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4.

Es waren die schönen, sonnigen Tage, wo der Sommer, der zu Ende ist, sich noch nicht von seinen lieben Feldern und Wäldern trennen kann, und der Herbst ihn gewähren läßt, sicher, daß seine Zeit doch kommen wird. Es war so still in der Luft; die glänzenden Sommerfädchen rückten kaum aus der Stelle und wenn ein gelbes Blatt vom Baum fiel, schwebte es gerade hernieder und blieb liegen, wo es den Boden berührt hatte. Vogelstimmen hörte man nur selten noch in dem stillen Revier und die klangen gedämpfter und klagender, als sonst. Der Sommer ist hin, der Sommer ist hin; was wird die Zukunft bringen? – das sagten die Vogelstimmen, sagten die gelben Blätter und die Sommerfäden, sagte die stille, sonnige, warme Luft.

Was wird die Zukunft bringen?

Rose hatte selten in ihrem Leben so viel an die Zukunft gedacht, als in diesen Tagen. Sie wußte selbst nicht weßhalb, aber sie fühlte sich melancholischer und weicher, als sie sich sonst wohl kannte. Es waren ihr sogar ein paar Mal, wenn sie in ihrem Zimmer am Fenster stand und den Schwalben zusah, die rastlos hin und wieder flogen und die Flügel zur großen Reise schmeidigten, die Thränen in die Augen gekommen. »Was wird die Zukunft bringen? wird sie immer so still und sonnig und warm sein, wie jetzt? Auf den Sommer folgt der trübe Herbst, auf den trüben Herbst der traurige Winter. Und für die Natur, für die Bäume und Pflanzen kommt dann wieder Frühling, aber auf den Herbst und Winter des Menschenlebens folgt kein Frühling, sondern der Tod. Sterben und verlassen – verlassen, was man liebt, das ist so traurig; aber trauriger: leben bleiben und verlassen werden von den Geliebten, allein sein, für Niemand leben, als für sich selbst; Niemand lieben, als sich selbst. Als sich selbst? giebt es denn nicht so viel Elend auf der Welt? so viel Thränen zu trocknen? so viel brennende Stirnen zu kühlen? Sind die Unglücklichen nicht die große Gemeinde, in der wir niemals einsam sein können! Wie bald, wie bald wird die Zeit kommen, wo ich mit der Menschheit nur noch durch die Unglücklichen zusammenhänge, denn die Glücklichen bedürfen meiner nicht.«

Rose setzte ihren breiträndrigen Strohhut auf, nahm ihr Körbchen unter den Arm und ging zu der Wöchnerin, die im Fieber lag. Das arme junge Weib ergriff, als Rose an ihr Lager trat, die beiden Hände des jungen Mädchens und benetzte sie mit Thränen. Was solle aus ihrem Kinde werden, wenn sie stürbe? ihr Mann sei ja sonst ganz gut; aber er sei so schwach und könne nicht vom Branntwein lassen, und wenn sie todt sei, werde er sich gewiß dem Trunk ergeben und dann und dann – das arme Weib zerfloß in Thränen und drückte das Kind an ihre schmerzende Brust. Rose tröstete sie, so gut sie es vermochte; sie werde nicht sterben und was das Kind beträfe, so sei es ja auch ihr Kind und sie werde es nicht verlassen. Die Stimme des jungen Mädchens war so sanft und ernst und feierlich; dem armen Weibe auf dem harten Lager war es, als ob der Engel einer zu ihm spräche. »Sie sollte nicht sterben; ihr Kind sollte nicht verlassen sein.« Sie sank auf ihr Lager zurück und schloß die Augen; »sollte nicht verlassen sein!« Sie hatte nicht schlafen können, seit Rose gestern dagewesen war; jetzt konnte sie schlafen. Rose nahm das Kind und gab ihm von der frischen warmen Milch, die sie vom Hofe mitgebracht, dann bettete sie es wieder sanft und reinlich und setzte sich und wachte über die Schlummernde. Der Mann kam von der Arbeit nach Hause und öffnete unsanft die Thür; aber als er das Fräulein erblickte, wie es den Finger an den Mund legte und ihn mit den großen blauen Augen so ernst und mild ansah, da zog er die Thür sacht hinter sich zu und kam leise herein und legte seine Sachen leise in die Ecke. Rose winkte ihn zu sich und flüsterte ihm zu, daß in dem Korb Fleisch für ihn sei und Brot und ein Stück Geld in Papier, wenn es ja noch an Etwas fehle. – Der Mann nickte mit dem Kopfe und setzte sich in die Ecke und aß. Der plumpe Mensch stieß nicht an, warf nichts um, man hörte ihn kaum. Rose stand auf und nahm ihren Hut. Der Mann erhob sich. Rose legte ihm die Hand auf den Arm. »Die Anne sagt: Er ist so gut, Claus Weber! ich glaube es auch, denn wer nicht gut gegen ein so sanftes Geschöpf ist, wäre ja nicht werth, daß er lebte. Nun zeig' Er einmal, daß Er gut ist, Claus Weber? will Er?«

