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22.

Der Morgen nach der Schreckensnacht brach trüb herein. Es hatte nach Mitternacht – zum ersten Mal in diesem Herbst – geschneit. Aus dem weißen Schleier ragten die schwarzen rauchenden Trümmer doppelt grausig hervor. Der Hof war gänzlich eingeäschert; Jedermann erklärte es für ein halbes Wunder, daß das Herrenhaus, einige Brandflecken auf Dach und Wänden und einige zersprungene Scheiben abgerechnet, unversehrt geblieben war. Schon war es kein Geheimniß mehr, wie das Feuer entstanden. Daß es angelegt sein müsse, darüber waren schon während der Nacht. Alle einig gewesen und jetzt wußte man auch, wer es gethan. Etwas oberhalb des Hofes in dem sehr tiefen und jetzt durch den unendlichen Regen noch mehr als gewöhnlich wasserreichen Graben, der hier zwischen dem Park und den Feldern hinlief und jenseits der Landstraße in den Weißenbach mündete, fand man die Leiche des Wirthes vom rothen Hirschen, der schon seit gestern Abend vermißt wurde. Er hatte in der letzten Zeit wiederholt geäußert, daß er »dem gnädigen Herrn seinen Hochmuth noch eintränken wolle.« Noch am verflossenen Tage hatte er in der Trunkenheit viel schlimmere Drohungen ausgestoßen. Zum Ueberfluß fanden sich in einen Taschen mehrere Schachteln voll Streichhölzer, sowie Schwefelfäden, Stahl und Stein. Offenbar hatte er, nachdem er seine That vollbracht, sich hinter dem Hofe wegschleichend, über den Graben springen wollen, um dann das freie Feld zu gewinnen und von einer anderen Seite ins Dorf zurückzukehren; war dabei ausgeglitten oder zu kurz gesprungen und hatte in der Trunkenheit sich nicht wieder aufrichten können. Andere meinten: er habe seinem Leben, das er bei gänzlich zerrütteten Verhältnissen doch im Schuldthurm beschlossen haben würde, freiwillig ein Ende gemacht.

Größere, zum mindesten herzlichere Theilnahme regte das Schicksal des Herrn von Weißenbach und des Grafen Lengsfeld. Man erfuhr, daß Beide noch lebten, daß man aber an ihrem Aufkommen zweifle; der Graf sei gänzlich zerschmettert, der alte Herr rase in einem hitzigen Fieber. Man erging sich in langen Klagen über das arme Fräulein Röschen, die sich in ihrer großen Gutherzigkeit noch an dem Unglückstage mit dem Kinde der todten Anne beladen habe, und nun den Vater und den Bräutigam unter ihren Augen sterben sehen sollte. Daß der Graf Fräulein Röschen's Bräutigam sei, hatte sich mit einem Male im Dorfe herumgesprochen. Man wußte nicht, wer das Gerede angefangen hatte; Einige sagten: man habe es zuerst in Lengsfeld erzählt, der Pastor dort solle geäußert haben: unmöglich sei es nicht.

Bis zu Rose selbst drang das Gerücht. Frauen aus dem Dorf, die aus wirklicher Theilnahme – denn Rose war bei Alt und Jung beliebt – oder aus Neugierde, zu wissen, wie es im Herrenhause aussehe, ihre Dienste anboten, fragten nach dem Herrn Bräutigam. Rose widersprach nicht: es war ihr so gleichgültig, was die Leute sagten. Sie dankte freundlich für die angebotenen Dienste; sie sei mit der Hülfe, die ihr zu Gebote stehe, vollkommen im Stande, das Nöthige zu schaffen.

Weitaus die größte und wichtigste Hülfe leistete in dieser schweren Zeit der alte treffliche Dorfarzt. Er war über Land gewesen und bereits auf der Rückkehr nach Weißenbach, als er das Feuer sah, das nach seiner Berechnung auf dem Hofe sein mußte. Sofort hatte er dem Knechte den Befehl gegeben, die Pferde zur äußersten Eile anzutreiben und so war er denn wenige Minuten, nachdem das Unglück geschehen, vor dem Hofthore aus dem Wagen gestiegen. Da man jetzt nach Einsturz der Scheune des Feuers Herr werden zu können behauptete, hatte es keine Gefahr, wenn die Kranken in dem Hause blieben; ja, es stellte sich schon nach der ersten Untersuchung heraus, daß der Graf gar nicht mehr transportiert werden konnte. Der Blutverlust, den mehrere Wunden am Kopf verursacht hatten, war zu bedeutend gewesen. Indessen erschienen diese sowie ein Bruch des linken Schlüsselbeins und mehrere starke Quetschungen an der Schulter dem erfahrenen Manne weniger gefährlich, als eine Erschütterung, die das Gehirn erlitten zu haben schien. Doch hatte sich für den Augenblick darüber nichts entscheiden lassen.

