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2.

Jedenfalls trug es Fräulein Rose selbst sehr leicht, oder ihr Schritt hätte nicht so elastisch sein können, als sie an einem wundervollen Spätsommermorgen die lange Allee des Parkes hinab nach ihrem Lieblingsplätzchen schritt, um dort, wie sie es an schönen Tagen zu thun gewohnt war, ein Stündchen zu lesen, zu sinnen und zu träumen. Die Allee bestand aus sehr großen und schönen Buchen, die mit ihren mächtigen Aesten fast den ganzen breiten Weg überwölbten. Nur hier und da fiel ein Sonnenstrahl durch das dichte Laubdach auf den Boden und auf die junge Dame, die, sich der Kühle freuend, am linken gebogenen Arm das Körbchen mit ihrem Buche tragend, in der rechten Hand den breiträndrigen Strohhut hin und her bewegend, bald zu den Wipfeln der Bäume hinauf-, bald die lange Vista, die zuletzt in die sonnige Landschaft wies, hinabblickend, ein gar anmuthiges Bild für Den abgegeben haben würde, der sie so, raschen Schrittes, in hellem Gewande zwischen den mächtigen dunkeln Stämmen hätte dahinschweben sehen. Aber es sah sie Niemand, und die junge Dame dachte auch an nichts weniger, als daran, gesehen und beobachtet zu werden. Seit den zwei Jahren, daß sie jetzt oft Tag für Tag den Park durchstreift hatte, war sie außer dem alten Diener Wenzel, der manchmal mit der Flinte »revierte« (weil er die lange Liste seiner Funktionen ohne das Amt eines Försters und Holzwarts nicht für vollständig erachtete) und dann und wann ein paar Leuten aus dem Dorf, die das für den Winter nöthige Brennholz schlugen, noch Niemandem begegnet, so daß sie sich hier unter den grünen Bäumen und dem blauen Himmel so allein und einsam wußte, wie innerhalb der Wände ihres Zimmers, dessen Fenster über die Dächer der Wirthschaftsgebäude weg in den geliebten Park blickten. Und es konnte auch nicht leicht ein Revier geben, das die Einsamkeit so begünstigt, so gleichsam verlockend gemacht hätte. Seit einer langen Reihe von Jahren war schlechterdings nichts für seine Cultur geschehen, und so hatte er allmälig den primitiven Charakter einer jungfräulichen Waldesnatur wieder angenommen. Ein eigentlicher Zierpark mit Statüen aus Sandstein, chinesischen Tempeln, Tuffsteingrotten, Mooshütten und ähnlichen Erfindungen, in denen die Phantasie unserer Vorfahren schwelgte, war hier nie gewesen; aber jetzt waren selbst die ehemaligen weiten Rasenplätze mit Heidekräutern aller Art und langhalmigem Gras, das ungehindert in Samen schoß, dicht übersponnen; Gras und Huflattig wucherte in den Wegen, von denen eigentlich nur noch die breiten Fahr- und Reitwege ohne Hinderniß zu passieren waren, während die schmaleren sich mühselig durch die von rechts und links hinüber und herüber drängenden Büsche hindurchwanden. Da die verrostete Flinte, welche der alte Diener Wenzel bei seinen Inspectionsgängen durch den Park auf der Schulter trug, sehr selten abgefeuert wurde, und, wenn dies geschah, immer nur einen ausnehmend schwachen, schwindsüchtigen Knall verursachte, so hielten allerlei Geschlechter der Thiere das Revier nicht ohne Grund für eine sichere Zufluchtsstätte in den Gefahren dieser Welt. Besonders mußten sich die Singvögel in den dichten Büschen, die oft zu einem undurchdringlichen Gestrüpp verwachsen waren, behaglich fühlen, denn im Frühling und in der ersten Hälfte des Sommers war es ein Jubilieren und Flöten und Locken allüberall in der grünen Wildniß; aber auch Holztauben girrten, der Kukuk rief, und in einem Theile, wo eine Anzahl uralter Eichen ihre Riesenhäupter weit über den jüngeren Nachwuchs erhoben, hatte sich eine Krähenkolonie angesiedelt, die mit jedem Jahr an Zahl der lärmenden Mitglieder wuchs. Selbst an Wild fehlte es nicht; die Hasen hüpften in so langsamem Tempo über den Weg, als wüßten sie recht gut, daß die Flinte des alten Wenzel in dreien Malen zwei Mal zu versagen pflegte; und am Abend, wenn die ersten Sterne aus dem tiefblauen Himmel funkelten und es in den Bäumen und Büschen zu raunen und zu rauchen begann, konnte man oft genug die Rehe aus dem Walde auf die Wiese treten und das feinere Kraut äsend mit zur Erde gebogenen Hälsen langsam am Rande hinziehen sehen.