Sie hielt ihm die Hand hin. Der Mann legte seine große schwielige Hand zögernd hinein, nicht, als ob er das Versprechen ungern gegeben hätte; aber es war ihm, als ob er die schlanke, weiße Hand nicht berühren dürfe. Das Blut schoß ihm in die braunen Wangen. »Er thut alles, um was die Anne ihn bittet?« sagte Rose. »Ja!« sagte der Mann. Rose sah ihm in die Augen; sie wußte, daß er sein Wort halten werde.

Als Rose aus der Hütte trat, war der Abend schon tiefer hereingesunken, doch war es noch licht und die unermüdlichen Schwalben schossen noch zirpend die Dorfstraße hinauf und hinab und um die Giebel der niedrigen Häuser. Ein von zwei Kühen gezogener Erntewagen kam ihr entgegen; auf dem freien Platz bei der Schule standen alte Frauen und schwatzten, während die Kleinen um sie her auf dem Boden krochen und die größeren Jungen und Mädchen Haschens und Versteckens spielten. Rose sah und hörte das Alles, aber das Lachen und Schreien der Kinder klang, als kämen die Töne weit her, und hätten unterwegs all' ihre Rauhigkeit verloren, und Menschen und Dinge – Alles ging und stand wie in einem Zauberspiegel. Rose hatte öfters diese Momente, in denen der Geist wie losgelöst vom Körper scheint, und niemals häufiger als in der stillen Stunde kurz vor und kurz nach Sonnenuntergang. Sie konnte diesen Zustand nicht willkürlich hervorrufen; ja derselbe würde sofort aufgehört haben, sobald sie darüber zu reflectiren begonnen hätte. Sie wußte dies recht wohl; denn in diesem Träumen mit offenen Augen, diesem »Tagwandeln«, wie sie es nannte, lag eine eigenthümliche mystisch-offenbarende Kraft, die das junge Mädchen als etwas aus dem tiefen unerforschlichen Grunde der Natur Hervorgegangenes achtete und stille walten ließ. So sah sie denn auch jetzt das Verhältniß zu ihrem Vater in dem Lichte vollkommener Wahrheit. Sie fühlte, wie rein und tief ihre Liebe zu dem Edelherzigen, Weichmüthigen, Heftigen, Leidenschaftlichen war; wie diese Liebe selbst dadurch nicht abgeschwächt wurde, daß sie sich, gleichsam mit einem Schlage der Schwingen ihrer Seele, in Regionen erheben konnte, in die ihr zu folgen der Vater nie vermochte, daß sie in vielen Dingen und vielen Punkten nicht blos die Klügere, sondern auch die Stärkere war, die Halt gewährte, anstatt einer Stütze zu bedürfen. Aber eben so deutlich fühlte sie, daß diese Liebe ihr Herz nicht ausfüllte, oder besser, daß Welten in ihrem Herzen lagen, dunkle Welten, in denen die Liebe ihr »Werde« noch zu sprechen hatte. Und Rose wußte – in dieser stillen Abendstunde, wo sie, wie mit Geisteraugen, in das Herz der Dinge und ihr eigenes Herz schaute – daß diese schöpfungsfreudige, werdefrohe Liebe die Liebe zu einem Mann sein müßte, der stärker und klüger und edler wäre, als sie; vor dem sie sich, stolz wie sie war, beugen müßte, und ach! so gerne sich beugen würde; zu einem Manne, der alle die großen Fragen der Zeit, von denen der Vater nichts wissen wollte, oder die er mit einer einseitigen, halsstarrigen Heftigkeit nach seinen vorgefaßten Meinungen und exclusiven Standesdogmen entschied, in seinem innersten Herzen trüge und mit weitem klaren Verstande beurtheilte. Wo war dieser Mann? Dieser edle, kluge und starke Mann?