Kaum minder Besorgniß erregend war der Zustand des alten Herrn. Auch, nachdem die Ohnmacht, die den durch physische Anstrengung und seelische Aufregung zum Tode Erschöpften befallen, gewichen war, hatte er das Bewußtsein nicht wieder erlangt. Man hatte ihn auf den Wunsch des Doktors in sein Zimmer hinaufgetragen und zu Bett gebracht, während er dem Grafen die ersten Verbände anlegte. So war geschehen, was der Augenblick zuließ. Unterdessen jagte der Reitknecht des Grafen, der seinen Herrn herüber begleitet hatte, in die Stadt, um einige Medicamente zu holen, welche der Hausapotheke des Doktors fehlten, und einen Arzt zu requirieren, an welchen jener ein paar Zeilen geschrieben hatte.

Der Arzt aus der Residenz, Hof- und Medicinalrath und Hausarzt der Familie während ihres Aufenthalts in der Stadt, kam noch vor Tagesanbruch. Er hielt eine längere Consultation mit einem ländlichen Collegen, theilte Rosen mit, daß er mit den Anordnungen desselben vollkommen einverstanden, daß allerdings für Herrn von Weißenbach, so wie für den Grafen Gefahr vorhanden sei, daß er indessen das Beste hoffe, jedenfalls im Laufe des Tages noch einmal herauskommen wolle, im Falle sich der Zustand des Einen oder des Andern verschlimmern sollte. Ob Fräulein von Weißenbach Aufträge an Ihre Königlichen Hoheiten habe, die gewiß den lebhaftesten Antheil an dem Unglück, das sie betroffen, nehmen würden?

Rose hatte keine Aufträge an Ihre Königlichen Hoheiten.

Ein stiller, auf das Schlimmste gefaßter Muth erfüllte die Seele des jungen Mädchens wie mit göttlichem Feuer. Thränenlos, blaß, aber sonst scheinbar ruhig, gab sie ihre Befehle mit leiser deutlicher Stimme, oder führte behend vorsichtig die Anordnungen des Doktors aus. Ohne eine Spur weiblicher Schwäche und Prüderie leistete sie ihm in den ersten Stunden Beistand, wo er denselben eben brauchte. Der brave Mann, der selbst in den schlimmsten Lagen seinen kleinen Scherz machen mußte, nannte sie einen »Herrn Assistenten« und behauptete, daß Aesculap einen ausgezeichneten Jünger an ihr verloren habe. Ja Rose fand noch Zeit, ihr Pflegekind zu besuchen, das jetzt unter der Obhut einer treuen Magd schlummerte, während Frau Wenzel, ebenso wie Rose, ihre Sorge zwischen den beiden Kranken theilte.

Der gute Arzt blieb die ganze Nacht und ging erst gegen Morgen, um sich einige Stunden der Ruhe zu gönnen, deren er so sehr bedurfte. Er hatte Rosen überreden wollen, sich ebenfalls niederzulegen, da Frau Wenzel und der Diener des Grafen (ein anstelliger und verläßlicher Mann, den man von Lengsfeld hatte kommen lassen) zur Bewachung der Kranken hinreichten; aber Rose sagte, daß sie vorläufig noch Kraft genug fühle und warten wolle, bis die Reihe auch an sie komme.