»Es ist Unrecht,« sagte der alte Wenzel; »wir könnten jährlich für ein paar hundert Thaler Holz herausschlagen, wie damals, als die gnädige Frau selig, welche eine wirthschaftliche Frau war, noch lebten, und könnten jetzt, wo die Jagd wieder auf ist, jede Woche zwei Mal einen Braten auf dem Tische haben, aber der gnädige Herr will ja nicht; wenn das gnädige Fräulein dem gnädigen Herrn einmal –«

Aber das gnädige Fräulein wollte von dieser Ausnutzung ihres geliebten Parkes eben so wenig etwas wissen, wie der Vater, wenn auch vielleicht aus einem anderen Grunde. Es würde nicht sowohl ihren Stolz, als ihren poetischen Sinn verletzt haben, wenn man die alten Eichen und Buchen, über deren Wipfel sie so oft voller Entzücken die weißen Sommerwolken hatte hinsegeln sehen, umgehauen und zur Erde gebracht hätte. Daß hier Alles so blieb, wie es nun einmal war, und keine andere Hand, als die linde allmächtige Hand der Natur ihr Waldheiligthum berührte – diese Gewißheit gehörte zu den Requisiten der poetischen Welt, in welcher sich die junge Dame um so lieber und um so freier bewegte, je weniger sie – wenigstens in den letzten Jahren – von der wirklichen Welt zu sehen und zu hören bekam.

Nicht als ob sie ein großes Verlangen nach der wirklichen Welt gehabt hätte, in welcher ihr geliebter alter Vater zum Einsiedler und fast zum Menschenfeind geworden war! Sie haßte auch freilich diese Welt nicht, denn dazu war sie zu jung und ihr Geist zu stark, aber sie konnte doch mit ziemlicher Ruhe an all' den Glanz und die Herrlichkeit denken, die sie vor zwei Jahren verlassen hatte, um ihrem Vater in die Einsamkeit zu folgen; ja, sie mußte manchmal lächeln, wenn sie sich im Geiste wieder als Hofdame der regierenden Frau Herzogin sah, von der hohen Dame mit fast schwesterlicher Liebe umfangen, von dem regierenden Herrn mit chevaleresker Aufmerksamkeit ausgezeichnet, auf den Hoffesten gefeiert von Jung und Alt, umworben, umschmeichelt, umlispelt von den Vielen, die sich der Gunst der anerkannten Günstlingin der hohen Herrschaften versichern wollten – wenn sie sich so sah, wie sie sich selbst im Traume oft erschien, und dann mit dieser glänzenden Traumerscheinung das Mädchen verglich, das im einfachsten, schmucklosesten Kleide von leichtem Sommerzeug, das lockige Haar über der Stirn gescheitelt, daß der Morgenwind damit spielen konnte, wie er wollte und mochte, das Körbchen mit dem Buch unter dem linken Arm, den breiträndrigen Strohhut in der rechten Hand, heiter, wenn es ihr beliebte, oder nachdenklich, wenn sie es vorzog, so frei, wie die Vögel, die über ihr zirpend durch die Blätter schlüpften, den oft und oft betretenen Weg die Allee hinab nach ihrem Lieblingsplätzchen schritt.

