grunde gehen wollen.«

Der Graf athmete tief auf. Es war vorbei. Er richtete sein Haupt empor; trat mit leisen, ruhigen Schritten vor Rosen hin und blickte einen Moment auf sie herab. Ihre Augenlider waren geröthet; ihre Wangen waren jetzt blaß und ihr Mund wie im Schmerze geschlossen.

»Leben Sie wohl!« sagte der Graf.

Er reichte ihr die Hand; Rose's Hand war kalt; ihre Finger regungslos und wie erstarrt. Den Grafen wollte seine Festigkeit verlassen; Stolz und Liebe kämpften in seiner Brust, wie zwei Adler mit ausgespannten Flügeln und ausgereckten Fängen gegeneinanderstürzen; aber der Stolz blieb Sieger. Er ließ die kalte Hand sacht aus der seinen gleiten und wandte sich zu Herrn von Weißenbach.

»Erlauben Sie, daß ich Sie hinausbegleite,« sagte der alte Herr. Er nahm den Armleuchter von dem Tisch und leuchtete dem Grafen auf den Flur, ganz wie sonst, nur daß heute Abend eine stattliche Höflichkeit durch kein freundliches Lächeln erhellt war. An der Hausthür schieden sie. Herr von Weißenbach benutzte den Augenblick, wo seine eine Hand den Leuchter, seine andere den Griff der Thür hielt, zu einer letzten Verbeugung. Der Graf machte keinen Versuch, ihm die Hand zu reichen. Als die Nachtluft ihm in's Gesicht wehte, athmete er noch einmal tief auf und sagte: Gott sei Dank! dennoch war es ein Glück, daß Zuleika so sicher lief und den Weg von Weißenbach nach Lengsfeld schon so oft in der Nacht zurückgelegt hatte – sonst hätte diesmal der Ritt für Roß und Reiter leicht der letzte sein können.

Als Herr von Weißenbach in das Zimmer zurückkam, fand er Rosen nicht mehr darin. Er ging in das Nebenzimmer. Rose, die sich dort auf das Sopha geworfen hatte, richtete ihren Kopf empor; ihr Gesicht war mit Thränen überströmt. Herr von Weißenbach setzte heftig den Leuchter auf den Tisch.

»Wenn Du Deinen alten Vater liebtest, so würdest Du in diesem Augenblick nicht weinen, Rose,« sagte er.

Rose trocknete sich mit ihrem Taschentuche die Thränen; aber, indem sie so that, überwältigte sie die Leidenschaft; sie schluchzte laut auf, verbarg ihr Gesicht in die Seitenkissen des Sophas und weinte bitterlich.

Dieser Anblick – die zitternden Locken, der krampfhaft zuckende schlanke Körper – brachte den alten Mann ganz außer sich. Er schlug sich mit der geballten Faust vor die Stirn, er ging mit heftigen Schritten hin und her, endlich blieb er vor der noch immer Weinenden stehen und sagte:

»Warum bist Du ihm denn nicht gefolgt, wenn es Dir so schwer wird, das Schicksal Deines Vaters zu theilen? Er würde Dich ja gern genommen haben für heute und für morgen, wenn er auch vielleicht übermorgen sich der Bettlerin geschämt hätte! O, mein Gott, weshalb hast Du mich nicht sterben lassen, ehe ich dies erlebte!«

Rose hörte die Thür gehen. Der Vater hatte das Zimmer verlassen. Sie machte keinen Versuch, ihm zu folgen; in der That wäre sie in diesem Augenblicke dazu nicht im Stande gewesen. Ihr Kopf war zerstückt und ihre Brust so voll von schwerem Herzeleid, daß sie jetzt nicht einmal mehr weinen, sondern nur von Zeit zu Zeit leise schluchzen und mit starren, weit geöffneten Augen in die Flammen der Lichter blicken konnte. So saß sie lange Zeit. Lauter und lauter heulte und stöhnte der Nachtwind. Der Regen, der wieder angefangen hatte, schlug prasselnd gegen die Scheiben. Der Wächter im Dorfe rief die Stunde ab. Rose wußte nicht, welche Zeit es war; sie sah nur, daß die Lichter fast ganz heruntergebrannt waren. Sie mußte zu Bette gehen – weßhalb? es hatte so gar keinen Sinn. Morgen war wieder ein Tag – ja – aber ein Tag, ohne daß sie ihn sehen würde, der, wie sie jetzt fühlte, ihr theurer war als ihr Leben; und so morgen und übermorgen und alle Tage! Rose schauderte zusammen; es war ihr, als hätte sie in ein Grab geblickt. Sie nahm ein Licht und besorgte, was noch für morgen in der Wirthschaft zu besorgen war. Im Hause war Alles schon zu Bette. Als sie die knarrende Treppe hinaufstieg, erschrak sie vor ihrem Schatten, welchen bei einer Wendung das Licht an Wand und Decke warf, und dann dachte sie: sie sei ja selbst nur ein Schatten von dem, was sie noch vor so kurzer Zeit gewesen.



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