So blieb sie auf und sah, bald an dem Bette des Vaters, bald an dem des Grafen sitzend, den grauen Morgen durch die Fenster dämmern. Die alte Frau Wenzel, die bei dem Herrn blieb und der Diener, der in dem Zimmer des Grafen war, nickten in ihren Stühlen; aber Rosen war, als wenn sie wachen müsse, bis Alles entschieden sei, um dann zugleich mit den Geliebten in ewigen Schlaf zu sinken. Sie hatte keine Hoffnung, daß sie wieder gesunden könnten; ja es überkam sie manchmal die Empfindung, als wünschte sie es kaum. Aus dem unseligen Labyrinth ihres Lebens gab es ja keinen anderen Ausweg als den Tod. Und sollte sie die Ueberlebende sein? den Vater, den Gatten begraben – und weiter leben, als wäre eben nichts geschehen? als wären ein paar Uhren stehen geblieben? Der Gedanke erschien ihr feige, schmachvoll, einer starken Seele unwürdig.

Was konnte dem Vater selbst erwünschter kommen, als jetzt zu sterben, bevor der letzte Akt des Trauerspiels begonnen? Rose zitterte, wenn sie sich dachte: den aus seiner Bewußtlosigkeit Erwachenden könne der Haftbefehl, welchen er so lange gefürchtet hatte, nun wirklich erwarten.

Würde dem Grafen der Tod jetzt besonders schmerzlich sein? Er hatte in dem Delirium, das gegen Morgen bei ihm eintrat, ohne sie zu erkennen, und ohne ihren Namen zu nennen, fortwährend mit ihr und von ihr gesprochen; hatte sie, deren Bild ihn umschwebte, mit den süßesten Schmeichelworten der Liebe überhäuft, einmal über das andere versichert: Er werde sie lieben, und wenn sie ihn noch mit viel schlimmeren Qualen martere; und dann hatte, er geweint und gefragt, warum sie denn noch seinen Kopf zerstücke, nachdem sie sein Herz bereits zerrissen habe? Rose hatte ihm die Hand auf die fieberheiße Stirn gelegt. Da war er alsbald stille geworden.

So verging die lange, lange Nacht.

Der Morgen kam und ein paar Stunden später der gute Doktor, der den Zustand der Kranken besser fand, als er erwartet hatte. Der »Herr Assistent« habe Wunder gethan; hier könne Aesculap selbst lernen. Dann küßte er dem jungen Mädchen die Hand und bat sie mit freundlichem Ernst, seinen Wünschen nun Folge zu leisten und sich niederzulegen. Er habe voraussichtlich einige Stunden Zeit und wolle so lange selbst die Oberaufsicht führen.

Als Rose auf ihr Zimmer gegangen war, machte sich der Doktor daran, den Zustand des Grafen noch einmal zu untersuchen. Es war dies bei den mancherlei Verletzungen, die derselbe erlitten hatte, ein sehr compliciertes Geschäft, und der Doktor führte es mit aller Sorgfalt und strengster Gewissenhaftigkeit aus. Aber je weiter er in seiner Diagnose kam, desto zufriedener wurde sein anfänglich bedenkliches Gesicht; zuletzt auskultierte er noch die Lunge und das Herz; betastete mit Wohlgefallen die ungewöhnlich hohe und breite Brust, nahm schließlich eine Priese und murmelte: »Für diesmal also wären wir noch so durchgeschlüpft, es wäre aber auch wirklich Jammer und Schade um ein so prächtiges Paar. Wenn wir den alten Herrn nur auch erst so weit hätten! Er ist gegen uns, das ist klar, aus Vorurtheil, politischem Fanatismus und Eifersucht; hauptsächlich aus Eifersucht. Will das Mädel nicht weggeben; glaub's; sollte mir auch schwer werden, wenn ich der Vater wäre. Hab' mein Lebtag kein Kind gehabt. Ist auch das Vernünftigste; kommt nichts dabei heraus.«

Im Laufe der ersten Hälfte des Vormittags und während Rose noch schlief, kam, zu des Doktors nicht geringer Verwunderung der Hofrath schon wieder angefahren; in schneeweißer Wäsche, frisch, glatt, verbindlich, wie immer, oder noch verbindlicher. Er komme im speciellen Befehl Ihrer Königlichen Hoheiten, welchen er heute ausnahmsweise früh aufgewartet und die er durch die Nachricht von dem Unglück in Weißenbach, welches sie bereits erfahren, tief erschüttert gefunden habe. Die Frau Herzogin habe sich sogleich in ihr Cabinet zurückgezogen, um dem Fräulein zu schreiben; der Kammerhusar werde wohl bald mit dem Briefe ankommen. Auch das Schicksal des Grafen gehe den höchsten Herrschaften ungemein nahe; um so mehr, als sie seinen politischen Beirath in dieser Zeit nur ungern entbehrten.

