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20.

Als Rose in das Haus trat, war es fast dunkel. In der Wohnstube brannte kein Licht; der Vater mußte also noch auf seiner Stube sein. Rose's Herz schlug bei dem Gedanken, gerade jetzt vor ihren Vater hinzutreten.

Auf ihrem Zimmer fand sie die Frau Wenzel an der Wiege des Kindes sitzend.

»Hat das ein Schläfchen gemacht, das Engelchen,« sagte die gutmüthige Alte, »jetzt hat es das Fläschchen gehabt und da schläft es schon wieder. – Und nebenan ist auch schon Alles in Ordnung, Fräulein Röschen.«

»Was meinst Du?« fragte Rose erstaunt.

»Nun, Sie wollen doch das Kindchen nicht für sich allein haben, Fräulein Röschen! Ei, das fehlte noch! Ich habe mir nebenan eines von den Betten zurecht gemacht; es hat ja lange genug kein Menschenkind d'rin geschlafen. Mein Alter wird mich nicht vermissen; und wenn auch: mein Fräulein Röschen soll sich nicht allein mit dem Kindchen quälen. Jugend braucht Schlaf; ich wache so die halbe Nacht. Mir ist's ein Leichtes, was meinem Fräulein Röschen doch schwer werden sollte. Wollen warten, Röschen, bis an uns selbst die Reihe kommt; gelt? Hab' auch schon ein Feuerchen im Oefchen angemacht. Wenn es ordentlich durchgewärmt ist, wollen wir das Bettchen hinübertragen.«

Rose sträubte sich nicht eben sehr gegen Frau Wenzel's Anordnungen. Sie hatte von vornherein auf den gelegentlichen Beistand der guten Alten gerechnet, die, wie sie wußte, eine gar erfahrene und geschickte Kinderwärterin war. Daß sie das Kind nicht einmal bei sich behalten sollte, wollte ihr allerdings nicht recht gefallen; sie hatte sich gerade das besonders schön gedacht; aber die kluge Frau Wenzel lächelte und meinte: sie würde auch von nebenan noch genug von dem Engelchen zu hören bekommen.

»Aber Röschen,« sagte Frau Wenzel, »was ist denn nur das mit dem Väterchen? Er war vorhin hier und fragte nach Ihnen und sagte: er wolle morgen verreisen. Ich weiß ja kein Wörtchen davon.«

Rose erschrak. Der Vater verreisen? allein? und morgen? was hatte das zu bedeuten? Er hatte heute Mittag nichts davon gesagt. Wie sehr hatte sie sein Vertrauen verloren! – Das war ihr erster schmerzlicher Gedanke.

Sie verbarg der alten Frau, so gut es gehen wollte, ihre große Bestürzung und verließ das Zimmer. In dem langen schmalen Corridor begegnete ihr Wenzel mit einem Koffer auf der Schulter. Rose schämte sich zu fragen: wohin damit, Wenzel? Sollte sie von dem Diener erfahren, was der Vater vorhatte?

Ihr Herz pochte, als sie vor der Thür stand. Alles war still. Eine namenlose Angst ergriff sie; sie pochte leise; aber sie wartete das Herein nicht ab und öffnete.

Vor dem Kamin, in welchem ein helles Feuer brannte, die Hände auf dem Rücken, stand der Vater, offenbar in tiefes Sinnen verloren, denn er hörte Roses Eintreten nicht. Die Flamme – es waren, wie Rose jetzt sah, Papiere, die brannten – beleuchtete hell sein Gesicht und seine Gestalt. Das scharfe, ernste Profil sah noch schärfer und ernster aus in dieser Beleuchtung und die lange hagere Gestalt erschien noch länger und hagerer. Nie hatte der Vater einen so großen imponierenden Eindruck auf sie gemacht; selbst in diesem Moment empfand sie den Stolz, mit dem sie von jeher auf ihn geblickt hatte. Aber dann überwältigte sie der Schmerz, aus dem Herzen eines solchen Vaters verbannt zu sein.

»Vater, lieber Vater!«

Herr von Weißenbach wandte sich rasch um.