Die zirpenden Schwalben glitten durch die Luft und manches Bild vergangener Tage zog durch die Seele des jungen Mädchens.

Viele Männer hatten sich in jenen Tagen ihr genähert; Manche hatte sie vergessen, Einiger erinnerte sie sich nur noch eben so; Wenige, die ihr gefallen hatten; Keiner, der ihr ein wirklich lebhaftes Interesse einzuflößen vermocht hätte.

Hinüber und herüber zogen die Schwalben und die Gedanken.

Und wenn es nun einen solchen Mann gar nicht gäbe? Wenn Dein guter alter Vater, trotz seiner Einseitigkeit und seiner Launen, noch immer besser und edler wäre, als sie Alle? Wie gut steht ihm doch Alles, selbst ein Stolz! Wie hübsch klang das, als er heute Morgen sagte: Wenn er nicht kommt, den Mann aufzusuchen, der ihn über die Taufe gehalten, und von dem er wissen muß, daß er seines Vaters vertrautester Freund gewesen ist, – um so schlimmer für ihn; ich verliere nichts dadurch! – Er hätte kommen müssen und wäre es auch nur des Vaters wegen gewesen. Des Vaters wegen? Um wessenwillen denn sonst? Gestehe Dir's nur! Du warst eitel genug zu glauben, daß Du selbst einigen Eindruck auf ihn gemacht hattest; und sähest es selbst jetzt noch gar nicht ungern, wenn dem der Fall gewesen wäre! Warum auch nicht! Hast Du Dich doch, als Du sie in Fülle haben konntest, durch die Huldigungen von Männern geschmeichelt gefühlt, die bei weitem nicht so schön und stattlich waren, als dieser Mann. Ein Sonderling, sagte der Pastor, wäre der Graf? Sind denn alle Männer, Alle, die mehr sind, als der große Haufen, Sonderlinge? Aber woher weiß ich denn, daß der Graf mehr ist, als die Andern?

Die Schwalben wurden ungeduldig, daß sie so viel schwierige Fragen beantworteten sollten; zu einer pfeilschnellen, schrillenden Wolke vereinigt, sausten sie vorüber, und Rose erwachte aus ihrem Traum. Unter den Linden vor dem Thore des Hofes führte ein Reitknecht in grauer Pikesche und Stulpenstiefeln zwei schöne Pferde am Zügel auf und ab. Das war ein seltener Anblick vor dem Hause ihres Vaters, und Rose fühlte, wie ihr das Blut in die Wangen schoß. Der Mann nahm die Zügel in die linke Hand und zog seine Kappe, als die junge Dame vorüberschritt. Einen Augenblick stockte ihr Fuß und sie hatte die Frage: wem gehören die Pferde? auf den Lippen; aber sie sagte nichts; sie wußte auch ohne das, wer jetzt eben drinnen bei ihrem Vater war.



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