Der gute Doktor war über diese letztere Mittheilung eines städtischen Collegen nicht wenig verwundert. Er selbst war ein ehrlicher Demokrat, wenn auch kein sehr scharfsinniger Politiker; so viel er wußte, war der Kampf der Opposition mit dem Ministerium noch so heftig, wie je. Er erfuhr nun, daß, nachdem gestern Morgen das Ministerium seine Entlassung erbeten und erhalten, der Graf mit der Bildung eines neuen Ministeriums beauftragt worden sei; daß er selbst für seine Person diese Ehre zwar ablehnen zu müssen geglaubt, aber zum Zustandekommen des Cabinets sehr eifrig mitgewirkt habe, bevor er gestern Nachmittag die Stadt verließ, um sich zur Erholung für einige Tage auf seine Güter zu begeben. Königliche Hoheiten bedauerten den Unfall des Grafen um so mehr, als er, obgleich Oppositionsmann, in seiner Eigenschaft als Standesherr ein vortreffliches Medium zwischen dem Hof und dem neuen unadligen Ministerium abgegeben haben würde. Uebrigens wolle er (der Hofrath) nur noch en passant erwähnen, wie Ihre Hoheit unter Anderm geäußert habe, daß Sie die Gerüchte, welche über eine eventuelle Inhaftierung des Herrn von Weißenbach im Publikum circulirten, auf das lebhafteste bedauere, und sich freue, constatieren zu können, daß auch kein wahres Wort an der Sache sei.

So sprach der Hofrath, lächelte, wies seine weißen Zähne, reichte dem Collegen die weiche, wohl gepflegte Hand, stieg in seinen Wagen, hüllte sich in seine Decken und fuhr davon.

Der gute Doctor konnte kaum Rose's Aufwachen erwarten, um ihr diese für sie so höchst wichtigen Mittheilungen zu machen. Zu seiner Verwunderung fand er das Fräulein, als er nach einer Viertelstunde erschien, schon von Allem unterrichtet. In einem Briefe, der heute früh aus der Stadt gekommen, aber in dem Drange der Ereignisse von ihr nicht eröffnet und erst jetzt gelesen worden war, hatte der Advokat mit wenigen Zeilen das Nöthigste gemeldet und besonders betont, daß gegen Herrn von Weißenbach in keiner Weise vorgeschritten werden würde. Er (der Advokat) freue sich übrigens, dem Herrn von Weißenbach mittheilen zu können, daß diese unverhofft günstige Wendung sowohl der politischen Lage im Allgemeinen, als auch des Processes im Besonderen von Jedermann dem Einflusse des Herrn Grafen Lengsfeld zugeschrieben würde, der, wie er (der Advokat) höre, mit Herrn von Weißenbach auf das innigste befreundet sei.

Der Graf hatte also gestern Abend schon Alles gewußt; weshalb hatte er geschwiegen? Hatte er ihrem Danke ausweichen? seine Sache allein führen wollen? zu stolz, irgend eine Empfindung, die ihm nicht persönlich galt, zu Hülfe zu rufen?

Rose erschrak bei diesem neuen Einblick in die egoistische Starrheit des Männerstolzes; wie war bei solcher Unbeugsamkeit eine Vereinigung, eine Versöhnung möglich?

Vorläufig freilich handelte es sich um Leben oder Tod der Geliebten. Der Graf ras'te im Wundfieber und der Vater lag mit halb geschlossenen Augen, ohne einen Laut von sich zu geben, ja ohne sich kaum zu regen in seinem Bette, wie es schien, gänzlich theilnahmlos an Allem, was um ihn herum vorging.