»Ah, Du bist es, Rose,« sagte er; »es ist schön, daß Du kommst. Ich habe Wichtiges mit Dir zu besprechen. Willst Du Platz nehmen?«

Er schob einen der beiden großen Lehnsessel, die vor dem Kamin standen, näher an das Feuer und lud Rosen mit jener Anmuth der Bewegung, die ihn nie verließ, ein, sich zu setzen. Er selbst rückte sich den zweiten Fauteuil heran.

Die Papiere waren verbrannt; die leichte Asche hob sich und sank auf den glimmenden Scheiten. Die drei Kerzen auf dem Armleuchter, der auf einem Tische weiter nach dem Fenster zu stand, verbreiteten nur ein spärliches Licht in dem großen Gemach, in welchem heute nichts von der fast peinlichen Ordnung, die sonst darin herrschte, zu sehen war. Es lagen eine Menge Sachen hier und da zerstreut: Bücher, Papiere, Reiseutensilien, Kleidungsstücke, unter denen Rose die Ritterschaftsuniform bemerkte, welche der Vater nur einmal angelegt hatte, vor drei Jahren, als er die Tochter bei Hofe präsentierte.

»Ich höre, Rose,« fing Herr von Weißenbach an, »daß Du Deine kleine Pathe zu Dir genommen hat. Darf ich Dich fragen, ob Du damit nur einer augenblicklichen Noth, wie sie ja in dergleichen Fällen wohl eintritt, abhelfen wolltest, oder ob Du mit dem Kinde weiter aussehende Pläne hast?«

»Ich habe darüber noch nicht nachgedacht, Vater,« sagte Rose, »das Kind konnte nicht bleiben, wo es war, und ich weiß auch Niemand, dem ich es anvertrauen möchte. Es ist hülflos ohne mich; ich meine ohne uns, denn ich bin überzeugt, daß Du in diesem Punkte nicht anders empfindet, wie ich.«

»Du weißt, daß ich Deinen Wünschen, wenn es mir möglich gewesen ist, noch immer nachgekommen bin;« erwiderte Herr von Weißenbach, »aber ich möchte Dich denn doch auf die große Verantwortung aufmerksam machen, die Du übernimmt. Fern sei es von mir, Dein mitleidiges Herz zu schelten! Auch gebe ich zu, daß Du gegen dieses Kind noch ganz besondere Verpflichtungen hat. Nur bereite Dich bei Zeiten darauf vor, Deine Güte mit Undank belohnt zu sehen. Wir haben schlimme Erfahrungen in dieser Beziehung gemacht; der Mensch, der – Du weißt, wen ich meine – hat auch Jahre und Jahre lang das Gnadenbrot unseres Hauses gegessen. Ich glaube nicht, daß er sich neulich Abends dessen noch erinnerte.«

Rose schauderte; sie dachte an die wüsten Augen, die sie heute Nachmittag in der Dorfstraße so drohend angestiert hatten.

»Indessen,« fuhr Herr von Weißenbach fort, »die Anne war ein sanftes, freundliches Geschöpf, und so magst Du Dir ja denn auch vielleicht in ihrem Kinde eine treue Dienerin erziehen. Jedenfalls wirst Du in der Pflege des Kindes – ich nehme als selbstverständlich an, daß Du nur, so zu sagen, die Oberaufsicht darüber führt – eine Beschäftigung haben, wenn Du es vorzieht, hier zu bleiben.«

»Ich sehe, daß Du verreisen willst, Vater,« sagte Rose mit einer vor Trauer und banger Sorge zitternden Stimme.

»Das ist es hauptsächlich, worüber ich mit Dir sprechen wollte,« sagte Herr von Weißenbach, den Schürer ergreifend und in den glimmenden Kohlen rührend; »meine Reise könnte möglicherweise ein wenig lange dauern; und da ist es denn doch nothwendig, daß ich Dich über Alles unterrichte.«

»Um Gotteswillen, Vater,« rief Rose, die ihre Angst nicht mehr beherrschen konnte, »was ist es? hast Du eine Vorladung bekommen? Sollten sie wirklich wagen –«