Heute trällerte und summte sie fortwährend Bruchstücke aus einigen ihrer Lieblingsarien, und wer sie genauer kannte, mußte wissen, daß dies nur in Augenblicken ganz besonders guter Laune geschah. Sie hatte auch alle Ursache zum Vergnügtsein. Zuerst war der Vater so frisch und wohlaussehend, und auch so theilnehmend und heiter, wie seit langer Zeit nicht, beim Frühstück erschienen; sodann war während des Frühstücks ein eigenhändiger Brief der Herzogin an den Vater gekommen, in welchem sie »ihren ehrwürdigen Freund« bat: »wenigstens ihrer geliebten Rose zu erlauben, einige Wochen bei ihr (der Herzogin) zu verleben, da sie die Hoffnung, ihn (Rose's Vater) bei Hofe zu sehen, wohl nun ein für allemal aufgeben müsse.« Drittens war ihr die ablehnende Antwort, welche sie dem Kammerhusaren wieder mitgegeben hatte, so gut gelungen, so recht zierlich und geschickt, daß die Fürstin sich nicht wohl beleidigt fühlen konnte; und viertens war die Luft so balsamisch und der geliebte Park lag so still im Morgensonnenschein, und durch die Wipfel blauete der Himmel so hoch und hell – Rose fand, daß die Welt recht, recht schön sei, und wußte im Voraus, daß heute ihr Lesestündchen auf ihrem Lieblingsplatz noch ganz besonders genußreich sein werde.

Rose's Lieblingsplatz war eine Stelle, nicht weit vom Ausgang der Allee, wo sich der Wald rechts und links hufeisenförmig auseinanderbog, um zwischen sich eine sanft abfallende Wiese zu lassen, die allmälig in das offene ebene Feld hinüberführte. Da, wo Wiese und Feld aneinanderstießen, war auf dieser Seite die Grenze des Parks, die ehemals ein Zaun aus Tannenlatten und ein Graben deutlicher bezeichnet hatten, als jetzt, wo der Zaun zerfallen, oder von den alten Weibern und den Kindern des Dorfes geplündert, und der fast gänzlich ausgetrocknete Graben von einer üppigen Vegetation überwuchert war. Jenseits der fruchtbaren reichbebauten Ebene zog sich ein Hügelrücken hin, eine unterste Stufe des Waldgebirges, das hinter ihm in unregelmäßigen Terrassen weiter aufstieg und zuletzt mit blauen wallenden Berglinien den Horizont abschloß. Am Fuße des Hügelrückens, oder vielleicht schon etwas am Hügel hinauf – man hätte es sonst nicht so deutlich sehen können – lag ein weißschimmerndes Schloß, das sich stolz aus dem Grün der Bäume heraushob, in welchem das Dorf, das zum Schloß gehörte, fast gänzlich begraben war. Andre Dörfer, aber alle in größerer Entfernung, lagen noch hier und da in der Ebene zerstreut, die ihre größte Ausdehnung nach rechts hatte, wo die äußersten Spitzen der Thürme der kleinen Residenz noch eben aus dem dorthinaus tiefer sich senkenden Thal hervorschauten.

Das Alles konnte man von dem Rande des Parks unter den breitästigen Ahornbäumen vollkommen überblicken und deshalb war hier von Rose mit Hülfe des alten Wenzel eine Moosbank construiert, und vor der Bank ein Tisch mit einer kleinen runden Steinplatte, den Wenzel irgendwo im Park entdeckt hatte, aufgerichtet. Rose liebte die Natur und hatte den empfänglichsten Sinn für landschaftliche Schönheiten, obgleich sie ein wenig kurzsichtig war und sich der Lorgnette bedienen mußte, wenn sie Gegenstände in größerer Entfernung deutlich erkennen wollte. So fand sie denn auch heute Morgen, nachdem sie Hut und Buch auf den Tisch gelegt, die linke Hand auf die Platte stützend, und schaute mit Entzücken in die Gegend, die ihr kaum je so lieblich erschienen war, wie heut, und die auch wirklich heut wie im Festesschmucke prangte; so hell lag der Sonnenschein über den Feldern, auf denen man hier und da Leute mit der Erndte beschäftigt sah; so smaragden schimmerte es von den Wiesen; so duftig blauten die Berge herüber, so leuchtete der Himmel und glänzte die durchsichtige mild-warme Luft, in der weiße Sommerfäden, von einem Hauch, den man nicht spürte, getragen, hin und herschwebten.