Dennoch war sein Gehirn nur allzu geschäftig. Als er aus der tiefen Nacht der Ohnmacht erwachte, hatte er zuerst, wie aus dem leeren Aether heraus, eine Stimme gehört, die immerfort sagte: »Thu' es nicht, thu' es nicht, um meinetwillen, um deinetwillen nicht.« Er sann und sann, was er nicht thun solle. Er konnte nicht darauf kommen, obgleich er sich bewußt war, daß das, was er nicht thun sollte, etwas sehr Schweres und Verantwortliches sei. Dann fragte er sich: wer denn das nur immer sage? Einmal war es Rose's Stimme und ein ander Mal war es die Uhr, die der Graf Rosen geschenkt hatte, und die, seinem Bette gegenüber, auf der Commode stand. Es war nicht möglich, auszumachen, ob es Rose oder die Uhr sei, was da ohne Unterbrechung auch nur einer Secunde sagte: »Thu' es nicht, thu' es nicht! Um meinetwillen, um deinetwillen nicht.«

Dann war ihm gewesen, als habe er schon gethan, wovon die Stimme sage, daß er es nicht thun solle; als habe er seine Rose schon verloren; und da hätte er immerfort weinen mögen; aber er hatte ja keine Augen mehr, sondern zwei heiße Kugeln, die er sich in den Kopf geschossen, aus Gram und Herzeleid, weil er seine Rose von sich gestoßen. Er konnte nicht weinen, so centnerschwer es ihm auch auf der Brust lag, und so flehend er auch Gott um Thränen bat. Die Stimme sagte auch nun nicht mehr: thu' es nicht, thu' es nicht, sondern: böser Vater, böser Vater! Am deutlichsten und lautesten sagte es die Uhr; wenn Rose es sagte, hörte er nur immer: lieber Vater, lieber Vater! und das flößte ihm einige Beruhigung ein. Denn wenn Rose mit ihm sprach, so konnte sie ihn doch noch nicht verlassen haben, und wenn sie ihn noch nicht verlassen hatte, so konnte ja noch Alles gut werden.

Was konnte gut werden?

Der Graf spielte eine Rolle dabei; aber welche? Die Uhr wußte es recht gut, aber sagte es nicht, sondern immer, wenn sie an diesen Punkt kam, ganz deutlich tik-tak, tik-tak; und immerfort tik-tak, tik-tak, daß die heißen Kugeln im Kopfe wie glühende Kohlen brannten.

Die dumme Uhr mit ihrem dummen tik-tak! Ja! wenn der Graf nicht todt wäre! er hatte ihn todt zu seinen Füßen gesehen; er wußte nicht wo und wann; aber die Sache stand fest, daß der Graf todt war; oder war er es etwa nicht?

Er mußte es wohl laut gesagt haben, denn eine Stimme – es war nicht die Uhr, sondern Rose – sagte: »Nein, lieber Vater, er ist nicht todt.«

Sonderbar! wie deutlich er doch träumte! er hatte Rose's Gesicht gesehen, dicht über sich, und ihre Lippen auf seinem Munde gefühlt. Und dabei waren ihr ein Paar Thränen aus den Augen auf seine Stirne getropft, gerade wo die heißen Kugeln steckten, die ihm so furchtbare Schmerzen verursacht hatten. Von den Thränen waren die Kugeln viel kühler geworden, das that so wohl. Wenn der Doctor sie jetzt herausnehmen wollte, so würde es gewiß gar keine Schwierigkeiten machen.

Wo war denn der Graf, wenn er nicht todt war?

»Im Hause, unten neben dem Wohnzimmer.«

Es war nicht Rose, welche die Worte gesprochen hatte, sondern die Frau Wenzel. Wie konnte auch Rose mit ihm sprechen, wenn sie unten beim Grafen war? Seit wann waren sie denn miteinander verheirathet? »Noch gar nicht!« Pah, warum einem alten Mann solche Lügen sagen? Die Kugeln im Kopfe hätten ihn viel mehr geschmerzt, als der Gedanke, daß der Graf und seine Rose Mann und Frau seien; einmal mußte sie ja doch heirathen, und da war es am Ende gut, daß der Doctor ihm die Kugeln aus dem Kopf genommen habe und er dabei gestorben sei.

Es war am vierzehnten Tage nach der verhängnißvollen Nacht. Der Doctor hatte Rose darauf vorbereitet, daß eine Krisis in dem Zustande des Vaters eintreten und er entweder aus dem tiefen Schlaf, in welchem er seit vierundzwanzig Stunden gelegen, erwachen, oder in den Tod hinüberschlummern werde.