»Einen alten Mann in das Gefängniß zu werfen? Ich fürchte, daß dies in allernächster Zeit geschehen möchte; und da ich nicht Lust habe, mich in dem Hause meiner Väter von den Häschern abholen zu lassen, so ziehe ich vor, mich freiwillig zu stellen. Mögen sie dann mit mir machen, was sie wollen.«

»Aber Vater,« rief Rose, »es spricht ja nichts dafür, daß man gerade jetzt noch weiter in der Sache gehen wird. Im Gegentheil, man wird sich wohl hüten, die so schon herrschende Aufregung noch zu vermehren; das Ministerium hat alle Mühe, sich nur überhaupt an einer Stelle zu halten; es wird die Angriffe der Opposition, denen es so schon nicht gewachsen ist, nicht noch mehr herausfordern wollen.«

Herr von Weißenbach lächelte; es war ein bitteres Lächeln.

»Wir haben uns ja in letzterer Zeit zu einer großen Politikerin ausgebildet,« sagte er.

»Warum soll ich es leugnen, Vater,« erwiderte Rose, »ich habe mich bemüht, diese Sachen zu verstehen, seitdem ich sah, von wie großem Einfluß sie auf den Gang des Processes waren. Daß seit dem Zusammentritt des Landtags eine Veränderung eingetreten ist, liegt auf der Hand. Man ist seitdem eben so langsam vorgeschritten, als man vorher Alles überstürzte. Damals wollte man Furcht erwecken, jetzt fürchtet man sich.«

»Ich dächte, ich hätte Aehnliches schon in den demokratischen Zeitungen gelesen,« sagte Herr von Weißenbach. »Entschuldige diese Bemerkung, sie drängte sich mir unwillkürlich auf. Auch wäre es sehr thöricht, wenn ich mich über die Gesinnungen, die Du hier äußerst, irgend wundern wollte. Du bist ein viel zu kluges und energisches Mädchen, als daß Du nicht die Consequenzen Deiner Handlungsweise ziehen, oder erlauben solltest, daß Kopf und Herz sich im Streite liegen. Wenn ich nun auch persönlich wünschen muß, Dein Herz hätte eine andere Wahl getroffen und Deine Ideen hätten in Folge dessen eine andere Richtung genommen, so ist mir doch klar, daß nun, nachdem dies Alles einmal geschehen, in der Hauptsache daran nichts mehr zu ändern ist. Ich muß Dir diese Concession machen, schon deshalb, weil ich mir dieselbe Gerechtigkeit von Dir für mich erbitte. Ich könnte versuchen, Dich glauben zu machen, daß es nur die Noth ist, die mich von Dir treibt; aber da wäre ich nicht ganz offen gegen Dich und ich bin es stets gewesen. Ich gehe, ja – aber ich gehe nicht ungern; ich habe – das fühle ich nur zu tief – meinen Theil von dem Sonnenschein des Lebens gehabt; ich sehne mich, eine Scene zu verlassen, die mir zu einer sinnlosen Farce geworden ist; ich begrüße das Gefängniß als eine Vorstufe des Grabes. Sieh' mich nicht mit so starren, entsetzten Augen an, mein Kind; ich sage nicht, daß Du an meinem Unglücke schuld bist. Ich mache Niemandem einen Vorwurf, Dir am wenigsten. Du bist ein treues und gehorsames Kind gewesen, bis zu dem Augenblicke, wo Du Dich entschlossest – vielleicht entschließen mußtest, Deinen eigenen Weg zu gehen. Ich habe versucht, Dich zu halten; ich vermochte es nicht; so fahre denn hin in Frieden. Für Deine Zukunft, bis Du selbst eine andere Bestimmung triffst, ist gesorgt. Ich habe das Gut auf Deinen Namen schreiben lassen und nur so viel für mich behalten, als für meinen Unterhalt in – in dem Ort, wohin ich mich begebe, nothwendig ist. Was ich hier zurücklasse, ist Dein freies Eigenthum; das Testament, das Dich erst nach meinem Tode zur Erbin einsetzte, hat das Feuer im Kamin verzehrt, zusammen mit den Briefen, die Deine Mutter mir einst geschrieben.«