Rose sah lange nach den Thurmspitzen der Residenz. Ihre Gedanken eilten dem Briefe voraus, der eben in der Säbeltasche des Leibhusaren dorthin unterwegs war. Sie sah die Fürstin den Brief öffnen, lesen und mit dem anmuthig-sentimentalen Kopfschütteln, das ihr eigenthümlich war, wieder zusammenfalten. Es war Rose, als ob, was sie geschrieben, und was ihr eben noch so zierlich erschienen war, doch wohl nicht die rechte Antwort auf einen so gütigen, ja zärtlichen Brief sei. – Das »von dem Glück der Entfernung« war wohl ganz geistreich, und sie, die ihren Göthe so kennt, wird die Anspielung ja auch wohl verstehen, aber ich hätte doch wohl einen herzlicheren Ausdruck finden können. Und sie hatte sich so auf mein Kommen gefreut – »und wären es auch nur wenige Tage, lieb' Röschen« – aber weßhalb mich wieder in die Welt mischen, der ich entsagt habe?

Das junge Mädchen mußte lachen, als sie diese Worte vor sich hinmurmelte. Es durchzuckte sie plötzlich das Bewußtsein ihrer Jugend, ihrer Kraft, vielleicht auch ein wenig die Ueberzeugung, nicht ohne alle Reize zu sein; zu diesem Vollgefühl des eigenen Werthes wollte denn doch die nonnenhafte Weltentsagungsfreudigkeit nicht so recht passen. Auch sah sie in diesem Augenblick die Gesichter gewisser junger Hofcavaliere, die sich früher in Huldigungen gegen die Lieblingin der Fürstin gegenseitig überboten hatten; und diese Gesichter lächelten so sceptisch, daß sie selber mitlachen mußte. Aber sie wurde eben so schnell wieder ernst, ja ernster, als zuvor. Es fiel ihr, sie wußte selbst nicht warum, mit einem Male die Wöchnerin ein, des armen Klaus Webers junges Weib, wie sie sie gestern auf dem Strohlager in der ärmlichen Hütte gesehen hatte, kaum bedeckt mit einem geflickten wollenen Rock, das Neugeborne an der nicht eben vollen Brust. Wie hatte die Anne das Kind angeschaut, mit einem Blick so voll der innigsten Liebe, so voll des seligsten Entzückens! wie deutlich hatte dieser Blick gesagt: trinke, Kind, mein Kind, es ist mein Blut; aber Du sollst es haben, Alles haben, bis auf den letzten Tropfen!

Rose's große blaue Augen nahmen jene eigenthümliche Starrheit an, die einem Thränenerguß vorherzugehen pflegt; ihr Athem wurde schneller und schwerer, und in unruhigen Wogen hob und senkte sich der schöne Busen. Mit beiden Armen griff sie plötzlich in die Luft, und bewegte sie langsam gegen ihr Herz, als ob sie ein geliebtes Lebendiges da weich betten wollte; und aus dem duftigen Haidekraut zu ihren Füßen klang es in ihrem Ohr wie elfenfeines Kinderlachen.