»Ich spreche mit Ihnen, liebes Fräulein«, sagte der Doctor, »wie man in dergleichen Fällen leider selbst nur mit wenigen Männern sprechen kann; aber Sie haben auch mehr Hirn und Herz, als ich für mein Theil bei den meisten Männern gefunden habe. Erlauben Sie mir einmal Ihre Hand.«

»Sie sind ein herrliches Mädchen«, fuhr er fort, »Sie könnten den größten Misanthropen wieder an die Menschheit glauben machen. Wollte der Himmel, daß Sie noch einst so glücklich werden, wie Sie groß und gut sind!«

Rose's Augen füllten sich mit Thränen. Sie hatte alle diese Zeit nicht ein einziges Mal geweint, aber in der ungeschminkten Theilnahme des wackern Mannes sah sie ihr Leid wie in einem Spiegel.

»Muth, Muth, meine kleine Heldin«, sagte der Doctor, der um einen Kopf kleiner war, als Rose; »wir haben die Schlacht noch nicht verloren; ja wir haben sie schon zur Hälfte gewonnen, denn der unten (das Gespräch fand in Rose's Stube statt) ist in einem Monat so weit wieder hergestellt, daß, wenn er auch den rechten Arm wohl noch wird in der Binde tragen müssen, er die linke Hand frei genug hat, um eine gewisse junge Dame damit für immer festzuhalten. Nun, nun, liebes Fräulein, Sie brauchen mir nicht zu zürnen; der Graf hat dafür Sorge getragen, seine Umgebung (auf die er sich glücklicherweise verlassen kann) von dem Zustande seines Herzens zu unterrichten, und dann sehen Sie: die Sache hat doch auch ihre ernste, sehr ernste Seite, und das ist der Grund, weshalb ich, mit Ihrer gütigen Erlaubniß, in diesem Augenblick davon spreche. Ich müßte einen geringeren Antheil an Ihnen nehmen, wenn mir entgangen sein sollte, daß Sie in letzterer Zeit nicht immer mit Ihrem Vater in der schönen Harmonie, wie sonst wohl, gelebt haben. Nun könnte es wohl sein, daß Ihr Vater stirbt, ohne vorher sein Bewußtsein wieder zu erhalten. Sie würden dann annehmen, daß er nicht in Frieden von Ihnen geschieden sei, und das würde einen Schleier über ihr ganzes zukünftiges Leben breiten. Ich möchte Sie schon jetzt vor einem solchen Fehlschlusse warnen. Dergleichen Krankheiten sind oft nicht blos ein Versuch der physischen Natur, die schädlichen Stoffe von sich auszustoßen, sondern nicht minder der psychischen, die verloren gegangene Harmonie wieder zu erhalten. Wer kann sagen, ob Ihr Vater, wenn er wieder zum Leben erwacht, nicht auf Alles, was ihn in dieser letzten Zeit gequält, zurücksieht, wie auf einen bösen Traum? Der Tod ist im organischen Gebiet immer eine Consequenz von absoluter Folgerichtigkeit; aber auf dem seelischen Gebiet ist er oft ein willkürlicher Strich gleichsam durch die unvollendete Rechnung des Lebens, ein plumpes Quiproquo, eine grausame Unterschlagung, eine perfide Volte des Zufalls, der das Oberste zu unterst kehrt. Und nun kommen Sie, liebes Fräulein; ich hoffe, wie gesagt, das Beste, aber in solchen Fällen thut man wohl, auf das Schlimmste gefaßt zu sein.«

Der Doktor behielt Rose's Hand in der seinen, während sie durch den langen Corridor nach dem Zimmer des Herrn von Weißenbach schritten. Frau Wenzel saß am Bett und stand auf, dem Doktor Platz zu machen.

Der Doktor fühlte nach dem Puls des Kranken, befühlte seine Stirn und Brust, und wandte sich lächelnd zu Rose, die mit starren Blicken an seinen Mienen gehangen hatte.

»Es müßte gegen alle Wissenschaft und Erfahrung zugehen,« sagte er, »oder wir sind außer Gefahr.«

Rose sank in den Stuhl, auf welchem sie saß, zurück, bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und schluchzte leise.

Der Doktor stand auf, strich ihr über das schöne lockige Haar und sagte:

»Nun, nun, meine kleine Heldin! man muß auch das Glück ertragen können!«



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