»Vater, Vater!« rief Rose, zu den Füßen des alten Mannes niederstürzend. »Bist Du mein Vater und kannst mein Herz so zerreißen! Um Gotteswillen, Vater, stoße mich so nicht von Dir! Thu's nicht, um meinet- und Deinethalben nicht! Das könnte Dir keinen Segen bringen. Wenn Du sagst, daß ich Dir ein treues, gehorsames Kind gewesen bin – ich bin noch, was ich gewesen. Ich habe keinen Augenblick aufgehört, Dich zu lieben, zu verehren; ich rechne Dir die Schmerzen nicht an, die mir Deine Kälte bereitet hat; weiß ich doch, wie sehr Du selbst unter dieser unnatürlichen Entfremdung gelitten hast. Laß uns wieder sein, was wir uns vorher waren; es steht nur bei Dir, Vater. Nimm mich an Dein Herz, wie Du es sonst thatest. Vater, Vater, laß mich wieder Dein Kind sein!«

Rose umklammerte ihres Vaters Knie unter Schluchzen und Thränen. Der alte Mann stöhnte laut, wie von furchtbaren Schmerzen gepeinigt; aber er hatte diese zitternden Locken, diesen bebenden Körper schon einmal gesehen – an jenem Abend, als der Graf von ihnen gegangen war – und er drängte die Weinende von sich.

»Wer war die dunkle Gestalt, mit Der Du vor einer halben Stunde aus dem Parke tratst, Rose?« sagte er mit dumpfer Stimme.

Rose richtete sich erschrocken auf und strich die Locken aus dem Gesicht.

»Ich habe Dich nicht beobachtet, Rose,« sagte Herr von Weißenbach, »ich war vorhin auf Deinem Zimmer, Dich zu suchen, und trat zufällig an das Fenster. Zwischen den beiden Scheunen sieht man jetzt, da die Bäume kahl werden, den Eingang in die Allee und – meine Augen, weißt Du, sind scharf.«

»Und wenn sie noch schärfer wären, Vater,« sagte Rose, sich jetzt ganz in die Höhe richtend, »sie hätten nichts gesehen, dessen ich mich zu schämen brauchte. Ich bin in den Park gegangen, weil – weil ich aufgeregt war von einer Scene – gleichviel warum; ich hatte keine Ahnung davon, daß ich den Grafen hier treffen würde, den ich in der Residenz glaubte, von dem ich, seitdem er zum letzten Male den Fuß über unsere Schwelle gesetzt, weder etwas gesehen noch gehört habe. Ich weiß nicht, was ihn hierher geführt; wir haben –«

»Genug, genug, Rose,« unterbrach sie Herr von Weißenbach, »Du brauchst Dich nicht zu entschuldigen; ich habe Dich nicht angeklagt. Ich will nicht wissen, was Ihr miteinander gesprochen habt. Beantworte mir nur die eine Frage: Liebst Du den Grafen?«

Rose's Gesicht wurde glühend roth und den nächsten Moment sehr bleich. Sie sah durch die gesenkten Wimpern, daß die scharfen Augen des Vaters auf ihr ruhten; sie hatte das dumpfe Gefühl der entscheidenden Wichtigkeit ihrer Antwort, und doch – es mußte sein.

»Ja, Vater.«

Es war ihr, als ob ein Anderer, in weiter Entfernung die Worte gesprochen hätte. Es sauste in ihren Ohren; sie fühlte sich einer Ohnmacht nahe; sie hörte nicht mehr, was der Vater sagte; sie ließ sich ohne Widerstreben von ihm nach der Thür begleiten, wo er sie entließ, ohne sie, wie sonst, auf die Stirn zu küssen.

Erst draußen auf dem schmalen Gange kam sie so weit wieder zu sich, um sich der letzten Scene in ihrer Bedeutung bewußt zu werden und nicht ohne Mühe bis in ihr Zimmer schwanken zu können. Die ungeheure seelische Aufregung dieser letzten Stunden hatte ihre Kräfte erschöpft. Sie konnte nur noch eben der treuen Alten, die über ihr verstörtes Aussehen sehr bestürzt war, sagen: »Verlaß mich nicht; ich bin sehr angegriffen; ich muß meine Sachen packen, ich reise morgen früh mit dem Vater;« dann sank sie bleich und bewußtlos auf das Sopha.



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