Die Vision zog vorüber wie ein Sommerfädchen; aber Rose lachte nicht wie vorhin; sie ließ die Arme sinken, strich sich dann über Stirn und Augen, seufzte, und setzte sich auf die Bank, das Buch, welches sie bei sich hatte, mit einer gewissen Lebhaftigkeit, als wolle sie sich so schnell als möglich auf andere Gedanken bringen, aufschlagend. Aber sie fing nicht gleich an zu lesen, sondern schaute wieder in die Ferne mit starren Blicken, die sich endlich auf das weißschimmernde Schloß hefteten, vermuthlich, weil dasselbe ihrem unbewaffneten Auge sich als das am leichtesten erkennbare Objekt darbot. Sonst hatte dasselbe kein weiteres Interesse für sie. Es stand schon seit einer Reihe von Jahren, ja, so lange Rose zurück denken konnte, unbewohnt. Der alte Graf von Lengsfeld war kurze Zeit, nachdem ihm seine Gemahlin einen Sohn und Erben geboren, gestorben. Die Wittwe, die ihren Gemahl schwärmerisch geliebt hatte, war mit ihrem Knaben in die Einsamkeit eines ihrer preußischen Güter geflüchtet, und dort schon nach wenigen Jahren aus einem Leben geschieden, dessen Blüthe für sie auf immer dahin war. Der junge Graf blieb in Preußen bei einem Onkel und Vormund, aus dessen Familie er in eine Cadettenanstalt trat, die ihn, nachdem er das nöthige Alter erlangt hatte, als Officier entließ. Indessen mußte er sich in der Rolle eines Vertheidigers seines neuen Vaterlandes wohl nicht besonders gefallen haben, denn schon zwei Jahre später, gleich nach dem unrühmlichen Feldzuge in Schleswig-Holstein Preußen unternahm während der Schleswig-Holsteinischen Erhebung (1848-51) im Namen des Deutschen Bundes 1848/49 eine militärische Intervention gegen Dänemark, die jedoch erfolglos blieb. – Anm.d.Hrsg. quittierte er den Dienst und begab sich auf Reisen, von denen er jetzt nach Verlauf von zehn Jahren noch nicht zurückgekehrt war. Rose wußte dies Alles zum Theil von ihrem Vater, zum Theil aus gewissen Unterhaltungen bei Hofe, wo man es unverzeihlich fand, daß der Abkömmling einer der ältesten und reichsten Familien des kleinen Staates in Palmyra und Abu Simbel seine Zeit vergeude, die er in der Nähe seines durchlauchtigsten Souverains so viel behaglicher und passender zubringen könne, ja zuzubringen gewissermaßen moralisch verpflichtet sei. Aber die allergnädigsten Klagen, wenn sie ihm anders je zu Ohren kamen, mußten keinen Eindruck auf den Abenteurer machen. Noch stand Schloß Lengsfeld leer, und Rose dachte in diesem Augenblick daran. Mußte es doch auch da drüben einsam sein in den glänzenden Sälen und Bildergalerien, die sie nur einmal als Kind in Gesellschaft ihrer Mutter und einiger anderer Damen gesehen zu haben sich erinnerte. Das Schloß Lengsfeld rief denn nun der jungen Dame das Schloß des Grafen in Wilhelm Meister zurück, in das sie gestern Abend mit dem Helden und seiner wunderlichen Gesellschaft eingezogen war. So nahm sie das Lesezeichen aus dem Buche, stützte den Kopf in die Hand und es dauerte nicht lange, bis die Zauberkraft der Göthe'schen Kunst sie ganz gefesselt und aus der Wirklichkeit in das Reich der Poesie versetzt hatte.

Den Kopf tief auf das Buch geneigt, wie es ihre Gewohnheit war, mochte sie wohl eine Stunde ohne Unterbrechung gelesen haben, als sie plötzlich durch einen Schuß, der in großer Nähe abgefeuert sein mußte, eben nicht angenehm von ihrer Lektüre aufgeschreckt wurde. Ein Hase, dem der Schuß gegolten hatte, kam in vollster Flucht die Hügelböschung herauf gerade auf die junge Dame zu, sprang dann, als er sie erblickte, in scharfem Winkel ab und in die Büsche hinein, eben als ein langohriger brauner Hühnerhund aus der Hecke hervorbrach, die Nase auf der Fährte des Wildes denselben Weg heraufjagte, genau an dem Punkte, wo der Hase die Wendung gemacht, ebenfalls umbog und an derselben Stelle, wo der arme Lampe sich in den Wald zu retten gesucht hatte, ebenfalls verschwand. In demselben Moment ertönte auch ein gellender Pfiff und eine kräftige Männerstimme rief: Boncoeur ici, ici Boncoeur!

Der Hund mit den langen Ohren und die kräftige Stimme gehörten keinesfalls dem alten Wenzel, sondern wohl ohne Zweifel dem Jäger in grauer Joppe, grauen Kamaschen und grauem Filzhütchen, der, die Flinte emporhaltend, mit einem Satze über den Graben sprang, durch die gerade hier sehr schadhafte Hecke brach, und nachdem er noch einmal vergeblich: » Boncoeur ici!« gerufen hatte, sein Gewehr auf die Erde setzte und wieder zu laden begann.

Dies Alles ging so schnell vor sich, daß Rose, die wirklich ein wenig erschrocken war, noch immer auf ihrer Bank saß und voller Verwunderung auf den Eindringling starrte, der jetzt, die Flinte unter den rechten Arm nehmend, erst ein paar Schritte in der von ihr entgegengesetzten Richtung that, sich dann plötzlich umwandte, und nun erst einerseits gewahr wurde, daß er nicht allein auf dem Platze war. Er stutzte, warf einen schnellen Blick auf das junge Mädchen, nahm die Flinte über die Schulter und kam dann, immer die Augen fest auf sie gerichtet, den Hügel herauf. Rose hatte sich jetzt erhoben und stand, die schlanke Gestalt zur vollen Höhe aufgerichtet, ruhig da, die stolze Tochter eines stolzen Edelmannes, bereit, die Entschuldigung dessen entgegenzunehmen, der es gewagt hatte, das Fräulein von Weißenbach auf ihres Vaters Grund und Boden auf so brüske Weise zu belästigen. Dem Jäger imponierte die stattliche Erscheinung der jungen Dame sichtlich. Sein anfänglich rascher Schritt wurde langsamer und auf seinem männlich schönen Gesicht lag eine mit Staunen gemischte Verlegenheit, als er noch immer in einiger Entfernung stehen blieb, den grauen Filzhut abnahm und sich mit einer weltmännischen Feinheit, die das schlichte Jagdhabit vielleicht noch mehr hervortreten ließ, verbeugte.

»Ich bitte um Verzeihung,« sagte er mit einer tiefen und wohllautenden Stimme, »wenn ich, ohne es zu wollen, Ihre friedliche Muße so rauh unterbrochen habe. Ich bin erst seit einigen Tagen in dieser Gegend. Mein Verwalter hat mich, glaube ich, über die Grenzen meiner Jagd nicht wohl instruiert, oder ich habe mich auch von meinem Eifer zu weit führen lassen; mein Name ist Graf Lengsfeld.«

Der Graf verbeugte sich noch einmal und diesmal noch tiefer als das erste Mal; auch war seine Verwirrung keineswegs geringer geworden.

Diese Verwirrung mußte etwas Ansteckendes haben. Fräulein von Weißenbach hatte, seitdem der schöne, stattliche Mann vor ihr stand, ziemlich viel von ihrer königlichen Haltung verloren; auf ihren Wangen brannte ein Roth, über das sie sich innerlich ärgerte, weil sie es höchst unpassend fand, und ihre Augen, die vorher so streng und herausfordernd geblickt hatten, suchten den Boden.

»O bitte,« sagte sie mit ungewisser Stimme, »wie konnten Sie wissen – mein Vater wird es gewiß sehr gern sehen –«

Sie unterbrach sich, weil ihr in diesem Augenblick einfiel, daß ihr Vater es im Gegentheil sehr ungern sehen würde, wenn irgend Jemand den Park von Weißenbach als zu seinem Jagdrevier gehörend betrachtete.

Sie blickte empor und es war ihr, als ob in den ausdrucksvollen Augen des Grafen ein Lächeln, vermuthlich über ihre Schüchternheit und Unbeholfenheit, lauerte. Dies gab der jungen stolzen Dame im Nu die verlorne Haltung zurück.

»Ich will Sie nicht länger von der weiteren Verfolgung ihres Vergnügens abhalten,« sagte sie, Hut und Buch ergreifend.

Sie verneigte sich leicht und ging an dem Grafen, der immer noch mit dem Hut in der Hand dastand, vorüber, an dem Rande des Parkes hin und bog dann in die Allee, durch die sie vorhin gekommen war.

Der Graf schaute ihr nach, so lange er ihr rosa Kleid zwischen den Stämmen der Bäume schimmern sah, und stand noch ebenso, als sie bereits längst verschwunden war. Boncoeur, der die Spur des Hasen im dichten Unterholz verloren hatte, kam mit verstörtem Gesicht aus den Büschen gesprungen und näherte sich im Bewußtsein verletzter Pflicht und offenbaren Ungehorsams reumüthig wedelnd seinem Herrn. Aber die verwirkte Strafe kam nicht; ja Boncoeur mußte zuletzt seine Schnauze in die herabhängende Hand des Herrn stecken, um seine Rückkehr bemerklich zu machen. Selbst dann gab es weder Schläge noch Schelte; der Herr nahm die Flinte von der Schulter, setzte die Hähne in Ruh, hing sie wieder über die Schulter, schritt den Hügel hinab und sprang über den Graben. Boncoeur folgte ihm auf dem Fuße. Mit der Jagd war es offenbar vorbei, nachdem man eben erst ein wenig warm geworden war. Boncoeur wußte nicht, was das zu bedeuten hatte.



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